Читать книгу SPURENLEGER - Jörg Schmitt-Kilian - Страница 13
7.
ОглавлениеSie sitzen schweigend nebeneinander. Tom steuert das Fahrzeug langsam durch die Innenstadt, als wolle er so spät wie möglich den Obduktionsraum betreten. Dabei ist klar, dass Dr. Maier erst nach ihrem Eintreffen mit der Obduktion beginnen wird.
»Frau Laube hatte ständig Angst um ihre Tochter. Ob es wirklich eine sich selbst erfüllende Prophezeiung gibt, wenn man das Schlimmste befürchtet?«, bricht Lena das Schweigen. »Ich glaube schon«, murmelt Tom. Es gab eine Zeit, da hatte ich auch große Angst um meine Tochter und ich habe heute noch Angst, die ich mit niemandem teilen kann, und ich hoffe, dass meine schlimmsten Befürchtungen nicht eintreten, würde er gerne sagen, aber der Satz findet nicht den Weg über seine Lippen. Statt der Worte tauchen vor seinem geistigen Auge dunkle Schatten der Vergangenheit auf, erinnern ihn schmerzhaft an die schrecklichste Zeit seines Lebens. In der Pubertät wurde Sabine schwierig. Sie war gegen jeden und alles, wurde aufsässig. Dann beschimpfte sie Tom bei einer der fast täglichen verbalen Auseinandersetzungen mit »Bullenschwein«. Ihm war die Hand ausgerutscht. Zum ersten Mal. Einfach so. Aus Hilflosigkeit. Aber auch zum letzten Mal. Sabine ist von zu Hause abgehauen. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal. Erst später hatte er eine Erziehungsberaterin um Hilfe gebeten. Zu spät.
Ihre Worte klingen manchmal wie ein Echo in seinen Ohren:
Pubertät ist die Zeit, in der die Eltern schwierig werden. Kinder brauchen unsere Liebe am meisten, wenn sie es am wenigsten verdient haben. Kinder brauchen neben unserer Zuwendung und Zärtlichkeit besonders auch unsere Zeit. Zeit? Wo sollte er die denn hernehmen? Er hatte nie Zeit. Im Rauschgift-Kommissariat war die Hölle los. Die Drogenhölle. Dealer beliefern junge Menschen mit Drogen, manche Konsumenten sind jünger als seine Tochter. Und wenn mal wieder eine junge Frau vergewaltigt worden ist, weil der Täter sie zuvor mit der Droge GHB willenlos gemacht hat, tauchen mit Sabines Gesicht seine Angst und seine unbändige Wut auf. Dealer sind Mörder auf Raten. Töten Menschen. Töten Gefühle. Dann passierte der erste Unfall. Nach einer Observation über mehrere Stunden fiel er kurz vor Mitternacht in den gefürchteten Sekundenschlaf. Er geriet zwar nur kurz auf die Gegenfahrbahn. Nicht kurz genug um den Frontalzusammenstoß zu vermeiden. Der andere überlebte nicht. Sein Unfallgegner war auf der richtigen Fahrbahn, aber zur falschen Zeit am falschen Ort in einem zu kleinen Auto.
Unfallgegner. Seltsames Wort. Vokabular des Krieges. Krieg auf der Straße. Das Recht des Stärkeren? Seit dem tragischen Ereignis wacht Tom oftmals mitten in der Nacht auf. Schweißgebadet. Immer wieder taucht diese schreckliche Szene vor seinem inneren Auge auf. Das total zertrümmerte Auto, aus dem der Rauch aufsteigt. Das blutüberströmte Gesicht des Mannes, der in der unheimlichen Stille mitten in der Nacht immer wieder den Namen seiner Frau schreit. Nach dem letzten verzweifelten Schrei fiel der Mann wie ein gefällter Baum auf den grauen Asphalt und schwieg für immer. Heute noch hört Tom das Geräusch des Körperaufschlags in seinen Ohren dröhnen, so laut, als wäre ein Mehrfamilienhaus eingestürzt. Die gespenstische Szene verfolgt ihn immer wieder in seinen Träumen, vermischt mit diesen quälenden Gedanken an seine Tochter. Der Polizeipsychologe hatte ihm versichert, die Unfallbilder würden wieder verschwinden und er könne wieder ruhig schlafen. Der Therapeut hat sich geirrt. Im Gegenteil. Die Bilder tauchen nicht nur nachts auf. Manchmal kündigen sich die Panikattacken auch tagsüber mit feuchten Handinnenflächen an. Die Welle der inneren Erregung überflutet unkontrolliert den Körper. Dann steigt der Schwindel in den Kopf. Lässt ihn wie einen Drachen im starken Wind hin und her schwanken. Unsichtbare Münder blasen Luftballons im Bauch auf und er fürchtet, dass sie platzen. Magendurchbruch. Er hat Angst, dass diese innere Kraft seinen Körper in Stücke reißt. Wie nach einer Bombenexplosion fällt er dann immer in ein großes tiefes Loch.
***
Nachdem er auf dem Parkplatz vor der Leichenhalle den Motor ausgeschaltet hat, drückt Tom Schneider sich mit beiden Händen am Lenkrad ab. Erst jetzt bemerkt Lena Lieck, dass ihr Kollege im Gesicht kreidebleich geworden und tief atmend auf dem Sitz zusammengesunken ist.
