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Die Geschichtlichkeit der Geschichte
ОглавлениеAus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine Generation von Akademikern hervorgegangen, welche die Erfahrung teilte, den Boden eines selbstverständlichen Lebens verloren zu haben und in den Strudel der geschichtlichen Ereignisse gerissen worden zu sein. Für Hannah Arendt stellte der Terror des Dritten Reichs den »Zusammenbruch aller deutschen und europäischen Traditionen dar, der guten wie der schlechten«.94 Für sie war die Einmaligkeit der Verbrechen, »die niemand für möglich gehalten hätte«,95 ein Traditionsbruch. Die Folge dieses Bruchs sei eine außerordentliche Infragestellung aller moralischen Gewissheiten. Niemand, der seine fünf Sinne beisammen habe, könne weiterhin behaupten, das Moralische verstehe sich von selbst – »eine Annahme, mit der die Generation, zu der ich gehöre, noch aufgewachsen ist«.96 Was für das Moralische galt, galt auch für das Politische. »Die Diktatur hat uns alle verwandelt«,97 so hat Dolf Sternberger, der Begründer der deutschen Politikwissenschaft, die bleibenden Auswirkungen des NS-Regimes zusammengefasst. »Niemand, der diese Erfahrung auf die eine oder andere Weise am eigenen Leib gemacht hat, kann die Lektion vergessen«, er selbst habe »unter Hitler und paradoxerweise durch Hitler erst gelernt, was Freiheit bedeutet, was Freiheitsgarantie und daher auch was Verfassung bedeutet«.98 Jürgen Habermas hat davon gesprochen, der »Augenblick der Katastrophe« sei Ausgangspunkt der »Emanzipation«99 gewesen. Der Aufbruch in eine politische Mündigkeit erforderte eine Aufklärung über das Erfahrene, ein Befragen der eigenen Biographie. Die Zäsur von 1945 habe ihn nach eigener Auskunft »um eine Erfahrung bereichert«, ohne die er »wohl kaum zur Philosophie und Gesellschaftstheorie gelangt wäre«.100 Den 1929 Geborenen überfiel die Einsicht, dass die »Gesellschaft und das Regime eines als halbwegs normal durchlebten Alltags gleichsam über Nacht als pathologisch und verbrecherisch entlarvt worden«101 waren. »Unsere eigene Geschichte wurde plötzlich in ein Licht getaucht, das alle wesentlichen Aspekte schlagartig anders erscheinen ließ. Man sah plötzlich, daß das ein politisch kriminelles System war, in dem man gelebt hatte. Das hatte ich mir nie vorgestellt.«102
Da sich nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Vernichtungsterror nichts mehr von selbst verstand, wurde auch die Frage nach der Zeit, in der man lebt, die Vergewisserung über die geschichtliche Epoche aus ihrer Latenz herausgerissen. »Man hatte sich«, so Blumenberg, schon nach dem Ersten Weltkrieg »außer um das eigene Leben – und im Zweifel an dessen Sinn – um das Zeitalter zu kümmern. Diese Bekümmerung, die ›Erlebnis‹ zu nennen man nicht mehr wagte, nahm den Titel ›Geschichtlichkeit‹ an.«103 Zum Vergleich: Karl Jaspers hat sich im Rückblick auf seine Studienzeit vor dem Ersten Weltkrieg an die noch unerschütterte Stabilität lebensweltlicher Gewissheiten erinnert: »Meine Reflexionen als Student darüber, daß es so, wie es jetzt ist, für unsere Lebenszeit bleiben werde, bedeuteten, sich nicht um das Zeitalter zu kümmern. Es hatte nur ein beiläufiges Interesse. Das Leben hatte seinen Sinn nicht für diese Zeit. Der Sinn war zeitlos.«104 Davon konnte nun keine Rede mehr sein. Schon 1931 fühlte sich Jaspers gedrängt, von der Geistigen Situation der Zeit Zeugnis abzulegen und mit diesem Stichwort das Denken auf seine Geschichtlichkeit zu verpflichten. Konsequent forderte er als bedeutende Integrationsfigur Nachkriegsdeutschlands, die Philosophie müsse nun »konkret und praktisch werden«.105 Schock und Aufbruch in all diesen Köpfen, moralische und politische Verpflichtung auf einen antifaschistischen Neuanfang. Die deutsche Philosophie stand vor der Herausforderung, neu ansetzen zu müssen, die zerstörten Universitäten ebenso wie das eigene Denken neu zu errichten.
