Читать книгу SPURENLEGER - Jörg Schmitt-Kilian - Страница 8

2.

Оглавление

»RHEIN 11/5 für RHEIN kommen!« »11/5 hört!«, meldet sich Andrea Bühler. »Standort?« »Rheinstraße.« »Fahren Sie umgehend Parkplatz Danziger Freiheit. Anrufer will in einem Streifenwagen zwei leblose Personen entdeckt haben. Weitere Fahrzeuge von Ihrer Dienststelle sind unterwegs. Achten Sie auf Eigensicherung!« Für zwei Minuten breitet sich eine unheimliche Stille im Funkkanal aus. Es ist fast so, als sei die Zeit stehen geblieben. Drei weitere Streifenwagenbesatzungen der Polizeiinspektion 1 rennen zu ihren Dienstfahrzeugen und rasen zum Tatort. Kurz bevor alle den Einsatzort erreichen, hallt der verzweifelte Schrei von Polizeikommissarin Andrea Bühler durch den Funkkanal: »Wir brauchen dringend NAW! Bernd lebt noch!« Dann bricht sie weinend zusammen. Ihr Kollege teilt der Leitstelle die wesentlichen Fakten mit, und der Einsatzsachbearbeiter erteilt den Auftrag: »RHEIN 11/5 übernehmen Sie als Führungsfahrzeug bis auf Weiteres alle Maßnahmen vor Ort.« Kurze Zeit später ertönt in allen Streifenwagen der Region Koblenz bis hin zu den angrenzenden Dienststellen in Eifel, Westerwald, Hunsrück und Taunus der schrille Alarmgong für dringende Einsätze bei konkreter Gefahr für Leib oder Leben von Menschen. Nach dem letzten Gong rauscht Werners erregte Stimme durch den Funkkanal:

»Hier RHEIN an alle, hier RHEIN an alle! Ring 20! Ringmittelpunkt Koblenz. Parkplatz Danziger Freiheit.

Eine Kollegin im Streifenwagen erschossen! Ein Kollege durch Kopfschuss schwer verletzt! Kontrollpunkte besetzen! Vollsperrung aller Brücken und Ausfallstraßen! Alle Fahrzeuginsassen kontrollieren! Einsatzhundertschaft wird alarmiert! RHEIN 11 teilt die Sektoren für die Nahbereichsfahndung zu. Weitere Aufträge nach Eintreffen der alarmierten Kräfte. Funkdisziplin wahren! Achten Sie auf Eigensicherung!«

Absolute Priorität hat nun die Hilfeleistung für Bernd Müller. Aber es müssen auch schnellstmöglich fahndungsrelevante Hinweise über die Täter erlangt, die »Jungfräulichkeit des Tatorts« gesichert und der Bereich großräumig abgesperrt werden. Das ist mit den zurzeit im Dienst befindlichen Kräften nicht zu leisten. Polizeioberkommissar Christoph Retz von der Einsatzleitstelle RHEIN alarmiert den Rat vom Lagedienst, die Einsatzhundertschaft, die Diensthundeführer und alle Kollegen, die im näheren Umkreis wohnen. Polizeihauptmeister Christoph Kling informiert die Wasserschutzpolizei, die über den Rheinfunk für alle Fahrgastschiffe und Lastkähne ein vorläufiges Auslaufverbot erteilen und mit Unterstützung der alarmierten Kräfte alle Schiffe und die Uferbereiche kontrollieren wird. Die Polizeihubschrauberstaffel auf Flughafen Winningen steigt mit zwei Maschinen auf, und die Bundespolizei wird am Hauptbahnhof alle Reisenden der abfahrenden Züge kontrollieren.