»Tom?« »Ja?« »Ist dir nicht gut?« »Nur ein bisschen schwindlig. Mein Kreislauf. Ist gleich wieder vorbei!« Lena greift instinktiv in die rechte Hosentasche. »Willst du eine ...?« »Wie bitte?« »Ach nichts!« »Soll ich einen Arzt rufen?« »Nein, es geht schon!« »Tom, was ist los? Was hast du?« »Mach dir keine Sorgen. Ich kenne das Gefühl!« »Ja, aber so kenne ich dich nicht. So habe ich dich noch nie erlebt!«, lügt Lena. »Das habe ich öfter. Immer wenn ich unausstehlich bin, dann geht es mir schlecht.« »Dann muss dir aber oft schlecht sein«, erwidert Lena. Sie atmet tief durch. »Sorry, aber warst du denn schon mal deswegen bei einem Arzt?« »Hör auf. Wenn mich was krank macht, dann sind es Ärzte!« »Red doch nicht so einen Scheiß!«, ereifert sich Lena aus Sorge um den Zustand ihres Lieblingskollegen. »Ja, ich war bei so ’nem Quacksalber. Psychomotorischer Erregungszustand. Keine körperlichen Ursachen. Nur harmlose Panikattacken. Dann habe ich mich für kurze Zeit nicht mehr unter Kontrolle.« »Das ist für Polizisten das Schlimmste, nicht wahr? Dabei sind wir bei der Ausbildung darauf getrimmt worden, immer alles unter Kontrolle zu halten. Kontrollverlust ist das Schlimmste, was einem Polizisten passieren kann!«, sagt Lena und greift in die Hosentasche. Alles an Ort und Stelle. »Einer Polizistin auch?«, fragt Tom.
Lena lächelt. »Einer Polizistin auch.« »Wie einem Trinker!« »Oder einer Säuferin! Tom, wenn du reden willst. Ich bin für dich da.« Lena legt ihre schmale Hand auf seinen behaarten Unterarm. »Komm, wir müssen zu Sabine!« Sabine! Bei dem Gedanken an seine Tochter fürchtet er erneut im Sog der Gefühle zu ertrinken. Apropos trinken. Der zweite Unfall geschah am helllichten Tag: Trunkenheit am Steuer. Sechs Monate ohne Führerschein. Ermittlungen wegen der Trunkenheitsfahrt im Dienst. Dienstordnungsverfahren. Polizeibeamte werden doppelt bestraft.
Bei der Vernehmung hatte ihn kein Kollege der Schutzpolizei gefragt, warum er sich so zugeknallt hatte. Vermutlich hätte er den Grund auch verschwiegen. Seine Frau Birgit hatte sich von ihm getrennt, weil das Privatleben auf der Strecke blieb. Im Rauschgiftkommissariat weiß man nie, wann man nach Hause kommt.
Dann zog Birgit mit einem jungen Arzt zusammen. Bei der Scheidung erhielt sie das Sorgerecht. »Wann wollen Sie sich denn bei Ihrem Lebenswandel um die Kleine kümmern?«, hatte die Familienrichterin gefragt. Er fand es unfair, das Wort Lebenswandel in Verbindung mit seinem dienstlichen Auftrag zu benutzen.
Er sprach mit seiner Frau nach der Trennung mehr als je zuvor, aber es waren keine erfreulichen Telefonate. Die Horrorbotschaften der Anrufe hallen heute noch wie ein Echo in seinen Ohren. Jeder Anruf eine neue Hiobsbotschaft.
Bine kifft! Birgits erster Anruf nach dem Scheidungstermin. Bine ritzt sich. Vier Wochen später. Bine ist abgehauen. Zwei Monate danach. Tom erstattete bei seinen Kollegen auf der Kriminalwache eine Vermisstenanzeige. Sie suchten Sabine. Tagelang. Nächtelang. Aber sie fanden sie nicht. Weder tot noch lebendig. Mitten in der entscheidenden Phase der Vernehmung eines Drogendealers dann Birgits Anruf mit der Horrorbotschaft.
***
»Tom, komm! Wir müssen zu Sabines Obduktion!« Lena steht bereits neben der Fahrertür. Er hatte nicht bemerkt, dass sie ausgestiegen war. Sabines Obduktion? Lena, wenn du wüsstest, was du mit diesem Namen bei mir auslöst. Bitte, nenne nie wieder diesen Namen, würde er am liebsten schreien. Und sein Körper schaukelt hin und her, als stünde er bei starkem Seegang im Steuerhaus seines Hausbootes Albatros, kurz bevor das Schiff von der schäumenden Gischt auf den Meeresgrund hinuntergezogen wird. Und er braucht mehr denn je festen Boden unter den Füßen. Er spürt Lenas Hand auf seiner linken Schulter. Die Wärme der Handfläche breitet sich auf dem ganzen Körper aus. »Tom, geht es wirklich?«, flüstert Lena. »Es muss gehen«, antwortet er leise, atmet tief durch und reibt sich mit den Handflächen über die Augen. Dann steigt er mit zitternden Knien aus dem Dienstwagen.