Читать книгу Einführung in die deutschsprachige Literatur nach 1945 - Jürgen Egyptien - Страница 19
8. Schriftsteller und Politik
ОглавлениеInnere Emigration vs. Exil
Die erste öffentliche politische Kontroverse, an der Schriftsteller maßgeblich beteiligt waren, fand unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkriegs zwischen Vertretern des Exils und der Inneren Emigration statt. Als deren Wortführer traten Frank Thieß und Walter von Molo auf, die für sich in Anspruch nahmen, auch in den Zeiten der äußersten Not dem deutschen Volk die Treue gehalten und sein Leiden geteilt zu haben. Zielscheibe ihrer Polemik war vor allem Thomas Mann, der sich als Sprecher des anderen und besseren Deutschland verstand, das einen klaren Trennungsstrich zwischen sich und dem Dritten Reich gezogen habe. Seine Beobachterposition in Amerika denunzierten Thieß und v. Molo als privilegierten ,Logenplatz‘, von dem aus Th. Mann der deutschen Katastrophe wie der Inszenierung einer großen Tragödie zugeschaut habe. Sie übersahen dabei völlig das materielle Elend, in dem die meisten exilierten Schriftsteller lebten, und ihren Verlust von Publikum und sprachlicher Heimat. Umgekehrt schoss Th. Mann über das Ziel hinaus, wenn er in seiner Replik auf v. Molo Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe pauschal urteilte, Bücher, „die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, [seien] weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an: sie sollten alle eingestampft werden.“ (Mann 1997, 37) Einer solchen Einschätzung lag, wenngleich unmittelbar nach Kriegsende verständlich, eine zu monolithische Vorstellung von der kulturellen Situation im Dritten Reich zugrunde. Die aus dem Umkreis des Ruf hervorgegangene Gruppe 47 vertrat von Beginn an die Vorstellung eines gesellschafts- und zeitkritischen Autors. Alfred Andersch entwickelte in seinem Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung (1948) das Programm einer engagierten Literatur, wobei er philosophische Positionen von Jean-Paul Sartre mit Brechts kritischer Ästhetik kombinierte.
Politisierung der Literatur
In den 50er Jahren artikulierten sich Schriftsteller politisch beim Widerstand gegen die Wiederbewaffnung in der ,Ohne-mich-Bewegung‘ und insbesondere im Kampf gegen die Atomrüstung, der 1960 in die Ostermärsche mündete. Hier zählte Hans Henny Jahnn zu den prominenten parteipolitisch unabhängigen Autoren. Mit Beginn der 60er Jahre nahm das politische Engagement unter den Schriftstellern rapide zu. Einen ersten Ausdruck fand es in dem von Martin Walser herausgegebenen Sammelband Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? (1961). Zu der Politisierung der Autoren trugen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre sowohl innen- als auch außenpolitische Faktoren bei. Innenpolitisch empfand man die Herrschaft der Großen Koalition seit 1966 als Ausdruck einer bedrohlichen Zementierung der Verhältnisse und als völlige Marginalisierung aller Kritik. In der Notstandsgesetzgebung, die die Einschränkung demokratischer Grundrechte vorsah, erblickte man zudem die Wiederkehr eines sich autoritär gebärdenden Staats. Außenpolitisch wirkten die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt als Impulsgeber auf die kritischen Intellektuellen. Vor allem aber war es die schmutzige Kriegführung der Amerikaner in Vietnam, die den Mythos von den USA als Statthalter von Demokratie und Freiheit zerstörte. Nun schlug die Kritik an Amerikas Kriegführung in Kritik am westlichen Kapitalismus um.
Operative Literatur
Viele Schriftsteller traten an die Seite der Studentenbewegung, einige bezogen sogar parteipolitisch Stellung durch ihren Eintritt in kommunistische Parteien (z.B. Christoph Geiser, Elfriede Jelinek, Franz Xaver Kroetz, Michael Scharang). Der Typus des bürgerlichen Schriftstellers in seiner reinen Beobachterrolle und sein literarisches Schaffen wurden für tot erklärt. Literatur sollte im Sinne Lenins wieder ,Waffe im Klassenkampf‘ werden, der Schriftsteller sich als Revolutionär verstehen. Die Fetischisierung der direkten politischen Wirkungsabsicht der Literatur führte zum Konzept des Agitprop (Agitations-Propaganda). Bei der Produktion dieser für Streiksituationen, (Massen-)Versammlungen oder Demonstrationen verfassten operativen Texte wurden literarische Strategien aus den 20er Jahren wie die Praktiken des Proletkults und die Tendenzkunst des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller (BPRS) wieder entdeckt. In interaktiven Formen wie Happening, Straßentheater oder Grafiti wurde „durch unmittelbare Aktion der symbolische Raum autonomer Kunst aufgesprengt“ (Schlösser in Briegleb/ Weigel 1992, 385). Insbesondere die Verbindung theatralischer und musikalischer Darbietung sollte politische Aufklärung vermitteln. Im Anschluss an die zeitgenössische Popmusik entstanden die politischen Rockopern von Floh de Cologne oder Ton, Steine, Scherben. Es entwickelte sich zugleich der Typus des ,linken Barden‘, der seine systemkritischen Texte zur akustischen Gitarre vortrug. Dabei wiesen die Texte und Kompositionen dieser so genannten Liedermacher wie etwa Franz-Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader oder Wolf Biermann durchaus eine hohe ästhetische Qualität auf.