Viele Einwohner haben sich schon zur Ruhe gelegt, als sie von den Sirenen der zahlreichen Martinshörner geweckt werden. In den Schaufenstern der Innenstadt spiegeln sich die kreisenden Blaulichter der Streifenwagen. Das Sirenengeheul dringt durch

Mark und Bein. Menschen öffnen die Fenster, einige laufen auf die Straße, befürchten eine Katastrophe, die sie aber nicht einordnen können. Vielleicht ein Erdbeben im Neuwieder Becken in der Nähe des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich? Bei den älteren Koblenzern werden Erinnerungen an schreckliche Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg wach. Damals lag die ganze Innenstadt in Trümmern. Immer mehr Rundumlichter der Einsatzfahrzeuge zucken wie blaue Blitze durch die Dunkelheit und tauchen die Innenstadt in ein gespenstisch flackerndes Lichtspiel. Schwer bewaffnete Polizeibeamte in gelb fluoreszierenden Westen haben auf allen Ausfallstraßen Kontrollstellen eingerichtet. Die Vollsperrungen von Balduinbrücke, Kurt-Schumacher-Brücke, Europabrücke, Südbrücke und Pfaffendorfer Brücke verursachen auch um diese Uhrzeit innerhalb kürzester Zeit einen Verkehrskollaps. Auf den Eisenbahnbrücken nach Güls und Horchheim und der Staustufe Koblenz werden Fußgänger und Radfahrer kontrolliert. An den Anlegestellen der beiden Fähren, auf den Fahrgastschiffen und den Lastkähnen, die an Rhein und Mosel vor Anker liegen, führen Beamte der Wasserschutzpolizei bereits die ersten Personenkontrollen durch.

***

Kriminalhauptkommissarin Lena Lieck steigt mit schlotternden Knien aus dem Dienstwagen. Sie versieht heute Nacht ihren Verfügungsdienst auf der Kriminalwache. Zehn Dienste pro Jahr muss jeder Angehörige der Kriminaldirektion leisten, da alle fünf Dienstschichten im Kriminaldauerdienst personell unterbesetzt ist. Lena kann sich nicht daran erinnern, dass sie beim Betreten eines Tatorts jemals so gezittert hat. Doch! Beim Anblick ihres ersten Mordopfers: eine zerstückelte Frau in einem Tiefkühlschrank, die von drei Metzgern zur Verdeckung der mehrfachen Vergewaltigung »fachgerecht klein geschnitten« wurde.

Die Kollegen der Schutzpolizei haben die Moseluferstraße und das Rheinufer für den Autoverkehr gesperrt. Alle Zufahrten zum Tatort zwischen Rhein und Mosel sind weiträumig abgeriegelt. Lena Lieck streift die cremefarbenen Gummihandschuhe über ihre feingliedrigen Hände und blickt den jungen Praktikanten von der Fachhochschule der Polizei kurz an. Sein erster Nachtdienst im KDD. Der junge Mann wird diese Bilder nie in seinem Leben vergessen. Sie werden ihn ein Leben lang verfolgen. Irgendwie tut er ihr leid. Aber er hat sich für den Beruf entschieden. Wie Lena auch. Sie ist drei Monate seine Praxisanleiterin und soll ihm das Rüstzeug für den polizeilichen Alltag mit auf den Weg geben.

»Ringalarmfahndung wurde ausgelöst. Alle Ausfallstraßen werden vollständig abgeriegelt, also Vollsperrung aller Brücken und Kontrolle aller Personen. Es werden Teams für eine Nahbereichsfahndung in den im Alarmplan festgelegten Sektoren eingeteilt. Jeder weiß, was er zu tun hat. Alle Personen werden überprüft und für eine spätere Auswertung registriert«, erklärt sie dem sichtlich geschockten Praktikanten. Der junge Kollege nickt nur. Es hat ihm die Sprache verschlagen. Eine solche Szene kennt er nur aus dem Fernsehen oder aus den Computerspielen mit seinen Freunden am Wochenende. In diesem Moment schwört er sich, nie mehr Tastatur, Maus oder Pad für ein Game über Verfolgungsfahrten mit Polizeifahrzeugen und anschließendem Schusswechsel in die Hand zu nehmen.

