Читать книгу Einführung in die deutschsprachige Literatur nach 1945 - Jürgen Egyptien - Страница 7
I. Zur Periodisierung der Literatur seit 1945
ОглавлениеGrenzen des Überblicks
Gegenüber dem Unterfangen, auf eng begrenztem Raum einen Überblick über die deutschsprachige Literatur des Zeitraums von 1945 bis 2000 geben zu wollen, erscheint die Quadratur des Kreises als ein vergleichsweise läppisches Vorhaben. Dies umso eher, als sich ja – zumindest aus der Optik eines Nicht-Mathematikers – das Resultat in einem Grad von approximativer Annäherung angeben lässt, von dem der Literaturhistoriker nur träumen kann. Dass man gerade in Bezug auf das hier behandelte Stoffgebiet alle Hoffnung auf eine nur halbwegs erschöpfende Darstellung fahren lassen muss, wird noch außer durch die Grenzen der subjektiven Wahrnehmungskapazität durch zwei objektive Faktoren bedingt. Zum einen dürfte sich rein quantitativ die literarische Produktion deutschsprachiger Texte noch nie dauerhaft auf einem so hohen Niveau bewegt haben. So werden allein in Westdeutschland seit etwa 1960 jährlich ca. 5000 Bücher belletristischen Charakters in Erstauflage verlegt. Die Zahl der Verlage, die schöne Literatur produzieren, dürfte, wenn man die Kleinverlage und Handpressen mitrechnet, sicher weit über 1000 liegen.
Kriterien literaturgeschichtlicher Systematisierung
Zur quantitativen Besonderheit gehört zudem, dass die Spanne von 1945– 2000 mit einer Erstreckung über 55 Jahre einen vergleichsweise langen Zeitraum darstellt. Gerade was die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts angeht, sind wir eigentlich gewohnt, kleinteiliger zu systematisieren. Das gilt sowohl für eine stilgeschichtliche als auch für eine gesellschaftsgeschichtliche Einteilung. Auf der einen Seite kann man z. B. von der Epoche des Expressionismus (1910 –1925) oder der Neuen Sachlichkeit (1925–1933) sprechen, auf der anderen operiert man mit Oberbegriffen wie Literatur der Weimarer Republik (1918 –1933) oder des Exils (1933–1945). Freilich ist zu berücksichtigen, dass man mit den stilgeschichtlichen Klassifikationen immer nur einen Ausschnitt des literarischen Feldes erfasst, denn beispielsweise existieren zeitgleich mit dem Expressionismus noch Strömungen wie die Neoromantik, der Neuklassizismus, der Spätimpressionismus, die Heimatkunst, die Arbeiterliteratur oder der Dadaismus, um nur einige zu nennen. Umgekehrt ist bei der Verwendung von gesellschaftsgeschichtlichen Begriffen von vornherein die Heterogenität des so benannten Phänomens mitzudenken. Gerade das Beispiel ,Literatur der Weimarer Republik‘ konfrontiert den Literaturhistoriker auf extreme Weise mit einer sowohl ästhetischen als auch mentalitätsgeschichtlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die von der völkischen Blut- und Bodenliteratur bis zum Proletkult, von traditionellen Formen bis zu avantgardistischen Experimenten, von retrogradem Provinzialismus bis zum Einbezug der großstädtischen Medien reicht.
Für die deutschsprachige Literatur von 1945 bis 2000 stellt sich der Sachverhalt noch etwas anders dar. Zwar kann man unter stilgeschichtlicher Perspektive auch hier einige bereits kanonisierte Segmente herausfiltern, wie etwa den Dokumentarismus oder die neue Subjektivität, zwar kann man innerhalb der Entwicklung einiger Gattungen Phänomene wie das absurde Theater oder die hermetische Lyrik konturieren, aber es sind doch gleichsam nur Inseln in einem noch unzulänglich kartierten Textozean, deren Koordinaten sich zudem bei näherer Betrachtung als unzuverlässig erweisen. Die zuletzt genannte hermetische Lyrik beispielsweise ist dem poetologischen Selbstverständnis ihrer prominentesten Vertreter nach – also Ernst Meister und Paul Celan – keineswegs hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossen, sondern gerade dialogisch angelegt.