Vor diesem Hintergrund ist die 1950 in Kiel bei Ludwig Landgrebe und Walter Bröcker eingereichte, 233 Seiten umfassende Habilitationsschrift Blumenbergs, die den Titel Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls trägt, bemerkenswert. Blumenberg teilte die kognitive Unruhe eines notwendig gewordenen Neuanfangs, und wie für Arendt und Habermas, Sternberger und Jaspers galt es auch für ihn, der Erfahrung der geschichtlichen Bedingtheit des Augenblicks durch ein ursprüngliches philosophisches Denken die Treue zu halten. In dieser Verpflichtung entdeckte er etwas, das ihn einen eigenen Denkweg einschlagen ließ: »Daß die Philosophie von der Bedrängnis der je gegenwärtigen geistigen Situation in Atem gehalten wird«, beginnt er seine Habilitationsschrift, »und ihre Probleme aus der Not des geschichtlichen Selbstverständnisses des Menschen vorgeworfen erhält, ist ihr selbst über weiteste Strecken ihrer Geschichte hin durch den Schein der Zeitentzogenheit ihrer Grundthemen verborgen geblieben. Hatte das Denken nicht schon am Anfang der für uns deutlichen Geschichte seine großen Fragen aufgeworfen – oder besser: aufgefunden – und sie in der inneren Zwangsläufigkeit des entfaltenden Nacheinander von Problem, Lösung, Aporie durchgetragen? Gab es in irgendeiner anderen Disziplin eine auch nur entfernt vergleichbare Kontinuität? Sollte dies aber Schein sein – wo sollte man einen Standort finden, von dem aus er als solcher durchschaubar würde, da doch die Philosophie schon der äußerste aller denkbaren Standorte war? Die Geschichtlichkeit der ›Geschichte‹ der Philosophie mußte das verborgenste, vielleicht letzte Thema der Philosophie sein. Zu ihm gab es keinen methodischen Zugang, keinen Hinweis aus den Leerstellen eines Systems, nicht den Anstoß einer Aporie; denn nirgendwo sonst ließen sich historische Zusammenhänge größter Tiefenerstreckung so geradlinig ins Zulaufen auf die jeweilige Gegenwart ein›richten‹, so bestätigend zur Vorläuferschaft dienstbar machen wie hier. Das ist gewiß nicht bloßer Zufall oder Folge besonderer Gewaltsamkeit; es deutet darauf hin, daß ›Geschichte‹ der Philosophie sich wirklich auf den Grund einer Einheit beruft. Daß aber diese Einheit gerade nicht das war, als was sie je von den Philosophien und Systemen in Anspruch genommen wurde, nämlich der bloße Vorlauf auf die je aktuelle Gegenwart des Denkens – diese Einsicht konnte nur selbst als Erfahrung eines geschichtlichen Geschicks durchbrechen.«106
Es gibt also eine ›Geschichte‹ der Philosophie – von Blumenberg in Anführungszeichen gesetzt, wenn mit ihr jene Kontinuität traditioneller Begrifflichkeit gemeint ist –, die eine Einheit des philosophischen Denkens begründet, trotz aller schul- und epochenmäßigen Ausdifferenzierungen. Aber es gibt auch einen geschichtlichen Hintergrund der ›Geschichte‹, der sich als ›Geschick‹ ereignet, der in die Kontinuität einbricht, ursprüngliches Bedenken der Situation erfordert und die vordergründige Kontinuität infrage stellt. Daher spricht Blumenberg von der ›Geschichtlichkeit der Geschichte‹. Auch andere Texte der unmittelbaren Nachkriegszeit sind von jenem Tenor der erwachten Geschichtlichkeit als existenzieller Erfahrung geprägt. Gerhard Krüger, um einen Autor heranzuziehen, den Blumenberg seinerzeit gelesen und zitiert hat, schreibt 1947 in seinem Zeitkommentar Die Geschichte im Denken der Gegenwart davon, die Geschichte sei »heute unser größtes Problem«, es sei »unser dringendstes, unser umfassendstes und unser schwierigstes« und das »dunkelste aller Probleme« und somit ein »philosophisches Grundproblem«.107 Doch während Krüger, einen drohenden dritten Weltkrieg im Blick, die ihm gegenwärtige Geschichte als eine »Situation der Gefährdung«108 begreift, überschreitet Blumenberg philosophisch den gedankenauslösenden Kontext, um nach der Verfasstheit von Geschichte überhaupt zu fragen. Es darf als eine eigene Form intellektueller Selbstbehauptung genommen werden, sich von der biographisch-zeitgeschichtlichen Situation nicht dauerhaft das philosophische Fragen bestimmen zu lassen.
Blumenberg schlägt daher einen eigenen Reflexionsweg ein. Dabei fällt auf, wovon er nicht spricht. Zum Vergleich: Arendt kam es nach den Katastrophen, die jedes erwartbare Maß übertroffen hatten, darauf an, »die Grundlagen einer neuen politischen Moral zu schaffen«,109 Sternberger wurde für die junge Bundesrepublik zu einem wichtigen Wegweiser in die Verfahren einer uneingeübten Demokratie, und Habermas stellte der totalitären Gleichschaltung das ›kommunikative Handeln‹ entgegen. Blumenberg aber hat sich weder in seiner Habilitationsschrift noch in seinem weiteren Werk prominent zu Fragen der Moral und des Politischen geäußert, schon gar nicht hat er sich mehr als punktuell über seine eigenen biographischen Umstände im Dritten Reich ausgelassen. Auch er sieht die Aufklärung als gescheitert an – was das genau bedeutet, wird noch zu zeigen sein –, aber er begreift sie nicht vorrangig als ein moralisch-politisches Emanzipationsprojekt, sondern als den Erkenntnisanspruch absoluter Gewissheit und zieht daher aus ihrem Scheitern alternative Schlüsse. Eine Dialektik der Aufklärung, wie sie Horkheimer und Adorno gedacht haben, eine fundamentale Kulturkritik im Sinne einer kritischen Theorie also mit der Selbstverpflichtung auf gesellschaftliche Relevanz, ist Blumenberg ebenso fremd geblieben wie der später erhobene Primat der Praxis gegenüber aller Theorie. Blumenberg trieben andere Fragen um.
Heidegger hatte in Sein und Zeit von dem In-der-Welt-sein gesprochen und damit eine unhintergehbare Grundverfassung des menschlichen Lebens bezeichnet. Blumenberg betont in seinen einleitenden Ausführungen, für den Menschen sei ein immer schon In-der-Geschichte-sein anzunehmen, denn »das Wesen des menschlichen Denkens ist gerade darin geschichtlich, daß es immer schon ›entschieden‹ ist. Solche Entschiedenheit tritt im Modus der Selbstverständlichkeit auf und entzieht sich darin jeder Infragestellung«.110 Die durch die Geschichte erfolgte und unbemerkte Vorprägung jeder denkerischen Position ist nicht beliebig und aus eigenem Antrieb reflektierbar, sondern es bedarf des Anstoßes, der Unterbrechung durch eine Zäsur, um die geltende Evidenz zu erschüttern. Eine solche Zäsur, die die Ursprünglichkeit von Geschichte freisetzt, ist der Zusammenbruch der ontologischen Distanz als angestrebter Gewissheit.
