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Dem literarischen Nihilismus auf der Spur

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Hans Blumenberg hat die Bühne der akademischen Publizistik als Stilist betreten. Man übersieht es leicht, denn der Anfang des ersten von ihm veröffentlichten Aufsatzes »Die sprachliche Wirklichkeit der Philosophie«, 1947 im zehnten Heft der Hamburger Akademischen Rundschau erschienen, ist durchaus sperrig.218 Er beginnt mit einem Satzungetüm: »Wer heute im wachen und verantwortlichen Bewußtsein, daß bei der Erwerbung ebenso wie bei der Erweiterung der Erkenntnisse seines Fachgebietes die Fragen einer ersten und allgemeinen Grundlegung unseres Erkennens und unseres Weltverhältnisses überhaupt nicht als unbeachteter und unbearbeiteter Block liegen gelassen werden dürfen, die Bemühung philosophischer Klärung und die Auseinandersetzung mit der bis auf die Gegenwart geleisteten Ausarbeitung dieser Probleme auf sich nimmt, stößt auf einen nicht selten entmutigenden Widerstand, eine Sperrigkeit des philosophischen Gedankengutes, die nur zu häufig von den Entmutigten als Exklusivität oder Esoterik des philosophischen Denkens gedeutet werden.«219 Kein Lektorat, so scheint es, hätte einen solchen Satz durchgehen lassen dürfen. Er ist zu lang, wirkt gestelzt und überfordert die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers. Also ein verkrampfter Anfang? Eine ungelenke Formulierung eines noch gerade mit seiner Dissertation beschäftigten Jungakademikers? Kaum etwas weist auf den späteren großen Stilisten hin, auf den Essayisten und Träger des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa. Dabei führt dieser Eröffnungssatz bis in seine Form hinein präzise vor, was er behauptet: Der sprachliche Duktus der Philosophie – so die gebotene Diagnose – grenzt nicht selten an Unverständlichkeit. Terminologie und Ausdrucksweise erzeugen eine Exklusivität, die den nichtkundigen Leser ausschließt. Die Mühen, die man als Leser mit Blumenbergs erstem veröffentlichten Satz hat, gleichen der Anstrengung, philosophischen Argumentationen zu folgen. Form und Aussage kommen bereits gleich zu Beginn bei Blumenberg zur Deckung.

Sein erster öffentlicher Beitrag fragt nach den Möglichkeiten und Notwendigkeiten philosophischer Sprache. Gegenüber der Kontinuität einer philosophischen Tradition, die trotz grundlegender Wandlungen ihres Denkens kaum begriffliche Neubildungen kenne, hebt Blumenberg die »Eruption begrifflicher Bildungen«220 in neuerer Zeit hervor. Man mag dabei an Heidegger denken, dessen Philosophie von Sein und Zeit – wie sich bereits gezeigt hat – nicht zuletzt ein Sprachereignis darstellt: Die Rede vom ›In-der-Welt-sein‹, vom ›Dasein‹, vom ›Existenzial‹, vom ›Sein zum Tode‹ diene, so Heidegger, der »Auflockerung der verhärteten Tradition«, um den »ursprünglichen Erfahrungen«221 Ausdruck verleihen zu können. Doch Blumenberg kommt in seiner ersten Publikation nicht auf Heidegger zu sprechen, sondern hebt Husserl hervor, dessen deskriptive Phänomenologie durch »Wortbildung Sacherklärung anzuregen« unternehme: Soll das Phänomen also beschrieben und sprachlich erfasst werden, »so kann man auf den Ausgangsbegriff nicht mehr einfach zurückgreifen«, vielmehr werden Ausdrücke, »die zu Beginn der Untersuchung zur Bezeichnung des Phänomens genügen, im Verlaufe derselben ›fließend und vieldeutig‹«.222 Die Trägheit und Schwere einer in ihrer Traditionalität gefangenen Sprache gilt es zu überwinden, um jene Unmittelbarkeit der Erfahrung nicht preiszugeben, die Blumenberg und seine Generation umtreibt.