Lena Lieck atmet tief durch. Sie geht langsam mit kurzen Schritten auf den Parkplatz. Der junge Durchläufer trottet wie ein treuer Hund hinter ihr her. Zwischen Streifenwagen und Müllcontainer liegt ein blutüberströmter Polizist auf dem Rücken. Die Männer des Rettungsdienstes in ihren roten Westen versuchen den Kollegen mit der Professionalität der routinierten Ersthelfer zu reanimieren. Lena wirft einen kurzen Blick nach rechts und bleibt stehen. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Der junge Notarzt setzt eine Spritze. Ein Sanitäter hält die Infusionsflasche, der zweite presst dem Polizisten eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht. Dann heben sie den Schwerverletzten auf die Liege und tragen ihn zum Rettungswagen. »Wird er durchkommen?«, fragt Lena leise.

»Es wird schwierig«, antwortet der Arzt. Lena spürt die Resignation in seiner Stimme. Dann geht sie auf die Beifahrerseite des Streifenwagens. Der blutüberströmte Kopf einer jungen Polizistin liegt auf dem Armaturenbrett. Hektische Gespräche dringen aus dem Funkgerät. Dünne Blutstreifen rinnen von der Frontscheibe in die Lüftungsschlitze der Armaturenverkleidung. Das rote Rinnsal erweckt den Anschein, als wäre noch Leben in diesem Körper. Aber die Kollegin hat ihren letzten Atem ausgehaucht. Lena beugt sich über die Leiche. »Nei-i-i-n!«, würde sie am liebsten schreien. Ein unkontrolliertes Zittern überfällt ihren Körper. Das Gesicht unter dem frischen Blut. Mein Gott! Sabine! Lena blickt ihren Praktikanten an. Der kindlich wirkende Polizeistudent ist noch jünger als Sabine Laube. Wirkt eher wie ein bewaffneter Schülerlotse. Das rosafarbene Gesicht des jungen Mannes verfärbt sich zu einem gräulichen Weiß. »Ist sie wirklich ...?«, fragt er mit brüchiger Stimme. Lena nickt. Bevor sie sagen kann, dass er sich an solche Anblicke gewöhnen wird, dreht er sich um und übergibt sich in einem Schwall mitten auf dem Parkplatz. Lena muss die starke Frau mimen. Die taffeKommissarin. Wie so oft. Sie tritt hinter ihn und legt die Hand auf die Schulter des jungen Kollegen. Man hat ihr doch diesen jungen Mann für drei Monate anvertraut. Was soll sie ihm beim Anblick dieses grausamen Geschehens sagen? »Glaub mir! Das passiert dir nur beim ersten Mal. Mit der Zeit gewöhnst du dich an solche Anblicke«, lügt sie. Warum? Vielleicht würde der Kollege in einem anderen Beruf glücklicher. Lena versucht ihren Schwindel zu unterdrücken, der sie immer noch beim Anblick von Leichen überfällt. Niemals im Leben würde sie sich an den Tod gewöhnen. In der letzten Zeit treten diese Schwindelanfälle wieder öfter auf. Ohne erkennbaren Grund. Oft in Phasen der Ruhe.

Nur nicht drüber nachdenken. Einfach weitermachen. Lena geht zu dem Fahrzeug zurück, in dem das Unfassbare geschehen ist. Ihr Blick bleibt an dem roten Rinnsal auf der Windschutzscheibe hängen. Sie spürt die Angst vor dem eigenen Tod. Wie wird ihr Leben enden? Unzählige Fragen bohren sich in ihr Gehirn. Sie tauchen immer auf, wenn sie Leichensachen bearbeiten muss. Leichen konfrontieren immer brutal mit der Endlichkeit des eigenen Seins. Aber wäre ein ewiges Leben nicht schlimmer? Forever young: eine ebenfalls erschreckende Vorstellung. Bei Todesermittlungen wird der Mensch innerhalb von einer Sekunde zur Sache. Zur Leichensache. Lena kann bei Sabines Anblick nicht sachlich bleiben. An diesem Tatort liegt nicht irgendein anonymes Opfer. Sabine ist eine Kollegin. Eine Frau, deren Körper sie schon berührt hat. Sabines herzerfrischendes Lachen beim letzten Flurfest klingt wie ein Echo in Lenas Ohren. Lena wollte das fröhliche Beisammensein um zehn Uhr verlassen. »Lena, genieße das Leben, jeden Tag, jede Stunde, keiner weiß, was in der nächsten Minute geschieht!«, hatte Sabine sie überredet, noch zu bleiben. Und danach verging die Zeit wie im Flug. Sie hatten bis in den frühen Morgen über Gott und die Welt geredet und trotz des Altersunterschiedes viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Wer weiß, was morgen ist? Sabines Worte. Lena fand so viel Vertrautes in dem Gesicht der jüngeren Kollegin. In einem fremden Gesicht. War Sabine ihr so ähnlich, wie eine jüngere Schwester, die sie nie hatte? Dachte sie an die Zeit, als sie selbst noch bei der Schutzpolizei Dienst verrichtete? Und dann sagte Sabine: »Carpe diem. Genieße den Tag. Jeden Tag, an dem du wach wirst. Jeder Tag ist ein besonderer Tag. Der erste Tag vom Rest deines Lebens.«