Spätestens hier ist eine Zwischenbemerkung fällig: Der Titel der Habilitationsschrift verführt in zweifacher Hinsicht zu Missverständnissen. Der Haupttitel Die ontologische Distanz vermag irreführende, vom späteren Werk Blumenbergs genährte Assoziationen zu wecken. Da kaum jemand sich die Bücher Blumenbergs in ihrer chronologischen Reihung aneignen wird, kommen die Doktorarbeit und die Habilitationsschrift, wenn überhaupt, erst spät in den Blick und drohen aufgrund des bis dahin gewonnenen Vorverständnisses fehlinterpretiert zu werden. Der mit der späteren Philosophie Blumenbergs Vertraute wird bei dem Stichwort ›Distanz‹ an den ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ denken, auch an den absoluten Willkürgott, demgegenüber jede Form von Distanzgewinnung eine begrüßenswerte Rettung ins Humane darstellt. Die Stiftung von Distanz ist eines der zentralen Überlebensmittel des Menschen. In der Habilitationsschrift aber ist der Akzent etwas anders gesetzt. Eine frühere Fassung aus dem Jahr 1949 trug den Titel Das Distanzproblem des Philosophierens und markierte so schon das Fragwürdige des ins Auge genommenen Phänomens.111 In der Habilitationsschrift bezeichnet ›Distanz‹ eine dem abendländischen Denken innewohnende und in der Moderne nochmals gesteigerte problematische Vergegenständlichung von Wirklichkeit, zunehmend zum Zweck der wissenschaftlichen Erforschung und Beherrschung. Eben dieses Projekt der angestrebten Erkenntnisgewissheit sieht Blumenberg als gescheitert an. Gegen die überkommenen Formen einer ontologischen Distanz gelte es daher, ein ursprüngliches Denken zu verteidigen, das den Einbruch des Geschichtlichen als erfahrenes Geschick nicht ausblendet und auf Distanz hält.
Auch der Untertitel weckt falsche Erwartungen: Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Wie schon bei der Doktorarbeit sucht Blumenberg nach einem Referenzautor, um doch weit über ihn hinauszugehen. Die akademischen Rahmenbedingungen in Kiel hatten eine Einbeziehung der Philosophie Husserls durchaus als naheliegend erscheinen lassen, war doch sein dortiger Doktorvater Ludwig Landgrebe in Freiburg von 1923 bis 1930 Privatassistent Husserls gewesen, auch wenn er nach eigener Selbstauskunft kein orthodoxer Husserlianer und von Heidegger beeindruckt war.112 Wer aber nun eine hermetische Studie zur Phänomenologie Husserls erwartet, wird – je nach Nähe oder Ferne zum Protophänomenologen – enttäuscht oder erleichtert sein zu sehen, dass weder einzelne Paragraphen noch einer der vier Teile zur Gänze der Phänomenologie Husserls gewidmet sind und die Auseinandersetzung mit ihr schon rein quantitativ kaum ein Viertel der Arbeit ausmacht. Blumenberg wendet sich ihr zu, da er »die Krisis der Neuzeit am Paradigma der Phänomenologie Husserls begründeter zur Sprache bringen zu können«113 meint.
Auch hier gilt es, sich vom Späteren das Frühe nicht überblenden zu lassen. Bei aller Kritik hat Blumenberg Husserl zeitlebens eine Wertschätzung entgegengebracht, die er Heidegger zunehmend verweigerte. So hebt er schon in der Habilitationsschrift die »große Lebensleistung«114 Husserls hervor. Wer nun aber meint, in Husserl einen mentalen Ausgangspunkt für die philosophische Selbstbestimmung des jungen Blumenberg zu finden, wird eines Besseren belehrt. Seine Habilitationsschrift überschreitet mit ihrem Problemhorizont die konkreten Erfahrungen der geschichtlichen Situation und behandelt, grundsätzlicher ansetzend, die Krise der neuzeitlichen Wissenschaft und ihres Gewissheitsanspruchs anhand der Phänomenologie Husserls im Angesicht der sich aufdrängenden Reflexionen der Geschichtlichkeit der Geschichte der Philosophie. Er fragt danach, was eine Epoche ausmacht, er diagnostiziert und kritisiert die Vermeidungsstrategien vermeintlicher Ungeschichtlichkeit, verweist auf die Endlichkeit des Denkens und fragt nach der Wissenschaftlichkeit der Philosophie. Der von ihm eingeschlagene Reflexionsweg zielt, anders als es Jaspers gefordert hatte, auf keine konkrete und praktische Philosophie. Blumenberg geht ins Grundsätzliche und nimmt die widerfahrenen Erlebnisse eines Bruchs vermeintlich ungeschichtlicher Selbstverständlichkeiten zum Anlass, die »Krisis der Neuzeit« überhaupt zu bestimmen, eine Krise epochalen Ausmaßes, da »das fraglos Selbstverständliche, auf dem eine ganze Epoche aufruhte, sich nicht mehr von selbst versteht«.115 Diese Krisis ist für Blumenberg in ihrem Kern eine Krisis der Philosophie.