Nun ist Blumenberg nicht zu einem Schöpfer neuer Begrifflichkeiten geworden. Und die frühe Rede von der ›Ursprünglichkeit‹, die sich im späteren Werk verliert, ist nicht ohne suggestive Kraft. Gelegentlich spricht Blumenberg anfangs auch von »autochthoner Auslegung«223 und vom »autochthonen Phänomen«, von der »originären Bedeutsamkeit« der Geschichte, die in das »lebendig-gegenwärtige Erfahrungsganze«224 hineinreiche. Mit Heidegger gesprochen, denkt Blumenberg eine ›Eigentlichkeit‹ der Geschichtlichkeit, die uns als Geschick ereilt und der wir uns zu stellen haben, wenn wir uns nicht in die ›Uneigentlichkeit‹ eines bloß traditionell durchbuchstabierten Selbstverständnisses flüchten wollen. Die existenzielle Emphase der Rede von der Ursprünglichkeit, die mit systematischer Unschärfe erkauft zu sein scheint, mag rügen, wer nicht vor der Not steht, unfassliche Erfahrungen bewältigen zu müssen.

Um der Sprachnot nicht zu erliegen, hat sich Blumenberg der Literatur anvertraut, zuerst als Leser, dann als Rezensent und Essayist. In etlichen Vorträgen, deren Manuskripte erhalten geblieben sind, und in Feuilletonbeiträgen unter anderem für die Düsseldorfer Nachrichten und die Bremer Nachrichten hat Blumenberg – zum Teil unter dem Pseudonym ›Axel Colly‹ – sich mit der Literatur von Jean-Paul Sartre, Ernst Jünger, Paul Claudel, Graham Greene, Hans Fallada, Aldous Huxley, Jules Verne, William Faulkner, Henry James, Marcel Proust, Ernest Hemingway, Thomas Mann und anderen auseinandergesetzt. In kleinen Beiträgen, in denen er etwa der Zeitnot der Studenten nachgeht, nach der medizinischen Auswirkung von Kopfschmerztabletten, Schlafmitteln und Vitaminpräparaten fragt, sich zur Mode der neuen Taschenbücher und der Comics äußert, an den 750. Todestag von Moses Maimonides und an den 200. Jahrestag des Erdbebens von Lissabon erinnert, übt sich früh der Essayist. Ein Teil dieser Aufsätze, Rezensionen und journalistischen Fingerübungen sind inzwischen veröffentlicht.225 Sie erlauben einen Einblick in die Versuche des jungen Blumenberg, »dem Repräsentativen« seiner Welt »auf die Spur zu kommen«,226 wie es in einem Brief an Alfons Neukirchen von der Feuilleton-Redaktion der Düsseldorfer Nachrichten heißt.

Die philosophischeren Gegenwartsanalysen dieser schriftstellerischen Miniaturen laufen unter einem Stichwort, das inzwischen die Patina einer verblassten Emphase angenommen hat, aber seinerzeit als Fluchtpunkt der Selbstverständigungen auszumachen ist: ›Nihilismus‹. »Jede geschichtliche Epoche«, führt Blumenberg dazu aus, »steht auf einem Boden von Gewißheit, der für sie fraglos und selbstverständlich gültig ist und von dem her alles Wirkliche, Echte, Verbindliche als solches seinen Bestand hat. Treten nun aber im Zentrum des Bewußtseins Erfahrungen auf, die sich mit dem bis dahin fraglosen nicht vereinigen lassen, so kommt es zu einer Krise der fundamentalen Wirklichkeitsgewißheit, und diese Krise wird um so umfassender und akuter sein, je bedrängender und unabweisbarer jene Erfahrungen sind. ›Nihilismus‹ ist der Name der universalen und radikalen Krise der Gewißheit überhaupt.«227 Insofern für den jungen Blumenberg die Neuzeit als Epoche mit dem Willen zu absoluter, methodisch-wissenschaftlich abgesicherter Gewissheit identisch war, ist mit dem Scheitern dieses Projekts die Epoche selbst fragwürdig geworden. Es gibt keinen tragenden geschichtlichen Boden mehr, auf dem sicher zu stehen man voraussetzen kann. Die Destruktion eines geschichtlich vermittelten Selbstverständnisses teilt Blumenberg mit seiner Generation: »Das Mark des elementaren Selbstvertrauens ist uns angefault.«228

In der expressiven Kraft der Literatur findet Blumenberg, was er in der Philosophie vermisst. Für ein Verstehen von Wirklichkeit, das die »ruinanten Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts« aufzufangen habe, biete die »moderne Kunst und Dichtung die adäquatesten Ansätze; sie ist der philosophischen Analyse fast überall weit vorausgeeilt und hat Phänomene und Probleme sichtbar gemacht, an die sich das Denken nur allmählich heranzutasten vermag«.229 Ich möchte den Einfluss der Literatur auf den jungen Blumenberg an zwei Beispielen schlaglichtartig beleuchten. Aus der Fülle der Lektüren und Besprechungen ragen zwei Autoren heraus: Ernst Jünger und Franz Kafka.

Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, 1939 erschienen, ist ein prägnantes Beispiel für die ungeheure Wirkung, die literarische Werke auf Blumenberg zu haben vermochten, wenn sie die Unfasslichkeit geschichtlicher Situationen zu erschließen halfen. Schon die Anstöße, die Jünger bewogen, Auf den Marmorklippen zu verfassen, haben etwas Romanhaftes: Er war zu dem Buch durch zwei Ereignisse angeregt worden: Heinrich von Trott zu Solz hatte ihn im Spätsommer 1938 besucht und den vergeblichen Versuch unternommen, Jünger und dessen Bruder für den Widerstand gegen Hitler zu gewinnen; und bei anderer Gelegenheit hatte Jünger nach einem rauschhaften Gelage im Wachtraum ein flammendes Inferno ausgebombter Städte als Vision der Zukunft phantasiert.230 Jünger erzählt in seinem daraufhin verfassten Roman mit Schwermut von einer gerade erst vergangenen Zeit, deren Glück von dem sich ausbreitenden Terror verdrängt worden ist, einer rohen Gewalt, die vom ›Oberförster‹ angeführt wird. Gegen die Diktatur erhebt sich ein Aufstand, der jedoch scheitert. Wichtiger als Einzelheiten der Handlungen sind hier die Bilder, die Jünger dem Leser als Abbild der Zustände im Dritten Reich angeboten hat. Man hatte nicht für möglich gehalten, dass derlei überhaupt im Jahr 1939 publizierbar war. Zum Eindringlichsten des Romans gehört die Schilderung der Barbareien bei ›Köppelsbleek‹, was soviel heißt wie ›Schädelsbleiche‹, von Zeitgenossen aber oft – mit Blick auf Joseph Goebbels – auch als ›Goebbelsbleek‹ gelesen wurde. Jünger beschreibt einen Kahlschlag im Wald, der zu einer »Stätte der Unterdrückung«231 geworden ist. Über dem Scheunentor eines dort befindlichen Gebäudes prangt ein festgenagelter Schädel, und ein ›Männlein‹, ein Liedchen pfeifend, ist damit beschäftigt, Menschenleiber auszubeinen. Diese Unorte sind die »Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis sich erheben und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht: Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfener Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt«.232 Dolf Sternberger hat später davon berichtet, wie diese Schilderung der Welt der Konzentrationslager und des Geheimterrors auf ihn wirkte: »In Chiffren war unseren elenden Beherrschern das Urteil gesprochen. Man rieb sich die Augen, es schien fast unglaublich, daß dergleichen möglich war.«233

Es gehört, wie bereits erwähnt, zu den Ungeheuerlichkeiten von Jüngers Buch, dass es überhaupt erscheinen konnte und der Autor unbehelligt blieb. Hitler, heißt es, habe seine schützende Hand über den Autor der kriegsverherrlichenden Schrift In Stahlgewittern gehalten.234 »Auf den Marmorklippen«, erinnert sich Blumenberg, »hatte für die Zeitgenossen und in deren Erinnerung seine Einzigartigkeit über allen Inhalt und erst recht über alle Absichten des Autors hinaus durch den Zeitpunkt seines Erscheinens. Niemand, der es 1939 las, wird über den Zweifeln am Nachfolgenden aus derselben Feder die Präzision vergessen haben, mit der Ernst Jünger den ›Zeitpunkt‹ traf, der dieser Bilder bedurfte.«235 Blumenberg hat später ambivalent über Jünger geurteilt. So umstritten die geistige Haltung und der literarische Rang Jüngers auch seien, das Werk sei von »einzigartiger Prägung«.236 Jünger sei der »bedeutendste deutsche Tagebuchschreiber«237 des 20. Jahrhunderts, auch wenn er von Unsicherheiten im Geschmack heimgesucht werde, was stilistisch dem Leser noch zugemutet werden dürfe.238 Zwar sei Jünger »oft ein erleuchteter Aufspürer von Analogien in Ober- und Unterwelten, in entfernten Kulturen und distanten Epochen«,239 seine Schwäche aber seien die Differenzen. Er liebe die Metapher, ohne die Kraft zu ihr zu besitzen.240 Er sei oftmals »mit barometrischer Sensibilität der Realität voraus«241 gewesen, auch wenn er zu einem »zuweilen unangenehm raffinierten Platonismus«242 neige. Seine späten Reisenotizen gehören für Blumenberg zum »Kostbarsten der Gattung«.243 Vor allem aber ragen die Marmorklippen als Jüngers »bedeutendstes Werk« und »fast … vollendete Dichtung«244 mit den Bildern von Terror und Gewalt, Blut und Verwesung, Mord und Brand, aber auch Widerstand heraus. Für Blumenberg ist Jünger ein Autor, der der »Vernichtung unserer alten Welt«245 nachgespürt und ihr Ausdruck verliehen habe, dem Nichts und somit dem Nihilismus, aber auch der Selbstbewahrung. Die in den Marmorklippen geschilderte Schinderwelt des Terrors von Köppelsbleek sei »nihilistische Anarchie«.246 Dafür einen Ausdruck gefunden zu haben, ist schon Selbstbehauptung gegen die drohende Sprachlosigkeit. Auch wenn der Terror dadurch nicht abgewendet werden konnte, ist die gelungene Sprachfindung nicht nichts. Die Marmorklippen zeichnen sich für Blumenberg daher »durch den Zeitpunkt des von ihnen gespendeten Trostes«247 aus. Auf die Ungeheuerlichkeit einer zeitgeschichtlichen Ursprünglichkeitserfahrung, den Einbruch des Terrors in unvorstellbarem Maße, hatte Jünger mit einem Buch reagiert, das so ursprünglich erschien wie das Geschilderte.

