Читать книгу SPURENLEGER - Jörg Schmitt-Kilian - Страница 11
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ОглавлениеTom Schneider schaltet den Motor ab. Es dauert bei Lena immer länger. Für ihn kein Problem. Bei Observationen im Rauschgiftkommissariat hat er das Warten gelernt. Immer der gleiche Rhythmus. Observationsauftrag: Bewegungsbild erstellen. Um das Zielobjekt eine Glocke bilden. In den Autos warten, bis der Dealer mit meist unbekanntem Ziel losfährt. Verfolgung aufnehmen. Ankunft irgendwo. Meist in den Niederlanden. Wieder warten. Manchmal die ganze Nacht. Weiterfahrt. Nächste Anlaufstelle. Wieder warten. Hat der Dealer den Stoff schon im Auto? Fährt er noch zu einem Bunker? Haben die Verkäufer ein Erddepot angelegt? Immer wieder meldet sich der Schlaf, gegen den jeder ankämpfen muss. Manchmal vergeblich. Der Schlaf kommt oft, bevor der Dealer weiterfährt. Dann das Alarmsignal. Schriller Ton. Der dringt durch Mark und Bein wie der Alarmgong der Einsatzleitstelle. Motor starten. Zurück auf die Autobahn. Höchstgeschwindigkeit. Bleifuß. Alles aus der Kiste rausholen, was der Drei-Liter-Motor hergibt. Geschwindigkeitsrausch. Jagdfieber. Auch ohne Sirenen und Blaulicht. Da die Fahrzeuge einzeln besetzt sind, ist Angst der einzige Beifahrer. Diese Angst vor dem Sekundenschlaf. Angst, in der Leitplanke oder an einem Baum sein Leben zu beenden.
Dann die Festnahme zum richtigen Zeitpunkt. Mit einer fingierten Vollsperrung durch einen vorgetäuschten Unfall. Schwieriger wird es, wenn der Fahrzeugführer die Observation erkennt und flüchten will. Abdrängen von der Fahrbahn ist gefährlich. Für alle. Hoffentlich kein Schusswaffengebrauch. Durchsuchung des Autos. Bei Misserfolg Frust und Ärger. Im Erfolgsfall Sicherstellung einer nicht geringen Menge Drogen. Also wesentlich mehr als nur zum Eigenverbrauch, damit man den gewerbsmäßigen Handel auch beweisen kann. Wohnungsdurchsuchung. Vernehmung. Festnahme der Lieferanten und Mittäter. Weitere Hausdurchsuchungen. Absetzen der RG-Sofortmeldung. Akte zusammenstellen. Gefangenentransport in das Polizeigewahrsam. Am nächsten Morgen Vorführung beim Haftrichter. Einlieferung in die Justizvollzugsanstalt. Das bedeutet im Extremfall: über dreißig Stunden ohne Schlaf. Immer das Gleiche. Bis zur nächsten Observation. Und die lässt meist nicht lange auf sich warten.
Da blieb nicht viel Zeit für die Familie und die Erziehung seiner Tochter Sabine. Und jedes Mal, wenn der Name Sabine Laube fällt, sieht er das Gesicht seiner vermissten Tochter vor sich und dann tauchen wieder die schmerzhaften Erinnerungen auf. Er weiß immer noch nicht, wo seine Tochter sich aufhält.
Sabine Laube ist tot. Und wo bist du, Sabine Schneider? Bist du auch gestorben, oder lebst du noch?
***
Lena trocknet sich ab und cremt ihren Körper ein. Sie weiß, dass Tom die Geduld aufbringt, die den meisten Männern fehlt. Er war noch nie in ihrer Wohnung. Sie könnte ihm doch einen Kaffee anbieten. Warum lässt sie ihn immer im Auto warten? Vielleicht, weil sie mehr für ihn empfindet, als er ahnt? Sie hat Angst vor einer neuen Beziehung. Und im Kollegenkreis sollte man ohnehin keine Liaison beginnen. »Hausfick bringt Unglick!« hatte Dr. Blatt die Polizeistudenten an der FH gewarnt. Und die Zeit mit Fredy hat ihr diese Binsenweisheit auf schmerzhafte Weise bestätigt. Lena zwängt sich in ihre hautengen Jeans, zieht die rote Bluse an, steckt die linke Hand in einen Ärmel der schwarzen Lederjacke und zieht mit der rechten die Wohnungstür hinter sich zu. Dann erst will sie die Hand in den anderen Ärmel stecken. Nur eine kleine Drehbewegung. Sie genügt. Er ist wieder da. Dieser plötzlich auftretende Schwindel im Kopf. In der letzten Zeit wieder öfter. Wie damals. Aber sie ist nie ohnmächtig geworden. Warum sollte es heute geschehen? Sie muss doch arbeiten.
Ihr Herz schlägt immer schneller, pulsiert bis zum Hals. Sie sucht Halt am Treppengeländer, greift mit beiden Händen an den Holzlauf. Die Tabletten! Shit! Sie hat ihre Tabletten vergessen. Lena dreht sich um, stürzt die Treppe hoch und öffnet mit zitternder Hand die Wohnungstür. Gott sei Dank! Die Packung liegt auf der Kommode. Lena zerkaut eine halbe Tablette.