Die Höhenlage dieser Überlegungen ist von einem Werk Husserls vorgegeben worden, das Blumenberg in der Belgrader Ausgabe von 1936 herangezogen hat: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Darin unternahm Husserl nicht weniger als eine Bestimmung des auf ein festes Ziel zulaufenden Geschichtsverlaufs des abendländischen Denkens als Theorie, der in der Moderne entgleist und durch die Phänomenologie wieder in die Spur gesetzt werden sollte. So befremdlich es heute in einer Zeit klingen mag, die Wissenschaft kaum noch anders kennt denn als ausdifferenziertes Spezialistentum, bei dem der eine kaum noch versteht, was der andere tut: Es ging Husserl um nichts Geringeres als den Untergang, um die Verfehlung der inneren Intention der europäischen Wissenschaftskultur, der es Einhalt zu gebieten gelte. Blumenbergs Diagnose der Krisis der Neuzeit ist von vergleichbarer Fallhöhe und Grundsätzlichkeit der Fragestellung, aber er unterzieht den geschichtsphilosophisch aufgeladenen Eigenanspruch der späten Phänomenologie Husserls einer scharfen Kritik. »Husserl hielt seine Phänomenologie für die einzige Rettung aus der Krise der Wissenschaften und der Philosophie, Blumenberg untersucht die Phänomenologie als das deutlichste Symptom dieser Krise«,116 bring Kurt Flasch es auf den Punkt. Diese epochale Krisendiagnostik mag Patina angesetzt haben, ist aber doch mehr als lediglich ein Dokument intellektueller Befindlichkeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
All dies geschieht unter dem erläuterungsbedürftigen Stichwort der ›ontologischen Distanz‹. Für Blumenbergs Vorgehensweise von Beginn an kennzeichnend, verweigert er sich jeder anfänglichen Definition. Es gelte vielmehr, diesem Begriff nicht vorschnell definitorisch seine Plastizität zu nehmen. Er begnügt sich mit wenigen Hinweisen, zunächst mit der Abgrenzung, ontologische Distanz sei keine bloße »methodische ›Einstellung‹«,117 die man einnehmen und zu jeder Zeit auch wieder aufgeben könne, wie etwa ein Christ – darf man ergänzen – situativ den methodischen Atheismus der Naturwissenschaft teilen mag. Die ontologische Distanz ist aber auch keine zeitlose Bestimmung eines Grundverhältnisses des Menschen zum Sein, sie ist vielmehr »eine geschichtliche Möglichkeit«.118 Dies ist sie aber nicht im Sinne eines episodischen Auftretens in der Geschichte. Vielmehr gelte, »daß das Moment der ontologischen Distanz nicht in der Geschichte der Philosophie nur ›vorkommt‹, etwa im Zusammenhang eines bestimmten Systems, sondern daß es die ›Geschichte‹ der Philosophie gerade in ihrer Geschichtlichkeit ausmacht und selbst ist«.119 Kennzeichnend auch für seine späteren Annäherungsversuche an Begriffliches, bietet Blumenberg anstelle einer eingehenderen Definition eine geschichtliche Vergewisserung, indem er »Durchblicke zur historischen Morphologie der ontologischen Distanz«120 von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit bietet.
Im mythischen Denken, beginnt Blumenberg seinen historischen Durchblick, bewegt sich der Mensch in einer Welt, die von Mächten regiert wird, derer er nicht Herr ist. Götter vermögen in die innersten Beweggründe menschlichen Handelns einzugreifen. Launen des Schicksals bestimmen des Menschen unsicheren Lebensweg. Jahrzehnte später, in Arbeit am Mythos, wird Blumenberg auch den Mythos als Bändigung eines Absolutismus der Wirklichkeit und somit vorrangig als Leistung und nicht nur als Herausforderung begreifen. Hier aber ist es erst die errungene Zuschauerposition des Theoretikers, die jene mythische Welt auf Distanz setzt und eine Selbstbehauptung gegen die ominösen Mächte erringt: »Die griechische Geistesgeschichte ist die Bewährung des menschlichen Selbstandes gegen das im Mythos waltende Seinsverständnis«,121 wie Blumenberg am Vorgang des Sehens illustriert: Bei Homer gebe es kein unbeteiligtes Sehen, stets sei der Sehende betroffen und ergriffen, die Welt dränge sich als Angeschaute geradezu auf. ›Theorie‹ dagegen kultiviert jene Distanz, die das Gesehene zu einem Gegen-Stand macht und so die ›Besessenheit‹ durch das in den Blick Genommene unterbindet. Zur Entmächtigung des Mythos gehört die Betrachtung der Welt als ›Kosmos‹, also als eine geordnete und schöne Wirklichkeit, deren Strukturen von uns – etwa mithilfe der Geometrie – gedacht werden können. Diese Vergegenständlichung der Welt macht den Menschen zum unbeteiligten Betrachter. »Selbstand und Gegenstand sind die strengen Korrelate innerhalb dieses Seinsverständnisses; die Auffassungsmöglichkeit des Seienden als Gegenstand ermöglicht den Selbstand – und umgekehrt.«122
Die unterstellte Logizität der Welt ermöglicht und intendiert eine Erkenntnisweise des Menschen, die dem Fluss des steten Wandels dauernde Identitäten abringt. Schon die Durchsetzung der Buchstabenschrift ist für Blumenberg eine »kaum faßbare Distanzierung«123 des Lautflusses menschlicher Rede, ermöglicht sie doch das Auflösen des Redens in seine Elemente und seine neue Zusammensetzung. Und während das Demonstrativpronomen ganz an eine Situation, einen Standort, einen Zeitpunkt gebunden ist – ›dieses Pferd hier‹ – überwinden der unbestimmte und bestimmte Artikel diese Kontextgebundenheit, wenn allgemein von ›einem Pferd‹ oder von der Spezies ›des Pferdes‹ die Rede ist.