Literatur und Terrorismus
Mit dem Auftreten der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF) gerieten die systemkritischen Autoren in eine schwierige Situation. Im zuweilen etwas hysterisierten Klima während der Terroristenverfolgung rief Böll mit seiner Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) heftige öffentliche Reaktionen hervor. Böll schildert hier die Skrupellosigkeit sensationsgieriger Medien, die ohne Rücksicht auf die Wahrheit ihre Leser in gezielter Weise manipulieren. Die Berichterstattung der Massenpresse wirkt als Form der Gewaltausübung, die ihr Opfer so sehr in die Enge treibt, dass selbst ein zurückhaltender Mensch wie Katharina Blum Gegenwehr leistet. In einer Vorbemerkung wies Böll darauf hin, dass Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bildzeitung unvermeidlich seien. In der innenpolitisch aufgeheizten Atmosphäre des Deutschen Herbsts wurden die gesellschaftskritischen Autoren besonders von konservativen Politikern und der Springerpresse als ,Sympathisanten‘ des Terrorismus denunziert und sahen sich staatlicher Observation ausgesetzt. Der davon betroffene Heinrich Böll hat diese Situation in seinem Roman Fürsorgliche Belagerung (1979) festgehalten.
Biermann-Petition, Dissidenten, IM
Die zweite Hälfte der 70er Jahre führte auch in der DDR zu einer Eskalation im Verhältnis zwischen Schriftsteller und herrschender Politik. Die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 während seiner Konzertreise in der BRD führte zu einer Solidarisierungswelle unter den ostdeutschen Autoren. Mit den Unterzeichnern der Biermann-Petition traten erstmals Schriftsteller in einer konzertierten Aktion der Gängelung durch die SED offensiv entgegen. Diese Aktion wurde zum Beginn einer regelrechten Auswanderungswelle systemkritischer Autoren aus der DDR in den Westen. Seine Nachwehen hatte dieser Auszug der ,Dissidenten‘ bei der Verschmelzung der ost- und westdeutschen Schriftstellerverbände nach der Wende, da viele der in der DDR staatlich verfolgten Autoren ihre einst staatsfrommen Kollegen nicht im selben Verband dulden wollten. In diese Kontroverse spielte auch die Enttarnung nicht weniger Autoren als ehemalige IM (Informelle Mitarbeiter) der DDR-Staatssicherheit hinein, wobei sich sogar manche Repräsentanten der alternativen Szene am Prenzlauer Berg in Ostberlin als Spione erwiesen (Sascha Anderson, Rainer Schedlinski). Kurz nach der Wende entbrannte durch die Veröffentlichung von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt (1990) eine Debatte um den moralischen Status derjenigen DDR-Autoren, die für sich die Position der kritischen Solidarität mit dem sozialistischen deutschen Teilstaat in Anspruch genommen hatten. In diesem Streit fiel auch ein kritisches Licht auf einige Präokkupationen des linksintellektuellen Denkens seit den 70er Jahren.
Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang
Eine neue Qualität hinsichtlich des Tabubruchs mit diesen Denkgewohnheiten stellten die Debatten der 90er Jahre um Botho Strauß und Martin Walser dar. Strauß’ Anschwellender Bocksgesang (1993) hatte im Literaturbetrieb und darüber hinaus einen beinahe einhelligen Aufschrei der Empörung zum Echo. Alfred Andersch hatte einmal die These aufgestellt, dass der Geist und die Literatur notwendigerweise immer politisch links stünden, und diese Grundüberzeugung hatten die Intellektuellen bereitwillig internalisiert. Strauß kündigte nun diese Verknüpfung auf, weil sie eben keine eherne, sondern bloß ihrerseits eine ideologische sei. Die Ursachen für diese Aufkündigung reichten tiefer, sie lagen in Straußens kritischer Wendung gegen die Tradition der Aufklärung und die damit einhergehende Stigmatisierung des Sakralen und Mythischen. Natürlich war der Mythos nicht prinzipiell aus dem ästhetischen Diskurs ausgeschlossen worden, wohl aber unterlag die Mythosrezeption einem besonderen Legitimationsdruck und hatte ihre kritische, das heißt letztlich aufklärerisch-rationale Funktion zu beweisen. Wie eng die Grenzen hier gezogen waren und wie idiosynkratisch die Reaktionen ausfallen konnten, zeigte das Beispiel von Hans Leberts Roman Der Feuerkreis (1971), dessen Versuch, produktiv an Wagners Version des Nibelungen-Mythos anzuknüpfen, unter Faschismusverdacht geriet. Strauß schließt sich hier insofern an, als auch er neben dem transformatorischen, tendenziell dekonstruktiven Umgang mit dem Mythos auch den aufbauenden, den fundierenden (nicht fundamentalen!) Mythos zulassen will.