Während sich in Blumenbergs Promotionsschrift einzelne Passagen im Duktus der Sprache Heideggers als Versuche lesen lassen, Erfahrungen des Dritten Reichs zu artikulieren, steigerte bereits die Habilitationsschrift die Krise der Gegenwart in einen epochalen Maßstab. Das findet sich auch bei den Lektüren wieder. Mag Jünger der Autor der Stunde gewesen sein, ist es Franz Kafka, dem Blumenberg eine grundsätzlichere Gegenwartsanalyse verdankt: »Unter den deutschen Schriftstellern dieses Jahrhunderts ist es nur einem gelungen, ein Werk zu schaffen, das mit einer Zeitzündung von fast zwei Jahrzehnten über die ganze Welt hin als gültige Gestaltung unserer Situation, der nihilistischen Situation, angesehen worden ist«,248 heißt es in einem Vortrag Blumenbergs aus dem Jahr 1950. Die Bedeutung, die der junge Blumenberg Kafka zumisst, steht in keinem Verhältnis zu den überschaubar wenigen Äußerungen, die er über ihn veröffentlicht hat: In einem Vortrag von 1950 »Das Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur der Gegenwart« kommt er auf ihn zu sprechen, in den Düsseldorfer Nachrichten erschien 1952 ein kurzer Zeitungsartikel unter dem Titel »Der absolute Vater«, dessen längere Fassung kurz danach in der katholischen Zeitschrift Hochland abgedruckt wurde. Zum 70. Geburtstag Kafkas am 3. Juli 1953 hat er seiner in dem Zeitungsartikel »Der Antipode des Faust« in den Düsseldorfer Nachrichten gedacht. In späteren Büchern gibt es kein einzelnes Kapitel zu Kafka, keine prägnanten Interpretationen, lediglich eine anderthalbseitige Erwähnung in der Matthäuspassion.249 In Arbeit am Mythos wie auch in den Höhlenausgängen eröffnen Vorsatzzitate Kafkas den jeweils ersten Teil. Erst im Nachlassband Die nackte Wahrheit findet sich ein weiterer, bemerkenswerter Text über ihn von gut drei Seiten. Das alles ist nicht viel.

Kafka hat dem jungen Blumenberg mit der Kraft seiner Sprache den nihilistischen Ton erschlossen, auf den die bis ins Absurde monströsen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gestimmt waren. »Was bei Kafka für das Verständnis des geschichtlichen Phänomens des Nihilismus mit aller Deutlichkeit zutage tritt, ist eben dies, daß der nihilistische Grundvorgang, der Seinszerfall einer ganzen Weltwirklichkeit, ihre Entwirklichung, immer geschieht durch das Ereignis eines sich ankündigenden Absoluten, einer unbedingten Erfahrung, die die gewohnte Welt als Paradox zerbricht.«250 Was hier in philosophisch resümierender Sprache wiedergegeben wird, besitzt bei Kafka die Konkretheit absurder Situationen, in denen die Protagonisten seiner Romane und Erzählungen gefangen sind: So wacht Gregor Samsa in der Erzählung »Die Verwandlung« morgens in seinem Bett auf und sieht sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt. In dem Romanfragment Der Verschollene, unter dem Titel Amerika postum veröffentlicht, wird der 17-jährige Protagonist Karl Roßmann nach Amerika ausgewiesen, nachdem er von einem Dienstmädchen verführt worden ist. In der Fremde muss er es immer wieder erleiden, erneut verstoßen zu werden. In dem Roman Der Prozess verhaftet und verhört man Josef K., Prokurist einer Bank, am Morgen seines dreißigsten Geburtstags – ohne dass er etwas Böses getan hätte. Er darf sich zwar noch frei bewegen, wird aber angeklagt, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Ein ungreifbares Gericht waltet über ihn. Es gibt keine Anklageschrift und nur ins Leere laufende Verteidigungsbemühungen. Einen Tag vor seinem 31. Geburtstag wird Josef K. von zwei Männern abgeholt und in einem Steinbruch wie ein Hund erstochen. In dem Romanfragment Das Schloss trifft der Landvermesser K. bei Dunkelheit und Nebel wie aus dem Nichts in einem winterlichen Dorf ein und übernachtet in einem Wirtshaus. Er sei vom Schlossherrn bestellt, gibt er zur Auskunft. Doch die Bürokratie auf dem Schlossberg ist undurchsichtig, es gelingt K. auch nicht, zum Schloss vorzudringen. Was es mit dem Schloss auf sich hat, bleibt im Dunkeln. Bevor sich etwas klären könnte, bricht der Roman ab.