Platon hat im Phaidon davon gesprochen, der Versuch, das Wirkliche unmittelbar zu sehen und sich mit allen Sinnen darauf einzulassen, führe zur Erblindung. Daher sei das Denken gezwungen, sich in die Logoi zu flüchten. »Der Mensch mag noch so sehr philosophierend ›sich aussetzen‹, über das Bildhaft-Annähernde, über das vermittelte Sehen ›in‹ und ›an‹ kommt er nicht hinaus. Die ontologische Distanz, wie Plato sie entdeckt, ist nicht ein methodisches Standortproblem oder eine Frage der Entschlossenheit des Denkens und seiner Leistung, sondern es ist die mit unserem Dasein selbst gegebene unaufhebbare ›Jenseitigkeit‹ und Entzogenheit des Seins.«124 Auch Aristoteles vollzieht für Blumenberg mit seiner Metaphysik einen »Rückzug in den Logos«.125 Für Aristoteles ist jedes Seiende ein Kompositum aus einer materialen und sinnlich wahrnehmbaren Hülle und einem nur gedanklich zugänglichen, formalen, unwandelbaren und intelligiblen Kern. Dieses zeitlose ›Wesen‹, diese ousia, diese essentia gilt es zu denken. Mit dieser metaphysischen Richtungsentscheidung ist die »Beheimatung im ›Logischen‹, letztlich: die ontologische Distanz«126 zum Ziel der Philosophie gemacht. Das »auf Distanz hin interpretierte Erkennen«127 entledigt sich dabei dem konkreten ›Rest‹ des Materiellen, der das Singuläre und Individuelle ausmacht, durch Nichtbeachtung. Jedes konkrete Seiende ist nichts als ein Exemplar der ihm innewohnenden Urform. Das nur ihm Zukommende ist der Aufmerksamkeit nicht wert. »Solches Ausgelassensein des Unfragwürdigen impliziert die Entschiedenheit der ontologischen Distanz.«128 Die Erfassung der Substanz als der unwandelbaren intelligiblen Form kommt einer Ausrichtung auf eine Zeit- und Geschichtslosigkeit gleich. Damit aber verstellt sich Aristoteles die Einsicht in die Unselbstverständlichkeit, dass überhaupt Sein ist und nicht Nichts. »Die Bestürzung vor dem Sein als Sein und noch ›diesseits‹ seines So-und-so-seins ist Aristoteles – und mit ihm allem wissenschaftlichen Denken – unbekannt.«129
Mithilfe der ontologischen Distanz wird also ein sicherer Stand eingenommen, freilich um den Preis der Ausblendung jener ursprünglichen Unmittelbarkeit des Seienden als Faktizität und Singularität. Im Grunde greift Blumenberg hier Einsichten seiner Doktorarbeit wieder auf, indem er das Problem der Individuation – dem sich unter schöpfungstheologischen Vorzeichen das Mittelalter zugewendet hat – gegen ein Universaliendenken in Stellung bringt. Für die Profilierung der ontologischen Distanz sind daher die Umbrüche, die programmatischen Einbrüche von besonderer Bedeutung. Der »Zusammenbruch des griechischen Seinsverständnisses« in der spätantiken Gnosis als »Entmächtigung der im ›Kosmos‹ versicherten ›Autarkie‹ des Denkens«130 ist dabei von einer Prägnanz, derer sich Blumenberg noch in der Legitimität der Neuzeit von 1966 bedienen wird. Der Gnosis wird der Kosmos zu einer befremdenden Unheimatlichkeit. Was Ordnung war, wird zum Kerker. Was als Beheimatung im Logos entworfen wurde, ist nun die Fremde, aus der erlöst zu werden nicht in unserer Macht liegt. Die Welt selbst wird zu etwas Dämonischem, der Leib zum Gefängnis, es bleibt nur die Flucht in eine Innerlichkeit, wo die Welt keinen Halt mehr bietet. Der erlösende Gott ist der fremde Gott, die Heimat im Ungekannten. »Nicht kehren die Menschen durch Erlösung in ihr Vaterhaus zurück, sondern eine herrliche Fremde ist aufgetan und wird ihnen zur Heimat«,131 so hat Adolf von Harnack das gnostische Versprechen formuliert.
Diese Art von Umbruch in der Weltorientierung, durch die die errungene ontologische Distanz erschüttert wird, nennt Blumenberg ›Metakinese‹. Für die Frage nach der Geschichtlichkeit der Geschichte stellt sie den Schlüsselbegriff dar. Schon in seiner Doktorarbeit war mit Blick auf die Geschichte von den »Metakinesen ihrer Horizonte«132 die Rede, und noch in den Paradigmen zu einer Metaphorologie wird Blumenberg die »Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen«133 heranziehen. Aber nur in der Habilitationsschrift, wo er von der »Metakinese des Wiklichkeitsbewußtseins« und den »Metakinesen des geschichtlichen Sinnhorizontes«134 spricht, erläutert er diesen Begriff näher. Er schließt mit ihm an die Gnosis-Studien von Hans Jonas an, denen er sich ausdrücklich »sehr verpflichtet«135 weiß. Das meta ist für Jonas die »fundamentale Bewegungskategorie«136 gnostischer Sprache. Bis in den Begriffsgebrauch hinein vollzieht sich somit die Umwertung des Kosmos. Auch bei Blumenberg geht es nicht um die vordergründige Bewegung der ›Geschichte‹ im Sinne einer philosophisch vergewisserten Kontinuität, sondern eben – in den herangezogenen Worten von Jonas – um die Erfassung der »fundamentalen Bewegungskategorie«137 des geschichtlichen Hintergrundes. Ein einziges Mal spricht Blumenberg auch vom komplementären Begriff der »Metastatik« als der Kontinuität von »Sinn von Augenblick zu Augenblick«.138 In einer Fußnote versteckt führt Blumenberg dazu aus, die Mächtigkeit des traditionell Überkommenen in der Geschichte habe eine »ganz bestimmte Wurzel, nämlich den unabdingbaren Zug des geschichtlichen Lebens auf Erhaltung der Kontinuität des Wirklichkeitsbewußtseins« – das sei die üblicherweise in den Blick genommene Geschichte der Philosophie als bruchlos zusammenhängende Entfaltung eines werdenden Selbstbewußtseins –, die »Metakinetik des Geschichtlichen« dagegen ist dem Menschen »als offenkundige unerträglich; sie stellt seine Weltgewißheit infrage. Sie verbirgt sich daher hinter dem Schein der Kontinuität, den die Tradition erstellt.«139 Metakinesen zwingen das Denken, in der Terminologie der Doktorarbeit gedacht, zu ursprünglichem Denken, das ohne das Geländer der Tradition die erlittene geschichtliche Situation zu erfassen hat.