Problematik der Gegenwartsnähe
Hier kommt nun der zweite objektive Faktor ins Spiel, denn natürlich ist eine literaturhistorische Perspektive umso schwerer einzunehmen, je näher der Gegenstand an die Gegenwart heranrückt. Das ist auf dem Hintergrund der heuristischen Notwendigkeit, mit literaturgeschichtlichen Klassifikationen zu operieren, immer zu berücksichtigen. Überhaupt wird man sich immer bewusst zu halten haben, dass die Bildung von Epochenbegriffen sich in Anlehnung an Luhmanns Terminologie als „komplexitätsreduzierende Konstruktion literarhistorischer Wirklichkeit“ (Anz in Fischer/ Roberts 2001, 36) bezeichnen ließe. Man hat zudem bei der Darstellung der jüngst vergangenen Periode damit zu rechnen, dass einige literarhistorische Phänomene, einige Inseln bereits aus dem Textmeer aufgetaucht, aber noch nicht hinreichend beschrieben, teilweise sogar noch unerschlossen sind und bei einer Expedition in ihr Inneres mit Überraschungen aufwarten. Andererseits kann es auch sein, dass diese Inseln vielleicht mit ihrem Schlagschatten die Sicht auf andere, womöglich größere oder wichtigere Inseln verdecken, oder dass sie bloß die Spitze eines Eisbergs sind, in dessen Innern bedeutendere Schätze verborgen sind als die zutage liegenden.
Was die Metapher meinen soll, sei an einigen wenigen Beispielen erläutert. Die Aufmerksamkeit, die das Phänomen Pop-Literatur in den 90er Jahren gefunden hat, hat erst das Bewusstsein dafür geschaffen, wie viele ihrer ästhetischen Verfahrensweisen schon in den frühen 60er Jahren im deutschen Sprachraum ausgebildet worden sind. Ebenfalls im letzten Jahrzehnt hat das Interesse an den deutsch-jüdischen Literaturbeziehungen stark zugenommen. Unter dieser Perspektive sind bei Autoren wie beispielsweise Wolfgang Hildesheimer oder Grete Weil neue Zugänge und literaturhistorische Situierungen möglich und die Sensibilität für ihre Teilhabe an einem jüdischen Diskurs geweckt geworden. Schließlich hat in vielen Fällen der (literatur-)politische Zeitgeist eine erhebliche Rolle als distinktives Kriterium gespielt und etwa dazu geführt, dass Autoren aus dem Blickfeld geraten sind, die ästhetisch und/oder politisch nicht dem mainstream entsprachen. Diese Konstellation führt regelmäßig zu Wiederentdeckungen, wie es zum Beispiel bei Autoren wie Albert Drach, Hans Lebert, Gert Ledig oder Rudolf Leonhard geschehen ist.
Spätestens hier kommt auch der Literaturbetrieb selbst als ein immer wichtiger werdender Faktor der literaturgeschichtlichen Systematisierung ins Spiel. Im Vorgriff seien hier etwa die leitenden Positionen von Mitgliedern der Gruppe 47 in den Rundfunkanstalten oder die wechselnde ideologische Ausrichtung der Literaturkritik und Literaturwissenschaft oder die Rolle des Literarischen Quartetts im Fernsehen unter der Regie des Großkritikers Marcel Reich-Ranicki genannt.
Zäsur 1959/60?