Kafkas Werk lässt sich nicht auf einen Aspekt reduzieren, und doch zeigt schon die Skizze der Grundrisse einiger seiner Werke an, dass sich die erlebte Ohnmacht aufgrund verborgener, ungreifbarer Mächte als das Trauma von Kafkas Figuren erweist. »Unter allen Dichtern«, hat Elias Canetti resümiert, »ist Kafka der größte Experte der Macht. Er hat sie in jedem ihrer Aspekte erlebt und gestaltet.«251 Blumenberg ergänzt, in seinen Kategorien der ontologischen Distanz, Kafkas Romane drückten die »Erfahrung des Inobjektiven« aus: »Das Wirklichste, nämlich das, wovon unser Schicksal im tiefsten bestimmt wird, ist gleichzeitig am wenigsten objektivierbar252 Damit aber scheitert das Projekt der Moderne, Wirklichkeit auf Distanz zu setzen und absolute Erkenntnis zu erlangen. Die Endlichkeit gewinnt Oberhand. »Der Mensch ist das Wesen«, heißt es in dem Vortrag »Die Krise des Faustischen im Werk Franz Kafkas«, »das sich an der Welt erschöpft, das Wesen der Vergeblichkeit.«253 Das Goethe-Jahr zum zweihundertsten Geburtstag des Dichters war kaum vergangen, als Blumenberg Kafka als Antipoden des Faust vorstellte: »In Kafkas apokalyptischen Bildern geht das Zeitalter zu Ende, dessen Selbstbewußtsein sich im Symbol der Faustgestalt wiederfand.«254

Damit nicht genug. Als 1952 aus dem Nachlass der Abdruck eines in seiner handschriftlichen Fassung hundertseitigen Briefes von Kafka an seinen Vater aus dem Jahr 1919 der Öffentlichkeit übergeben wurde, zeigte sich Blumenberg überwältigt: »Dies ist wirklich eines der wesentlichen Dokumente menschlicher Existenz überhaupt!«,255 schreibt er mit selten verwendetem Ausrufezeichen. Noch heute, aus der Distanz von hundert Jahren, beeindruckt der Brief als Selbstanalyse eines schonungslos offengelegten Daseinskonflikts. Es lohnt, einen ausführlichen Blick auf diese Selbstoffenbarung und Blumenbergs Deutung zu werfen, da dieses umfangreichste autobiographische Schriftstück Kafkas Blumenberg dazu dient, sich über wesentliche Motive seiner später entfalteten Philosophie klar zu werden. Seine Kommentare gleichen einem Vorecho auf Kommendes.

»Liebster Vater«, beginnt Kafka seinen Brief, »Du hast mich letzthin einmal gefragt warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wusste Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als dass ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte.«256 Der Brief ist Teil einer Suchbewegung, Worte für jene Furcht zu finden, die ihn verstummen lässt.