In Momenten des Zusammenbruchs der ontologischen Distanz ereignet sich die Geschichte als Metakinese, als Versagen der traditionellen Orientierung. Der ›Sinn von Geschichte‹ – Heidegger hatte nach dem ›Sinn von Sein‹ gefragt –, also das Verstehenkönnen der Geschichte als Geschichte, ist »nicht aus der Gegenständigkeit, dem verfügten Selbstand heraus zu er-greifen, sondern nur im Sich-stellen, in der Inständigkeit des Übernehmens und Sich-Betreffen-lassens«.140 So abstrakt lassen sich die Erfahrungen philosophisch ausdrücken, von der aktuellen Zeitgeschichte so betroffen gewesen zu sein, dass sich die Welt der Nazis in einen gnostischen Kerker verwandelt hatte und das Heil nur jenseits dieses Terrors zu erwarten war. Schon in der Doktorarbeit ging es Blumenberg auch darum, sein philosophisches Denken auf die Gegenwärtigkeit der geschichtlichen Situation zu verpflichten, sich betreffen zu lassen und darauf ursprünglich zu reagieren. Nun, in der Habilitationsschrift, denkt er es eine Stufe abstrakter: Die ontologische Distanz setzt auf Ruhigstellung des Unheimlichen durch das Erkennen des zum Gegenstand Gemachten. Im geschichtlichen Geschick der andrängenden Situation zeigt sich jedoch, »daß sich der Grundcharakter der unverstellten Erfahrung des Daseins nicht im Erkennen auflösen läßt. Geschick ist das so Einzige, daß in ihm das Erkennen erblindet; die kategoriale Vertrautheit versagt. Das Gegenwärtige ist nicht das schon Gewärtigte, es ist jeder Sicht unverfügbar.«141
Die spätantike Gnosis ist nicht der einzige metakinetische Einbruch in die vermeintliche Kontinuität der Geschichte als Tradition. Auch die christliche Religion stellte eine Unterbrechung der vergewisserten Homogenität der Weltordnung und des Geschichtsverlaufs dar. Von der Ursprünglichkeit der Erfahrung eines personalen Schöpfers war schon in der Doktorarbeit die Rede, nun nimmt Blumenberg diesen Aspekt erneut auf: »›Notwendigkeit‹ als Struktur des logischen Denkens ist … die reine und exemplarische Weise metaphysischer Gewißheitsbildung. Dagegen geht das christliche Weltverständnis von der Wahrheit eines personalen, willentlichen und freien Grundes aus, in dem das Seiende nicht nur faktisch entspringt, sondern auch faktisch in seinem Bestand ›gehalten‹ ist. Das Verhältnis von Gott und Welt kann also nicht mehr als notwendiger ›Zusammenhang‹ verstanden werden.«142 Trotz aller unternommenen Vermittlungsversuche von christlichem und antik-philosophischem Denken – wie sie für Blumenberg idealtypisch von Thomas von Aquin erprobt wurden –, lassen sich Unmittelbarkeitserfahrungen von Sünde, Bekehrung und Gnade nicht beliebig intellektualisieren. Gerade der mittelalterliche Wille zur Kontinuität treibt in Gestalt der scheiternden Synthese von heidnischem Griechentum und Christentum den Bruch hervor, dem die Neuzeit entspringen wird. »Es ist die Spannung zwischen Innerlichkeit und kosmischem Denken, zwischen Ergriffenheit und Logos, zwischen ›amor Dei‹ im augustinischen Sinne und Theologie als Wissenschaft, zwischen substanzialem Seinsverständnis und Faktizitätserfahrung, zwischen gläubiger Entschiedenheit und theoretischer Distanz.«143 Schon in der Habilitationsschrift hat sich Blumenberg den systematischen Entwurf einer Deutung der Entstehung der Neuzeit zurechtgelegt, den er später mit ungleich mehr Aufwand an Quellen ausfüllen wird.
Im Zentrum dieses Entwurfs, wie die Neuzeit auf den Weg gekommen sein mag, steht der allmächtige Gott. Für die einsetzende Lust an den ungehemmten Spekulationen über die göttliche Machtfülle steht ein Verurteilungsdokument aus dem Jahr 1277, das jenseits mediaevistischer Kenntnisse kaum bekannt, für Blumenberg aber von überragender Bedeutung ist. Hier erfährt es eine erste Erwähnung: Der Pariser Bischof Tempier hat 219 aristotelisch inspirierte Thesen als falsch verurteilt, von denen er annahm, sie würden an der Pariser Universität gelehrt. Mit diesem Verurteilungsdekret wurden die »Fliehkräfte der antik-christlichen ›Synthese‹«144 offenbar. Dieses Aufkündigungszeugnis der vermeintlichen Harmonie von christlicher Theologie und antikaristotelischer Philosophie ist für Blumenberg ein Schlüsseltext, um die Dynamik des späten Mittelalters zu verstehen – im Rahmen der Legitimität der Neuzeit wird darauf zurückzukommen sein. Hier genügt die Einsicht, dass sich der Ausgang des Mittelalters in dem umfassenden Sinne charakterisieren lässt als das »Heraustreten der Gewißheitsfrage aus ihrer geschichtlichen ›Implikation‹«.145
Denn der allmächtige Gott zerstört – in der Lesart Blumenbergs – jeden rationalen Gewissheitsanspruch des Menschen. Schon in seiner Habilitationsschrift formuliert Blumenberg seine Sicht auf den mittelalterlichen Willkürgott: »Die Souveränität Gottes kann quer durch alle rationalen Sicherheiten und Wertungen hindurchgehen und darin die Möglichkeiten menschlicher Gewißheit vernichten.«146 Da Blumenberg, wie schon in der Doktorarbeit, den entscheidenden Autor des 14. Jahrhunderts, Wilhelm von Ockham, aus mangelnder Kenntnis noch nicht einzubeziehen vermag, illustriert er hier noch an Luther die belanglos gewordene Seinsgewissheit angesichts der unwägbaren Heilsgewissheit. Gegen diese Zumutung, die rationalen Konstanten durchkreuzt zu sehen, formiert sich die Neuzeit mit ihrem erneuerten und verschärften Gewissheitsanspruch, den Blumenberg idealtypisch an Descartes festmacht.
Und dieser erneuerte Gewissheitsanspruch stellt eine Bekräftigung der ontologischen Distanz dar. Was schon in der Antike einsetzte, gewinnt nun an Unbedingtheit und kann auf die Formel gebracht werden: Die ontologische Distanz ist eine Flucht in die Gewissheit. »Die Energien des modernen wissenschaftlichen und kritischen Denkens entstammen dem spannungsschaffenden Gefälle zwischen dem Stand der verlorenen Gewißheit und der idealen Forderung, die ihr Maß unreflektiert dem Verlorenen entnimmt und es in unendlicher Leistung der Erkenntnis zu überbieten aufgibt.«147 Der Anspruch der cartesischen Rationalität, die Gewissheit der Erkenntnis absichern zu wollen und zu können, entspringt somit der spätmittelalterlichen Infragestellung der ontologischen Distanz. Die Neuzeit ist weder die Fortsetzung des Mittelalters mit anderen Mitteln noch seine kontinuierliche Weiterentwicklung, sondern dessen Widerspruch. Dafür hat Blumenberg jene Formel gefunden, die in der Legitimität der Neuzeit prominent herausgestellt werden wird: Die cartesische Philosophie mit ihrem Programm abgesicherter Gewissheit ist der Form nach »nicht die der Selbstbestimmung, sondern der Selbstbehauptung«.148 Die »Selbstbehauptung der Vernunft vor der Gewißheitsfrage«149 wird zum Initialmoment der Neuzeit.