Aufstand gegen die sekundäre Welt und Remythologisierung
In dem titelgebenden Essay der Sammlung Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (1999), der 1991 als Nachwort zu George Steiners Buch Von realer Gegenwart erschien, hat Strauß eine ,Ästhetik der Anwesenheit‘ skizziert, die dem Kunstwerk die Qualität einer „theophanen Herrlichkeit“ (Strauß 1999, 41) zurückgewinnt. Strauß geht mit Steiner davon aus, dass „eine umfassende Mentalität des Sekundären“ (ebd. 44), die ihre extremste Ausformung im Journalismus gefunden habe, alle unmittelbare Beziehung des Worts zu einer göttlichen Sphäre überwuchert und erstickt. Darum sei „die Entmischung der weltlichen von den verweltlichten heiligen Dingen“ (ebd. 40) die wesentliche Bedingung der Befreiung des Kunstwerks von der sekundären Welt. Bei der Beglaubigung der theophanen Qualität des Kunstwerks geht Strauß einen entscheidenden Schritt über Steiner hinaus, wenn er im Rückgriff auf die Ästhetik von Pavel Florenskij die semiotische Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem kassieren will oder anders gesagt: die evokative Kraft des Kunstwerks bis zur Anwesendmachung des Dargestellten steigert. Mit diesem Programm einer „Remythologisierung“ (ebd. 47) kommt Strauß in große Nähe zu Peter Handkes Idee der ,Heilkraft der Sprache‘. In einer kryptopolitischen Wende krönt Strauß seinen Essay noch mit der Pointe, dass heutzutage der Reaktionär der eigentliche Nonkonformist sei, der das Vergessene in die Zukunft rettet, während sich die „hässliche Aufklärung“ (ebd. 44) in der Pose einer diffusen unverbindlichen Häresie gefalle.
Inszenierung des Opfers
Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang lässt sich als kalkulierte Inszenierung einer mythischen Urszene interpretieren. Ort und Diktion seines Textes legten es gerade auf ein Missverstandenwerden an, um den auf Harmonisierung zielenden öffentlichen Diskurs zu unterminieren und Sand ins Getriebe der Deutungsindustrie zu streuen. Strauß provozierte die Hüter der political correctness, ihn zu ,zerreissen‘, das heißt in der Öffentlichkeit an ihm eine ,Ursprungshandlung der Tragödie‘ (B. Greiner) zu vollziehen. Das eigene Opferangebot diente als Beglaubigung der postulierten Wiedergewinnung einer nicht mehr länger heteronomen Vereinnahmung durch mythische Mächte. Das Skandalon von Strauß’ Essay bestand darin, dass er explizit eine Rechtfertigung einer ,rechten‘ Haltung unternahm und jeder Kritik überhobene Ziele wie Emanzipation oder Wohlstand in Frage stellte. Strauß diagnostizierte als Resultat „unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit“ (Strauß in Schwilk/Schacht 1996, 21) die Entstehung einer „dumpfen aufgeklärten Masse“ (ebd. 31), der jedes Bewusstsein für Tradition, Autorität und Tragik abhanden gekommen sei. Strauß transponiert an dieser Stelle sein ästhetisches Konzept der ,Anwesenheit‘ auf die politische Sphäre und definiert seinen ,rechten‘ Protest als „Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will“ (ebd. 24). Als besonders provozierend empfand man, dass Strauß von einer ,Verhöhnung des Soldaten, der Kirche, Tradition und Autorität‘ durch die ,linke‘ Intelligenz sprach und sie als Indiz eines Kulturverfalls deutete.
Walser-Bubis-Kontroverse
Fast noch größer war der empörte Aufschrei in den Feuilletons nach Walsers Dankrede Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede (1998) bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Walser bekannte sich hier angesichts der inflationären Fernsehsendungen über den Holocaust zum ,Wegschauen‘. Bei der medialen „Dauerpräsentation unserer Schande“ (Walser 1998, 18) beschleiche ihn der Verdacht, Auschwitz werde als „jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule“ (ebd. 20) instrumentalisiert und in dieser rituellen Wiederholung seiner Bedeutung entleert. In diesem Zusammenhang machte er die Bemerkung, das Gedenken an die deutschen Schandtaten verkomme zu einer „Drohroutine“ (ebd.), die das historische Geschehen zur Durchsetzung gegenwärtiger Zwecke benutze. Als Kritiker von Walsers Ansicht trat besonders der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, hervor, der Walser vorwarf, mit seinen Formulierungen rechtsradikales Gedankengut hoffähig gemacht zu haben. Wer aber Walsers Rede liest, kann mit Blick auf die zu allen Gelegenheiten gebetsmühlenhaft sich wiederholenden Gedenkrituale mit ihren ewig gleichen Floskeln und Beteuerungen nur den zurückhaltenden Ton seiner Kritik feststellen. Vom Text dieser Rede her den Vorwurf der Verharmlosung des Nationalsozialismus zu erheben, ist nicht minder absurd als Walser im Roman Tod eines Kritikers (2002) Antisemitismus zu unterstellen.