Schon das Nebeneinander von Vater und Sohn fiel zu Ungunsten des Kindes aus. Hermann Kafka, zur Zeit der Niederschrift des Briefes 67 Jahre alt, stellt für den Sohn den Inbegriff an »Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis«257 und so fort dar, Franz dagegen war schon als Kind lediglich »ein kleines Gerippe«.258 Der physischen Übermacht des Vaters folgte der Anspruch, die Regeln diktieren zu können. Die Kindheit des Sohnes unter dem Kommando des Vaters war damit vorgezeichnet: »In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt.«259

Der Vater herrschte mit strenger Hand und als ein Despot, unbekümmert von seiner eigenen Willkür, die bis zur Widersprüchlichkeit reichte. Er hielt sich, etwa bei Tisch, nicht an die Gebote, die er selbst erließ. Seine Macht schien daher geprägt durch »das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben«.260 Uneinschätzbarkeit ist das Kennzeichen dieser Macht. Auch der junge Franz vergriff sich mitunter im Ton. »Du aber schlugst mit Deinen Worten ohne weiters los«,261 ohne Reue und Zurücknahme. Beistand von der Mutter kam nicht. Für sie, für das Kind das »Urbild der Vernunft«, findet er die Wendung, sie habe die »Rolle eines Treibers in der Jagd«262 eingenommen und ihn somit dem Vater ausgesetzt und zugeführt, anstatt ihn zu schützen. »Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, in einen, wo ich, der Sklave lebte, unter Gesetzen, die nur für mich erfunden waren und denen ich überdies, ich wusste nicht warum, niemals völlig entsprechen konnte, dann in eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der Du lebtest, beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und dem Ärger wegen deren Nichtbefolgung, und schliesslich in eine dritte Welt, wo die übrigen Leute glücklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten.«263

Zur Macht gehört die Strafe. Kafka findet sich vor seinem Vater in einem »Proceß, in dem Du immerfort Richter zu sein behauptest«.264 Die Strafen sind erdrückend, auch ohne Schläge. »Es ist auch wahr, dass Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne war für mich fast ärger. Es ist, wie wenn einer gehenkt werden soll. Wird er wirklich gehenkt, dann ist er tot und es ist alles vorüber. Wenn er aber alle Vorbereitungen zum Gehenktwerden miterleben muss und erst wenn ihm die Schlinge vor dem Gesicht hängt, von seiner Begnadigung erfährt, so kann er sein Leben lang daran zu leiden haben.«265

Zu den Schlüsselszenen des Briefes gehört eine nächtliche Bestrafung, die sich Kafka eingebrannt hat. »Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiss nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche«, ein umlaufender Balkon von Häusern zum Innenhof, »und liessest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn.«266 Er habe einen Schaden davongetragen. »Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, dass der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und dass ich also ein solches Nichts für ihn war.«267

Das »Gefühl der Nichtigkeit«268 reicht bis zu der Vermutung, »dass du mich einfach niederstampfen wirst, dass nichts von mir übrig bleibt«.269 Kleine Gesten der Zuwendung, ein Lächeln etwa, konturierten nur die vorherrschende Kälte und Härte, überschwemmten den Sohn aber mit Gefühlen der Dankbarkeit. »In solchen Zeiten legte man sich hin und weinte vor Glück und weint jetzt wieder, während man es schreibt.«270 Die angedeuteten Zuneigungen scheinen so unverdient, dass Kafka präzise ins Unpersönliche wechselt: ›man‹, nicht ›ich‹, weinte. Es ist eine Existenz der Schuld. In der handschriftlichen Fassung des Briefes ist ›Schuld‹ unterstrichen, als einziges Wort neben der Ortsangabe ›Schelesen‹.271 Kafka sieht sich einem Absolutismus ausgesetzt, der ihn aus Ohnmacht verstummen lässt: »ich verlernte das Reden«.272

In seinem Leben unternahm Kafka gleich mehrere Fluchtversuche. Der erste zaghafte Vorstoß, der Machtsphäre zu entkommen, war die Ablenkung versprechende Mitarbeit im väterlichen Geschäft für ›Galanteriewaren‹. Es gab viel zu sehen und zu tun, doch der Schatten der Despotie holte Franz ein, als er zusehen musste, wie sein Vater mit den Angestellten umging. Über einen lungenkranken Gehilfen sagte er wiederholt: »Er soll krepieren, der kranke Hund«.273 So wurde auch die Geschäftswelt jenseits des Privaten der Familie zum Einflussreich seines Vaters. Auch die Rettung Kafkas in ein praktiziertes Judentum misslang, da der Vater nur Verachtung dafür zeigte. Der erste ernsthafte Fluchtversuch war das Schreiben. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs dachte Kafka daran, nach Berlin zu gehen, um dort als freier Autor leben zu können. Doch bis in seine Texte hinein holte ihn die Macht des Vaters ein. »Mein Schreiben handelte von Dir«, bekennt er in seinem Brief, »ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur dass er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief.«274 Schließlich schlug auch der Versuch fehl, durch Heirat ein eigenes Leben aufzubauen. An seiner Schwester Elli hatte Kafka beobachtet, wie sie durch Ehe und Kinder »fröhlich, unbekümmert, mutig, freigebig, uneigennützig, hoffnungsvoll«275 wurde. Zwei Mal verlobte sich Kafka mit Felice Bauer und entlobte sich wieder. Im Sommer 1919, im Jahr des Briefes an den Vater, hatte sich Kafka mit Julie Wohryzek verlobt, was der Vater mit der Unterstellung kommentierte, sie habe wohl irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, die seinen Sohn bewogen habe, sie heiraten zu wollen. Es gäbe doch andere Möglichkeiten, er würde seinen Sohn sogar begleiten. »Tiefer gedemütigt hast Du mich mit Worten wohl kaum«, schreibt Kafka über dieses Angebot eines Bordellbesuchs, »und deutlicher mir Deine Verachtung nie gezeigt.«276 Mit dem Scheitern der Verlobung mit Julie Wohryzek endete »der grossartigste und hoffnungsreichste Versuch Dir zu entgehn, entsprechend grossartig war dann allerdings auch das Mißlingen«.277