Wenn Blumenberg in diesem Zusammenhang vom Programm der Aufklärung spricht, geht es ihm dabei nicht vorrangig um eine »anthropologische, ethische oder ästhetische Kategorie, ein Ideal der Haltung, Bildung, Moral oder Politik«,150 also um all das nicht, was gemeinhin mit der Epoche und dem ihr entsprungenen Projekt einer sittlichen Vernunft verbunden wird. Aufklärung ist für ihn der wissenschaftlich sich realisierende Wille zur Gewissheit. In diesem Sinne hat Husserl seine Phänomenologie als den Inbegriff des Anspruchs verstanden, das cartesische Gewissheitsprogramm zu vollenden. Dieser Gedankengang ist mit Blick auf die moderne Wissenschaftsgeschichte ungemein eng geführt und reizt zum Widerspruch, deckt sich aber mit Husserls Verständnis der Phänomenologie als Erfüllung eines im engeren Sinne neuzeitlichen, im weiteren Sinne menschheitlichen Willens zur ontologischen Distanz.
Mit der Vollendung oder dem Scheitern dieser Art von Aufklärung steht die Neuzeit als Epoche auf dem Spiel. Eine geschichtliche Epoche ist die »Einheit einer Gegenwart als Einheit eines Sinnes«.151 Blumenberg blendet politische, moralphilosophische, wirtschaftliche, soziale, kunstgeschichtliche Facetten aus, um den Willen zur Wissenschaft zum Leitfaden der Modernität zu machen. Die neuzeitliche Wissenschaft ist »die – zwar unendliche, aber doch sich verwirklichende – Aufhebung der Sorge des Menschen um seine Gewißheit in wissende Souveränität«.152 Es gibt somit nicht allein existenziell-biographische Momente des ursprünglichen Erfahrens und Reflektierens von geschichtlicher Geschichtlichkeit, es geht auch eine Nummer größer, ist doch die Neuzeit insgesamt eine der »Manifestationen epochaler Ursprünglichkeit«.153 Die Neuzeit als Einheit eines Sinns ist gleichsam eine zu bedenkende ›Situation‹ und Gegenwart. Diese Einsicht wird für den Radius der Gegenwartsanalysen Blumenbergs bestimmend bleiben: Seine großen und weit ausholenden Neuzeitstudien, wie etwa die Genesis der kopernikanischen Welt, sind in diesem Sinne als Epochenvergewisserungen Gegenwartsanalysen. Blumenberg rechnet hier nicht in Jahren oder Jahrzehnten, sondern in Jahrhunderten.
Descartes hatte den spätmittelalterlichen Verunsicherungen eine Erkennntnisgewissheit entgegenzustellen gesucht, die im ersten Schritt in der Unerschütterlichkeit des cogito besteht: Mag mich täuschen wer will, immer dann, wenn ich denke, bin ich mir sicher, dass ich bin. Diese Selbstsicherheit ist nicht täuschbar. Für Descartes bedurfte es dann im nächsten Schritt des Gottesbeweises, um den gütigen Gott als Garanten weiterer verlässlicher Wissensbestände voraussetzen zu können. Damit hatte Descartes für Husserl ein Reich absoluter Gewissheit eröffnet – und gleich wieder verspielt, da er sich nicht auf die Sphäre des Bewusstseins beschränkt hat. Die Phänomenologie wird das zu korrigieren suchen, ist ihr das Bewusstsein doch die einzig mögliche Sphäre unbedingter Gewissheitsbildung.
Blumenberg erläutert ausführlich an Theoriemomenten der Phänomenologie, inwiefern sie die Vollendung der ontologischen Distanz zu sein beansprucht. Insbesondere die ›transzendentale Reduktion‹ suche das reine Bewusstsein zu verwirklichen, abzüglich aller naturhaften Bestimmungen des Ich und seiner Individualität. Worauf es hier allein ankommt: Mit dem Entwurf der Phänomenologie wird die ursprüngliche Geschichtlichkeitserfahrung des Menschen preisgegeben, denn die »transzendentale Subjektivität … bietet ein ›phantastisch idealisiertes Subjekt‹, zu dem man nur gelangen kann, wenn man von vornherein die Faktizität des Daseins ausschaltet«.154 Aufklärung als der Wille zur Verwirklichung absoluter Gewissheit ist eben »wesentlich Aufstand und Behauptung gegen die Geschichtlichkeit des Daseins«.155 Blumenberg dagegen fragt, was es dem Menschen noch bedeuten könne, »eine gegenständlich entrückte Wirklichkeit ›rein‹ zu erfassen, eine Region eidetischer Notwendigkeit zu erschließen, da ihn doch seine ›Notwendigkeit‹ schon ohne Besinnung gefordert hat«.156 Blumenberg sucht der geschichtlichen Erfahrung konkreter Faktizität die Treue zu halten. Was Husserl in Aussicht stelle, sei doch »die letztentdeckte und letztendeckbare, die ›fernste‹ Region« des Erlebten: »Die radikale Reflexion auf die absolute Gewißheitssphäre des reinen Bewußtseins, die von Husserl geübt wird, ist geradezu das Auf-Distanz-bringen dessen, was uns im schlichten Leben am nächsten und unablösbarsten erscheint, nämlich unserer Innerlichkeit gerade als der unsrigen, eigensten und wenigst allgemeinen in ihrem Hier und Jetzt.«157 Jahrzehnte später, in der Beschreibung des Menschen, wird Blumenberg die mangelnde Berücksichtigung einer Anthropologie durch die Phänomenologie anmahnen und zu korrigieren suchen. Zu Beginn seiner Husserl-Rezeption ist es die Geschichtslosigkeit der Phänomenologie, die er kritisiert.