In wenigen Minuten wird sie den Schwindel besiegt haben. Die andere Hälfte steckt sie in die Hosentasche. Für alle Fälle.
***
»Wo bleibst du denn?« Tom steht kerzengerade wie ein Chauffeur neben der geöffneten Beifahrertür. Er tippt mit dem Zeigefinger auf seine Uhr. »Hast heute aber verdammt lang gebraucht!« Er wirkt ungeduldiger als sonst. Hat sie ihn wirklich länger als üblich warten lassen? Hatte er oft auf die Hupe gedrückt? Eine stumme Umarmung. Nur für einen kurzen Augenblick. Lena stellt sich vor, dass Fredys Hände sie berühren. Tom hält die Beifahrertür auf, geht um das Auto, setzt sich wieder auf den Fahrersitz und legt kommentarlos die Tageszeitung auf Lenas Oberschenkel. Die Zeilen schwimmen vor ihren Augen.
Polizistin in Streifenwagen erschossen
Im rheinland-pfälzischen Koblenz wurde gestern Abend die 24-jährige Polizeikommissarin Sabine L. auf dem Parkplatz am Deutschen Eck in einem Streifenwagen erschossen. Ihr Kollege Bernd M. (32) liegt nach einem Kopfschuss im Koma. Es besteht Lebensgefahr. Weitere Einzelheiten wollte Polizeisprecher Schomfas mit Hinweis auf die kriminaltaktischen Maßnahmen nicht bekanntgeben. Der Tathergang liege völlig im Dunkeln.
»Ob die Polizeibeamten jemanden kontrollierten oder ihnen etwas verdächtig vorkam – darüber kann bisher nur spekuliert werden«, teilte der Pressesprecher mit. Beim Polizeipräsidium wurde eine Sonderkommission eingerichtet. Innenminister Peter Schurp sprach den Angehörigen sein Mitgefühl aus. Er hoffe auf baldige Genesung des verletzten Beamten. Die Polizei werde alles tun, um die Hintergründe schnell und umfassend aufzuklären.
Hinweise nimmt die Sonderkommission »Deutsches Eck« oder jede andere Polizeidienststelle entgegen.
Lena krallt sich mit beiden Armen fester in den Sitz, presst ihre Stirn gegen die beschlagene Scheibe der Beifahrertür und spürt den leichten Tränenfluss auf ihren Wangen. Tom massiert leicht Lenas Schulter.
Eine Minute? Zwei Minuten? Oder noch länger? »Und? Geht’s wieder? Können wir losfahren?« Lena wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Sie nickt. Tom startet den Motor und fährt los. »Hinz hat heute Morgen höchstpersönlich den Teams die Aufträge zugeteilt. Harald war ziemlich sauer. Wir zwei Hübschen werden die beiden Junkies vernehmen, die von Sabine und Bernd kurz zuvor kontrolliert wurden. Dann sollst du mit Sabines Mutter reden, und danach fahren wir zur Obduktion.« »Und was machen die anderen?« Ein schwaches Lächeln huscht über Lenas Gesicht. »Ach, Mädchen! Denk nicht zu viel nach. Lass uns einfach an die Arbeit gehen!« Tom legt seine rechte Hand sanft auf ihr linkes Knie, und es ist ihr nicht unangenehm. »’tschuldigung!«, flüstert er und zieht die Hand zurück. »Für solche Körperkontakte muss man sich nicht entschuldigen, und du erst recht nicht, Partner!« Tom grinst verlegen vor sich hin und erinnert sich daran, wie er von seiner Lieblingslehrerin Frau Koltes beim Spicken erwischt wurde. Er hatte sich in die Englischlehrerin verliebt. Ob Lena Gedanken lesen kann? Hoffentlich nicht.
»Die beiden Junkies warten im Kontaktladen der Drobs auf uns. Wollten nicht ins Präsidium kommen. Kann ich sogar verstehen. Mit den beiden sind wir vermutlich schnell fertig. Und danach fahren wir zu Sabines Mutter. Das wird nicht so einfach werden, Lena. Sie war gestern Abend noch nicht vernehmungsfähig, als Manuela Mandel und Pfarrer Etzkorn ihr die Todesnachricht überbracht haben.«
Lena nickt stumm. Tom findet einen Parkplatz direkt vor dem Gebäude der Drogenberatungsstelle, wo soeben der berühmte Musiker Jonny Gleich mit seinem Jaguar aus der Parklücke fährt. Der Frontman der Band »Lemon bells« wohnt in dem Penthouse direkt um die Ecke. Ein Promi zum Anfassen, der gerne in seiner Heimatstadt wohnt und sich hier auch bewegen kann ohne ständig von Autogrammjägern belästigt zu werden. Nachdem die Vernehmung der beiden Drogenabhängigen keine neuen Erkenntnisse erbrachte fahren Tom und Lena zu Sabines Mutter.