Und es klang aus dem Mund der jungen Frau nicht altklug. Lena versucht gefühlsmäßige Distanz herzustellen. Sie muss ihren Job erledigen. Nur nichts anfassen. Du bist Profi, flüstert sie vor sich hin und ballt voller Wut ihre Hände in den Hosentaschen. Dies ist bereits die vierte Leiche in vierzehn Tagen: Das verhungerte Baby, tot im Kinderzimmer. Die aufgeblasene Wasserleiche am Rhein-Anleger. Der von Maden zerfressene Rest eines unbekannten männlichen Körpers im Stadtwald. Und nun die durch einen Kopfschuss brutal ermordete Sabine.

Vier Leichen in vierzehn Tagen! Wenn in zwei Wochen vier Leichen deinen Weg pflastern, solltest du endlich über das Leben nachdenken, meldet sich ihre innere Stimme. Und vor sechs Wochen hatte sich ein Kollege erschossen. Einfach so! Motiv unbekannt. Angeblich. Einfach so? Bei Suizid in Polizistenkreisen werden offiziell meist private Probleme genannt. Das ist aber nicht immer der einzige Grund. Lena spürt erneut diese Angst. Mit der Angst vor dem Tod wächst der Mut zum Leben. Manchmal verlässt Lena der Mut. Und erneut ertönt diese innere Stimme in ihren Ohren: Du solltest mehr über dein Leben nachdenken. Sonst bleibst du auf der Strecke. Nimm eine Auszeit. Wie damals nach dem Verfahren gegen Silkes Vater. Die Therapie hat dir doch gutgetan. Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Jeder ist zu ersetzen. Auch du! Du hast bei Helga erlebt, wie schnell man eine Kuh von der Weide jagt, wenn sie keine Milch mehr gibt. Lena steht wie zu einer Salzsäule erstarrt vor dem Streifenwagen. Dann schwankt ihr Kopf. Sie will sich an das Fahrzeug lehnen. Nein, nichts anfassen. Siehst du. Du schaffst es nicht. Lena hält sich die Ohren zu. Es nützt nichts, denn die Stimme spricht aus ihrem Innern und verstummt erst, als die Beamten des Erkennungsdienstes eintreffen und Lena dem Team von der Spurensicherung den Tatort übergibt. Die Kolleginnen und Kollegen von der Kriminaltechnik sehen in den weißen Schutzanzügen mit Kapuzen aus wie Schneemänner. Schnee im Sommer. Genauso unmöglich wie das Unfassbare, das hier geschehen ist? Nichts ist scheinbar unmöglich. Uniformierte Kollegen sperren den Tatort mit einem rot-weißen Band ab, damit keine Unbefugten den für die Spurensuche wichtigsten Bereich zertrampeln, eigene Spuren legen und wertvolle Spuren vernichten. Unbefugt sind ab sofort auch alle Polizisten, außer Spurensicherung und Gerichtsmediziner.

Ein Team der Schutzpolizei stellt den Lichtmast-Kraftwagen vor der Einfahrt zum Parkplatz ab. Riesige Halogenscheinwerfer tauchen den Streifenwagen in ein gespenstisches Licht. Ein abendlicher Spaziergänger würde Dreharbeiten für einen Tatortkrimi vermuten. Die Lampen machen die Nacht zum Tag. Ein Tag unter glühend heißer Sonne. Lena bleibt noch einige Minuten hinter der Absperrung stehen und lässt den Ort des grausamen Geschehens auf sich wirken.