Dabei hat Husserl in seiner Spätphilosophie der Krisis-Schrift viel spekulativen Aufwand betrieben, die Geschichte der Wissenschaft als einen ideellen Kontinuitätswillen zu beschreiben. Aber das ist eben, in der Terminologie Blumenbergs, lediglich eine Philosophie der ›Geschichte‹ als eines – zwar gefährdeten, aber stets reformierbaren – Vollstreckungszusammenhangs. Von Metakinesen der Geschichte als jenen Wenden, die den gesamten Wirklichkeitsbezug betreffen und als geschichtlicher Hintergrund den Wandel der Epochen bedingen – trotz aller vordergründigen Kontinuität etwa in der Terminologie –, ist bei Husserl nicht die Rede. Für Husserl ist der Gang der Wissenschaftsgeschichte ein methodisch zu sichernder Prozess, der über Generationen führt und die absolute Gewissheit als Ziel in Aussicht stellt.
Verheißung und Zumutung hängen dabei eng zusammen. Denn ein solcher »Aufschub auf die unendlich zukünftige absolute Gewißheit hin verliert seinen Sinn, indem sich die Möglichkeit des Daseins als endliche erfährt, angewiesen auf die faktische Erschlossenheit des Seins für die jemeinige Existenz«.158 Dem einzelnen Menschen fehlt es an Zeit, in den Genuss eines sich über unzählbare Generationen hinziehenden Gewissheitsprojektes zu kommen. Wo von unendlichen Aufgaben geredet wird, verliert die konkrete Geschichte ihren Sinn. Damit erweist sich aber die Phänomenologie als eine Vermeidungsstrategie: »Phänomenologisch stehen die Begriffe ›Welt‹, ›Zeit‹ und ›Unendlichkeit‹ in engstem wesentlichen Zusammenhang; das Phänomen, das einzig diesen Zusammenhang infragestellen kann, nämlich die ›Geschichte‹, ist ausgelassen.«159
Im Schlussabschnitt seiner Habilitationsschrift setzt Blumenberg dem Unendlichkeitsentwurf der Phänomenologie die Endlichkeit des Denkens entgegen, das sich nicht in die methodische Reinigung von seiner geschichtlichen Situation fügt. Gegen die Vollendung der ontologischen Distanz gelte es, »die ganze Gewalt der aufgebrochenen geschichtlichen Erfahrung in ihrer unüberschreitbaren Endlichkeit zur Geltung«160 zu bringen. Mit dem Versagen der Phänomenologie vor der radikalen Erfahrung der Geschichtlichkeit als unverfügbarem Geschick scheitert die Moderne als Wille zur absoluten Gewissheit. Denn Geschichte ist der »Titel der Grunderfahrung, an der sich der Gewißheitsentwurf der Aufklärung gebrochen hat«,161 und die »Unendlichkeit« ist »dem philosophischen Anspruch als einem geschichtlichen gerade abgeschnitten«.162
Im Gegensatz zum späteren Versuch, die Neuzeit gegen Infragestellungen ihrer Legitimität zu verteidigen, diagnostiziert Blumenberg hier noch das Scheitern der Neuzeit unter dem Stichwort der ontologischen Distanz. Auf einen Satz gebracht hat sich die Neuzeit an ihrem Gewissheitsanspruch verhoben und die Form der Theorie im Allgemeinen und der Philosophie im Besondern mit einer nicht zu erfüllenden Forderung überfrachtet. Der neuzeitliche, von Descartes ausgehende Gewissheitsentwurf »ist zusammengebrochen«,163 somit sind »Ursprung und Krisis der Neuzeit … ein Thema«.164
Blumenberg hat seine Habilitationsschrift, über die akademisch erforderlichen Exemplare hinaus, nicht der Öffentlichkeit übergeben. Im Marbacher Literaturarchiv ist dem dortigen Exemplar ein von ihm selbst angefertigter Zettel beigefügt: Er enthält die Zeichnung eines Totenkopfes und den Vermerk: »mit grosser Vorsicht zu geniessen!«, als hätte das Schriftstück etwas Toxisches an sich. In der Tat ist der Blick auf diese Arbeit von der Warte des später Ausformulierten aus ambivalent. Blumenberg argumentiert in dieser Schrift noch in den Denkbahnen der Ontologie: »Geschichte ›reicht‹ nicht nur in das Sein hinein, sondern sie ist dessen ›Wesen‹.«165 Er hat den Weg der Ontologie nach seiner Habilitation nicht weiter verfolgt und statt vom Sein vielmehr von den Wirklichkeiten, in denen wir leben, gesprochen. Während Heidegger sich nach seiner ›Kehre‹ ganz und gar dem Sein denkerisch verpflichtet zeigte und den dazu in Sein und Zeit eingeschlagenen Umweg über das Dasein des Menschen als exemplarisches Seinsverständnis hinter sich lassen sollte, schlug Blumenberg den umgekehrten Weg ein. Vom Sein war bei ihm immer weniger, vom Menschen immer mehr die Rede. Husserl wird in der Habilitationsschrift einer grundlegenden Kritik unterzogen, wenngleich er zu einem Referenzautor der folgenden Jahre aufsteigen wird, vor allem dank des von ihm bereitgestellten Begriffs der ›Lebenswelt‹. Die Neuzeit gilt Blumenberg noch als gescheitert, wobei er schon zwei Jahre später, in einem Zeitungsartikel für die Düsseldorfer Nachrichten ein »Plädoyer für diese Zeit« halten und mit ihm den »Versuch einer Ehrenrettung für eine schlecht beleumundete Epoche«166 unternehmen wird. Die spätere Verteidigung der Neuzeit kündigt sich an. Besaß die Doktorarbeit die Souveränität einer Argumentation auf dem Fundament sicherer Mittelalterkenntnisse, stellt der erste Auftritt auf der Bühne der neuzeitlichen Philosophie eher einen Zwischenschritt dar. Dennoch wird ein Aspekt uneingeschränkt gültig bleiben: die Einsicht in die Metakinese des geschichtlichen Hintergrundes. Von daher ist die Habilitationsschrift auch für den heutigen Leser durchaus zu genießen, aber eben mit Vorsicht.