Fragt man nach Strukturierungsmöglichkeiten des literarischen Feldes 1945– 2000, wären wohl drei Zäsuren vorstellbar. Die früheste wäre um das Jahr 1959 anzusetzen, als gleichzeitig die Romane Die Blechtrommel von Günter Grass und Mutmaßungen über Jakob von Uwe Johnson erschienen. Sie wurden als Meilensteine empfunden, die den Anschluss der deutsch-deutschen Literatur an die Weltliteratur markierten und sich innovativer ästhetischer Techniken bedienten. Zugleich ließ sich der Skandal, der sich mit der Verleihung des Bremer Literaturpreises an Grass 1960 verband, als dramatischer Abschied von dem moralinsauren verklemmten Geist der 50er Jahre interpretieren. Es ist sicher zutreffend, wenn man den Zeitraum 1959– 1961 als Schwelle betrachtet, zumal wenn man noch aus dem schweizer Kontext Otto F. Walters Roman Der Stumme (1959) und aus dem österreichischen Hans Leberts Roman Die Wolfshaut (1960) und schließlich den Mauerbau im August 1961 hinzunimmt. Dennoch wäre der These von einer Epochenzäsur um 1960 entgegenzuhalten, dass sowohl die ästhetischen als auch die thematischen Spezifika der genannten Werke in einem Traditionszusammenhang standen, der in die Nachkriegszeit und teilweise darüber hinaus (denkt man etwa an die Verwandtschaft der Blechtrommel mit dem 1932 erschienenen Roman Ostwind von August Scholtis) reichte.
Allerdings wäre eine Zäsur um 1960 aus zwei anderen Gründen noch zu erwägen. Zum einen kann man hier den Prozess der so genannten Politisierung der Literatur beginnen lassen, zum anderen setzt die Entwicklung der Pop-Literatur ein, zwei Phänomene, die in dieser frühen Phase oft noch einander überlappen. Als wichtige Katalysatoren für diese Strömungen sind einerseits die Kriegsverbrecherprozesse in Israel und Deutschland und andererseits die Rezeption der angloamerikanischen Beatnik-Subkultur zu nennen. Auswirkungen der ersteren sind am Aufschwung des dokumentarischen Theaters von Hochhuth und Weiss oder an den Erzählungen von Alexander Kluge ablesbar, das andere etwa an H. C. Artmann.
Zäsur 1967/68?
Gesellschafts- und kulturgeschichtlich haben die Politisierung und die Subkultur wohl gemeinsam zu jener Verschärfung des Generationenkonflikts beigetragen, der sich in den Jahren 1967/68 gewaltsam entlud und seine extrem sektiererische Fortsetzung im Terrorismus der 70er fand. Wäre also das Jahr 1968 auch als literaturhistorische Zäsur verwendbar? Diese Frage wird man wohl eher verneinen können. Zwar treten in dieser Zeit operative Literaturformen, Agit-Prop-Konzepte u.ä. vermehrt auf, doch bilden sie im Blick auf das literarische Feld insgesamt eher ein marginales, zumindest ephemeres Phänomen. Als Zäsur kann man bestenfalls die Reaktion auf das Scheitern der Träume von gesellschaftlicher Transformation ansehen, insofern die Literatur der Neuen Subjektivität entstand. Außerdem ließe sich die mentalitätsgeschichtliche Hypothese aufstellen, dass das unmittelbar politische Scheitern der APO sowie der folgenden Friedens- und Antiatombewegungen für eine leichtere Anfälligkeit für den apokalyptischen Diskurs der 80er Jahre disponierte. Dass retrospektiv betrachtet die 68er Bewegung viel mehr zu einer kulturellen Modernisierung als einer gesellschaftlichen Revolutionierung beigetragen hat und dass Rudi Dutschkes Konzept vom Marsch durch die Institutionen sich in der parlamentarischen Etablierung der Grünen und in der Besetzung vieler Schlüsselpositionen in den Medien durch ehemals Studentenbewegte realisiert hat, gehört zu dem Prozess geschichtlicher Dialektik; freilich auch, dass auf diesem Weg die Träger der gesellschaftlichen Transformation und mit ihnen ihre Ideen selbst transformiert wurden. 1968 wäre also in der Tat im kulturhistorischen Kontext als Zäsur anzusehen, aber im engeren literarischen Feld bildet es wie die Zeit um 1960 eher eine Schwelle. Dafür spricht auch, dass manche Autoren – denkt man etwa an Martin Walser oder Peter Rühmkorf – ästhetisch wie politisch einige Zeit nach 1968 mutatis mutandis zu Positionen zurückgekehrt sind, die sie auch einige Jahre zuvor bezogen hatten.
Zäsur 1989?