Kafka misslang alles, was seinem Vater gelungen zu sein schien. Für diese Diskrepanz der Leistungskraft und der Erfolge findet er im Brief ein Bild, das in seiner ausweglosen Härte einem seiner Romane hätte entsprungen sein können: »Es ist so wie wenn einer fünf niedrige Treppenstufen hinaufzusteigen hat und ein zweiter nur eine Treppenstufe, die aber so hoch ist wie jene fünf zusammen; der Erste wird nicht nur die fünf bewältigen, sondern noch hunderte und tausende weitere, er wird ein grosses und sehr anstrengendes Leben geführt haben, aber keine der Stufen, die er erstiegen hat, wird für ihn eine solche Bedeutung gehabt haben, wie für den Zweiten jene eine, erste, hohe, für alle seine Kräfte unmöglich zu ersteigende Stufe, zu der er nicht hinauf und über die er natürlich auch nicht hinauskommt.«278

Nicht einmal der eigene Leib bleibt Kafka als Besitz. Als in jedem Sinne enterbter Sohn »wurde mir natürlich auch das Nächste, der eigene Körper unsicher«,279 das Blut, das der Tuberkulosekranke nun ausspuckt, zeigt den Zusammenbruch auch der letzten physischen Bastion an. Eine Aussicht bietet der Brief an den Vater nicht. Mehr zu erlangen ist nicht, als dass er »uns beide ein wenig beruhigen und Leben und Sterben leichter machen kann«.280 Kafka hat den Brief seinem Vater nie ausgehändigt. Er sei doch nichts als das »Rütteln der Fliege an der Leimrute«.281

Wie ist dieses Dokument eines Lebenskonflikts, dieses Drama zwischen Vater und Sohn zu lesen? Schon Max Brod, der Freund und Nachlassverwalter Kafkas, hat eine naheliegende psychoanalytische Deutung dieses Briefes in ihre Schranken gewiesen, »nicht zuletzt deshalb, weil Kafka selbst diese Theorien gut kannte und sie immer nur als eine sehr ungefähre, rohe, nicht dem Detail oder vielmehr dem wahren Herzschlag des Konflikts gerechtwerdende Beschreibung angesehen hat«.282 Auch Blumenberg weist unmittelbar eine Deutung gemäß der »psychoanalytischen Modewelle«283 zurück. Er meldet Zweifel an, ob es sich um ein getreues Abbild des tatsächlichen Vaters handelt, und er fragt, ob nicht vielmehr eine »Steigerung des Vaters ins Übergroße, ins Mythische«284 vorliege. Auch das deckt sich mit Max Brods Hinweis, Kafka habe »aus dem Erlebnis Gottes … die Vorstellung ›Vater‹ bereichern, erweitern, den Horizont füllen lassen«.285 Finde nicht, so fragt Blumenberg, im beschriebenen Vater »ein Bewußtsein des Absoluten und des ihm Unterworfenseins« seinen Ausdruck, sodass das »Vatererlebnis nur auf dem Grund eines tief verwurzelten Transzendenzbewußtseins möglich und verstehbar«286 wird? »Aus innerer Notwendigkeit heraus, aus dem Leiden an solcher Namenlosigkeit hat Kafka die Leere dieser gottlosen Religiosität ›besetzt‹, zuerst und immer wieder mit dem Vater – der sich dazu freilich sehr gut geeignet haben mag –, später aber auch mit den Bildern und Symbolen seiner Dichtungen.«287