Sie erschrickt, als sich eine Hand auf ihre Schulter legt. Lena dreht den Kopf leicht zur Seite. Es ist eine blasse, schmale, feingliedrige Hand mit zahlreichen Altersflecken. Sie kennt diese Hand und lehnt sich zurück.

»Ach, Harald! Ich könnte heulen«, flüstert Lena. »Warum tust du es nicht?«, antwortet Harald Sauer. Harald ist ihr Chef, der Leiter des Kommissariats für Kapitaldelikte. Er wird nun die Ermittlungen übernehmen und eine Sonderkommission einrichten. Harald winkt Günther Weller vom Erkennungsdienst zu sich. Die beiden Männer reichen sich stumm die Hand. »Wenn ihr vermessen, ausgetafelt, Fotos und das Video im Kasten habt, wird der Wagen mit der Leiche in die Waschhalle transportiert. Dort werden wir weiterarbeiten!« Weller nickt nur und geht zurück zu den Frauen und Männern in den weißen Overalls, die den Tatort vermessen und die Schilder mit den Nummern der jeweiligen Spuren positionieren. Erst im Präsidium würde man die tote Kollegin entkleiden, ihre Kleidungsstücke asservieren, mit Folie abkleben, um Mikrospuren zu sichern, und zuvor anhand von Sitzposition, Blutabrinnspuren und weiterer Merkmale eventuell Erkenntnisse über den wahren Tathergang gewinnen. Lena dreht sich kurz um und lehnt ihren Kopf an Haralds Schulter.

»Ich fahr dann mal. Tschüss!« Eine stille Umarmung, länger als gewöhnlich. Harald sieht blass aus. Er hat nach der Darmoperation viel zu früh seinen Dienst wieder angetreten. Wolle sich ablenken, hat er damals gesagt. Nicht immer daran denken, ob der Krebs sich weiter ausbreitet, und zu Hause auf den Tod warten. Sich bei der Bearbeitung von Leichensachen von der Vorstellung lösen, selbst einmal in einer silbernen Wanne abtransportiert und in eine braune Kiste gelegt zu werden. Harald stürzt sich wie ein Wilder in die Arbeit und hofft, irgendwann neben einer Leiche tot umzufallen. Immer noch besser als ein langes Dahinsiechen mit Schmerzen, hatte er Lena vor einigen Wochen anvertraut. Lena steigt in den Opel Astra, der noch mit hektisch blinkendem Blaulicht zwischen den anderen Einsatzfahrzeugen am Rheinufer steht. Sie fährt zum Präsidium und schickt den jungen Mann nach Hause, nachdem sie auf der Rückfahrt zwei Mal anhalten musste, weil dem Praktikanten übel wurde. Lena zieht sich alleine in das Zimmer am Ende des Flurs zurück. Mit zitternder Hand schreibt sie auf dem PC den Eingangsvermerk, im Polizeijargon »erster Angriff« genannt. Der erste Angriff für Sabines letzte Streife. Ist wirklich geschehen, wonach es auf den ersten Blick aussieht? Hat Sabine ihren Kollegen mit einem gezielten Kopfschuss töten wollen und sich dann selbst gerichtet? Lena will die Gedanken an einen erweiterten Suizid verwerfen. Wäre nicht das erste Mal, dass sich zwei heimlich Liebende in das ewige Leben verabschieden, weil sie im irdischen Leben ihre Beziehung nicht ausleben können. Lena denkt an den Schulleiter, der vor drei Wochen seine Kollegin mit einem Kopfschuss getötet und sich dann selbst umgebracht hatte. Aber Sabine und Bernd hatten kein Verhältnis, da ist sich Lena ziemlich sicher. Nein, aber wer hat sie getötet? Hingerichtet!

Wurden die Schüsse aus der Dienstpistole abgegeben, oder hatten der oder die Täter eigene Waffen eingesetzt? Kannte Sabine ihren Mörder? Galt der Anschlag beiden?

War es ein allgemeiner Racheakt an der deutschen Polizei und die beiden wurden zufällig Opfer? Handelte es sich um einen persönlichen Hintergrund? War dies der Beginn einer Serie?