Bliebe schließlich die Frage nach einer möglichen Epochenzäsur 1989. Eine Literaturgeschichtsschreibung, die sich in ihren Einteilungen an historischen Einschnitten zu orientieren neigt, würde hier zweifellos eine Zäsur setzen. Sie könnte das gewichtige Argument anführen, dass mit dem Jahr 1989 die gewaltsame Trennung in zwei deutsche Literaturen unter völlig unterschiedlichen kulturpolitischen Rahmenbedingungen endet. Das Argument bringt indes zwei Probleme mit sich. Auf der einen Seite ist die Annahme der zwei deutschen Literaturen nicht unumstritten. Auch wenn Uwe Johnson bereits 1964 die These von der Existenz ,zweier Sprachen‘ aufgestellt hat, die eine Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen behinderten, ist doch bis zum Ende der DDR eine Kontroverse darüber geführt worden, ob nicht gerade die Literatur eine Idee von ,Kulturnation‘ bewahrt habe (vgl. z.B. Buck in Arnold 1988). Auf der anderen Seite sind nicht wenige Beobachter der literarischen Entwicklung seit 1989 zu dem Befund gekommen, dass eine „Abkoppelung von Epochendiskursen und literarischem Schreiben“ (Roberts in Fischer/Roberts 2001, XIII) zu konstatieren ist, mit anderen Worten: die deutsche Einheit hat in der literarischen Entwicklung keine wesentlichen Spuren hinterlassen.
Wandel und Kontinuitäten
Was in den 90ern ins Auge fallen könnte, die neue Blüte einer auf mediale Inszenierung ausgerichteten Pop-Literatur, die Wiederkehr des Molochs Großstadt unter multiethnischen und subkulturellen Bedingungen im Berlin-Roman, der virtuelle (Schreib-)Raum des world wide web, all das ist Resultat einer ohnedies sich vollziehenden Amerikanisierung europäischer Verhältnisse. Auch hier wäre also eher eine gesellschaftliche Zäsur zu finden als eine literarische. Es steht abzuwarten, ob vielleicht die Jahrtausendwende einen literarhistorischen Paradigmawechsel mit markanteren Konturen nach sich zieht. Wenn man also rückblickend eher von drei Schwellen als von Zäsuren sprechen mag, so ist doch auch klar, dass heute generell anders als in der Nachkriegszeit geschrieben wird, was nicht meint, dass heute besser geschrieben wird. Es wäre nur mittels einer mikrologischen Stilanalyse zu demonstrieren, was in der Prosa oder Lyrik etwa der 50er als zeittypisch gewertet werden könnte, das heute antiquiert wirkt. Aber diese Stilnuancen bieten keine Basis für Epochenzäsuren. Was, wenn wir die Frage einmal umkehren, würde für die Kontinuität der Literatur von 1945 bis 2000 sprechen? Zunächst spricht dafür die Kontinuität des Œuvres wichtiger Autoren, die seit der frühen Nachkriegszeit die literarische Szene prägen, vor allem also die Veteranen der Gruppe 47 und des sozialistischen Aufbaus. Des weiteren spricht die Kontinuität der Beschäftigung mit dem Dritten Reich dafür, die zwar in sich einen diskontinuierlichen Verlauf hat, aber fraglos besteht.
Inversion und Remythologisierung
Schließlich möchte ich hier noch einige ästhetische Verfahrensweisen ins Spiel bringen, die m.E. eine Art Kontinuum bilden und, ohne gänzlich neu zu sein, in der Literatur seit 1945 doch eine neue Qualität gewonnen haben. Die eine möchte ich die Technik der Inversion nennen. Mit Inversion meine ich dabei die literarische Adaptation kulturgeschichtlich tradierter Stoffe und Vorstellungen in der Weise der Verkehrung, wobei diese in der Regel dekonstruktive, depotenzierende, zumindest fragmentierende und kritische Züge hat. Um nur zwei prominente Modelle dieser inversiven Methode anzuführen, sei an den Doktor Faustus von Thomas Mann und Tankred Dorsts Monumentaldrama Merlin erinnert. Die zweite ästhetische Verfahrensweise möchte ich Remythologisierung nennen (vgl. Seidensticker/ Vöhler 2002). Sie ist mit der Inversion methodisch nahe verwandt, aber doch insofern mehr als ein bloßer Anwendungsfall, als sie zum einen als Reaktion auf das offenbare Scheitern einer vernünftigen Einrichtung der Welt und zum anderen als ästhetisches Festhalten an der Weltdeutungspotenz des Mythos verstanden werden kann. Ihre konkrete literarische Gestaltung beschreitet dabei ebenfalls in der Regel den Weg der Fragmentierung und subversiven Demontage, kennt aber auch den Entwurf eines emanzipatorischen Mythos. Die Beispiele reichen hier von Elisabeth Langgässers Argonautenfahrt über Koeppens Romantrilogie bis zu Alban Nikolai Herbsts Anderswelt-Werkkomplex. Inversion und Remythologisierung sehe ich als zwei spezifisch ästhetische Antworten auf den Katastrophenzusammenhang des 20. Jahrhunderts, die einer über sich selbst aufgeklärten Moderne adäquat sind.
Intertextualität und Selbstreflexivität
Beide Verfahrensweisen könnte man dem übergreifenden Phänomen der Intertextualität zurechnen, das in den letzten Jahrzehnten wohl nicht zufällig ein wachsendes literaturwissenschaftliches und speziell – theoretisches Interesse auf sich gezogen hat (Kristeva in Ihwe 1972, Genette 1993, Stocker 1998). Es erscheint damit als epistemologisches Pendant zu einer ausgeprägten Tendenz in der Gegenwartsliteratur, den eigenen Schreibprozess als Fort- oder Überschreibung anderer Texte, als Dialog mit oder Widerspruch zu anderen Texten zu verstehen. Dieses vom plakativen oder parodistischen Zitieren bis zur verrätselten Allusion reichende, teils ernste, teils spielerische Verfahren wird als eines der Kennzeichen des (post-)modernen Schreibens angesehen. Als moderne Kunst partizipiert schließlich alle echte Literatur seit 1945 an einer ästhetischen Selbstreflexivität, welche den Werken die „Logik ihres Produziertseins“ (Adorno 1974, 159) als immanente Selbstreferenz einschreibt.
Zum Begriff der Gegenwart
Noch ein Wort zum Begriff der Gegenwart: Ich habe bewusst davon abgesehen, einen Titel wie ,Deutschsprachige Literatur der Gegenwart‘ zu wählen, weil er mir zur Beschreibung einer Zeitspanne von mehr als fünfzig Jahren unbrauchbar erscheint. Streng genommen gibt es nämlich Gegenwart nur für unser Erleben, nur im Jetzt, und Gegenwartsliteratur gibt es daher nur in den beiden Weisen des Erlebens des Schreibens und des Erlebens des Lesens (oder Hörens). Die Gegenwart ist ja eigentlich nichts anderes als die ständig im Zeitstrom sich vorwärtsbewegende Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Außerdem ist es ja selbstverständlich, dass ein Begriff wie Gegenwartsliteratur auch im allgemeinen Sinne nur von einer begrenzten Haltbarkeit sein kann. Die Literatur seit 1945 als Gegenwartsliteratur zu bezeichnen, geht am Erfahrungshorizont der meisten heutigen Leser vorbei. Verkompliziert wird die Lage noch dadurch, dass in den literarhistorischen Prozess immer wieder aus früherer Zeit stammende Texte (re-) integriert werden, die natürlich auch als Indikatoren einer geistigen Situation gewertet werden können. Auf solche (Wieder-)Entdeckungen kann ich jedoch nicht gesondert eingehen. Der literarhistorische Zeitraum 1945– 2000 ist also ein weites und in Bewegung befindliches Feld, das natürlich auch über diesen Beschreibungsversuch hinaus für Überraschungen gut sein wird.