Will sich ein psychisch kranker Mensch an Polizisten rächen? Wurden die beiden zuvor in eine Falle gelockt? Viele Fragen verirren sich unstrukturiert in ihrem Gedankenlabyrinth, und Lena findet keine einzige Antwort. Bis zum heutigen Tage hätte niemand eine solche Tat für möglich gehalten. Neben der Suche nach möglichen Motiven würden die Spuren am Tatort und die Ergebnisse der daktyloskopischen Spurensicherung und DNA-Analysen, die Faser und Schmauchspuren den Weg zu dem oder den Tätern aufzeigen. Aber es dauert oft lange, bis das Ergebnis vom LKA auf dem Tisch liegt.

Und dann nimmt ein anderer Gedanke Gestalt an. Ein terroristischer Anschlag? Von links? Von rechts? Ein Attentat von Reichsbürgern die den Staat ablehnen? Oder kann es auch ein Racheakt der neuen RAF sein, der RoteArmee-Fraktion, die in den 70er-Jahren viele Repräsentanten des von ihr gehassten Staates entführt und umgebracht hat? Buback, Schleyer und viele andere wurden von den Terrorkommandos getötet. Waren die Hinrichtung, anders konnte man es nicht bezeichnen, und der zeitliche Zusammenhang mit der öffentlichen Erklärung der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe zur Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen den RAF-Terroristen Stefan Wisniewski nur ein Zufall? Noch immer sucht das BKA nach RAF-Mitgliedern. Existieren immer noch alte Zellen der Rote-Armee-Fraktion, die sich wieder zusammenrotten, oder nutzt eine neue Organisation die aktuelle RAF-Kontroverse? Waren Sabine und Bernd die ersten Opfer einer neuen innerdeutschen Terror-Welle?

Sind die Kopfschüsse wirklich noch »normale« Tötungskriminalität? Muss sich die deutsche Polizei auf eine Hinrichtungswelle gefasst machen, wenn eine persönliche Beziehungstat ausgeschlossen werden kann?

Ältere Autofahrer würden sich heute Abend an die Rasterfahndung in den Siebziger-und Achtzigerjahren erinnern, als die Bilder von Polizisten mit Maschinenpistolen bei den Straßenkontrollen die Schlagzeilen der Zeitungen beherrschten. Zurzeit lief bundesweit in allen deutschen Kinos Bernd Eichingers Film »Der Baader-Meinhof-Komplex« nach dem Buch des ehemaligen Spiegel-Chefredakteurs Stefan Aust. Erwachte durch die aktuelle Berichterstattung bei vielen potenziellen Tätern wieder die Wut auf das verhasste System?

Oder hatte der Anschlag vielleicht einen islamistischen Hintergrund? Deutschland im Fadenkreuz des Dschihad? Auch möglich. Seit dem terroristischen Anschlag am 11. September in New York scheint nichts unmöglich. Vor vier Wochen waren in Köln zwei Polizisten in einen Hinterhalt gelockt worden. Es wurde eine hilflose Person im Stadtpark gemeldet. Als die Polizisten dem reglos auf dem Boden liegenden jungen Türken erste Hilfe leisten wollten, sprang dieser plötzlich auf. Er hielt eine Waffe in der Hand. Gleichzeitig stürmten zwei weitere Männer hinzu und bedrohten die Polizisten mit Schusswaffen. Als die Beamten flüchteten, schossen die Täter mit Schreckschusspistolen. Die drei in Deutschland geborenen Türken wurden kurze Zeit später in Köln festgenommen. Bei der Vernehmung gaben sie zu, dass sie den Polizisten ihre Dienstwaffen entreißen und sie anschließend töten wollten. Sie wollten sich am Dschihad beteiligen. Deutschland sei wegen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr ihr Feind. War der Koblenzer Anschlag vielleicht sogar ein Racheakt für den missglückten Überfall auf die Kölner Kollegen? Lenas Überlegungen verirren sich immer mehr in einem Gedankenlabyrinth, aber sie findet keine Erklärung.

SPURENLEGER

Подняться наверх