Phasen im literarischen Feld 1945–2000
Mir stellt sich der Zeitraum von 1945 bis 2000 unter thematischen und stilistischen Gesichtspunkten wie folgt dar: Die unmittelbare Nachkriegsliteratur bis etwa 1950 scheint mir vor allem im Zeichen der Zeitthematik zu stehen, das heißt von Versuchen geprägt zu sein, die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart literarisch zu verarbeiten und zu gestalten. In der Literatur der 50er Jahre findet diese Zeitthematik vor allem im Kriegsroman ihre Fortsetzung. Es ist jedoch für das geistige Klima der 50er Jahre symptomatisch, dass auch von dieser ,harten‘ Gattung die Darstellungstechnik der Parabolik zunehmend Besitz ergreift. Die parabolische Schreibweise erscheint mir jedenfalls als das stilistische Siegel der 50er Jahre. Sie verbindet sich häufig mit einer existentialistischen, zuweilen auch nihilistischen Grundhaltung. Die späten 50er Jahre zeigen wohl als Reflex auf die Atomtests eine bemerkenswerte Neigung zu apokalyptischen Szenarien und erscheinen damit als Vorspiel der 80er. Mit den 60er Jahren setzt dann eine Politisierung der Literatur ein, die mit einer Formsprengung und vielfältigen Gesten der Provokation einhergeht. Im Rückblick wirkt ein nicht unerheblicher Teil dieser literarischen Tabuverletzungen infantil, ja geschmacklos. Als Gegenreaktion zu einer Politisierung, die letztlich auf die Substitution des ,subjektiven Faktors‘ durch soziologische Versuchsanordnungen hinauslief, erfolgte in den 70er Jahren die Wendung zur Neuen Innerlichkeit bzw. Subjektivität. Nun schlug das Pendel in die andere Richtung aus, und die Literatur wurde zum öffentlichen Schauplatz narzisstischer Versenkung und der larmoyanten Selbstbetrachtung nicht weniger gescheiterter Systemveränderer. Ästhetisch wirken die 70er Jahre als Phase der Stagnation. Die 80er Jahre stehen unzweifelhaft im Zeichen eines apokalyptischen Lebensgefühls. Die Diskussionen um die Neutronenbombe, der GAU im ehemals sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl und das Bewusstsein einer drohenden ökologischen Katastrophe bilden dafür den Hintergrund. Die 90er Jahre reagieren erneut mit einem Pendelschlag. Die Spaßkultur zieht auch in die Literatur ein. Die postmoderne Schreibhaltung mit ihrer arbiträren Kombinatorik kommt diesem geistig verflachten Lebensgefühl entgegen. Die einst subversiven Pop-Elemente sind zum Bestandteil der Konsumwelt und Massenkultur geworden. Nicht selten scheint eine gesuchte Exotik der Schauplätze über die seelische und intellektuelle Substanzlosigkeit dieser Literatur hinwegtäuschen zu wollen. Immerhin ist aber auch nach dem Ende der Teilung Europas in politische Blöcke eine befreiende Entideologisierung aller Diskurse zu beobachten und die Entlastung der Literatur „von allen außerästhetischen Verpflichtungen durch Moral, Philosophie und Politik“ (Anz 1991, 194). Damit wurden für die Literatur alle Formen und Perspektiven neu verfügbar. Es sind vor allem die uralten künstlerischen Medien von Märchen und Mythen, die der Literatur tragfähige Ausdrucksweisen erschlossen haben.
Es versteht sich, dass diese allgemeinen Entwicklungstendenzen sich verschieden deutlich in den einzelnen Gattungen manifestieren. So wird man beispielsweise für die Lyrik, die vielleicht über die ausgeprägteste Eigendynamik verfügt, zugeben müssen, dass in der ersten Nachkriegsphase nicht Zeit- sondern Naturgedichte und in den 50ern weniger parabolische als hermetische und konkrete Techniken dominierten.
Ebenso ist es selbstverständlich, dass der eng begrenzte Rahmen dieser Darstellung ein selektives Verfahren erzwang, dem eine Vielzahl von Werken und Autoren zum Opfer gefallen ist, die ich für nicht weniger bedeutsam für die deutschsprachige Literatur seit 1945 halte als die genannten. Nicht nur andere, auch ich selbst hätte das gleiche Buch völlig anders schreiben können.