Damit ist der »Brief an den Vater« der Sphäre des rein privaten Konflikts enthoben und seine Bedeutung weit über den Radius des Biographischen hinausgetrieben. »Der Vater vertritt und verstellt mit seiner gewaltigen Erscheinung das Zentrum eines Welt- und Lebensgefühls, in dem einst die furchtbare Majestät des alttestamentarischen Gottes gestanden hatte und das nun verwaist war.«288 Für Blumenberg ist Kafka daher auch ein Repräsentant jenes Nihilismus, den er als Zeichen seiner Zeit ausmacht. »Das Schicksal einer Epoche, deren Bezug zum Absoluten sich an den überlieferten Gehalten nicht mehr erfüllen zu können scheint, hat hier einen exemplarischen menschlichen Ausdruck gefunden.«289

Kafkas »Brief an den Vater« hilft dabei, zwei wichtige Aspekte im Werk Blumenbergs genauer zu illustrieren. Auf seine beiden akademischen Qualifikationsschriften zurückblickend, verfügt Kafka für Blumenberg über etwas, was Aristoteles gefehlt hat: die Verwunderungsfähigkeit darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts: »Kafkas Blick, dieser große, staunende, immer weit hinter dem Sichtbaren sich konzentrierende Blick, hängt nicht mehr daran, was und wie die Dinge sind, sondern daran, daß sie überhaupt sind.«290 Blumenberg wird diese Verwunderung in seinem Werk leitmotivisch immer wieder aufrufen. Kafka zeichnet sich mit dieser Empfänglichkeit für die Unselbstverständlichkeit des Seins als ein Autor jener Ursprünglichkeit aus, die Blumenberg in seinem Frühwerk zu beschwören unternommen hat.

Doch auch in die andere Blickrichtung ist Kafkas Brief von großer Bedeutung, kommen doch Blumenbergs akzentuierende Deutungen einem Wetterleuchten eigener zentraler Philosopheme gleich, die im späteren Werk ihre Entfaltung finden sollten. Schon Kafka hatte in seinem Brief zumindest indirekt die gänzliche Gleichsetzung des von ihm beschriebenen despotischen Herrschers mit seinem leiblichen Vater fragwürdig werden lassen, sei doch die Ohnmacht des Sohnes nicht nur die Folge der Erziehung, wie er eingesteht.291 Ausdrücklich schreibt er seinem Vater, »dass ich niemals im entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube«.292 Der Brief bietet vielmehr einen »Einblick in unser beider Hilflosigkeit«.293 Hermann Kafka ist somit die Verkörperung einer Macht, deren er selbst nicht Herr ist. Er hat vielmehr teil an einem Absolutismus der Macht, der größer ist als er selbst. Doch in kleinerem Maßstab zeigt sich schon im Brief, was auch Gott möglich sein soll: Willkür. Noch hat Blumenberg Wilhelm von Ockham nicht im Blick – dessen Ächtung in der Zeit des Neuthomismus hat verzögert, dass Blumenberg bereits während seiner Mittelalterstudien in Sankt Georgen dessen Rang hätte erkannt haben können –, aber Kafkas Vater bietet bereits eine Illustration dafür, was später in der Legitimität der Neuzeit ›theologischer Absolutismus‹ heißen wird.

Damit kommt die Not der Selbsterhaltung ins Spiel. Schon in Kafkas Brief an seinen Vater konnte Blumenberg lesen: »Ich hatte, seitdem ich denken kann, solche tiefste Sorgen der geistigen Existenzbehauptung, dass mir alles andere gleichgültig war.«294 Kafka ist nicht der Stichwortgeber für das, was bei Blumenberg ›Selbsterhaltung‹ und ›Selbstbehauptung‹ heißen wird. Schon in der Habilitationsschrift ist von der Selbstbehauptung der Vernunft vor der Gewissheitsfrage die Rede. Doch wie unvergleichlich plastisch ist die Schilderung der Ohnmachten und Selbsterhaltungsnöte bei diesem Autor. »Denn da er Macht in jeder Form fürchtet«, schreibt Canetti, »da das eigentliche Anliegen seines Lebens darin besteht, sich ihr in jeder Form zu entziehen, spürt, erkennt, nennt oder gestaltet er sie überall dort, wo andere sie als selbstverständlich hinnehmen möchten.«295 Später, im Kontext der Legitimität der Neuzeit, wird Blumenberg von der Infragestellung rationaler Konstanten durch den ungeheuren Druck der Zumutungen eines allmächtigen Gottes sprechen, der die nicht mehr tangierbaren Kerne des Humanen hervorgetrieben habe; aber schon im »Brief an den Vater« zeigt sich im Konkreten ursprünglicher Situationen, was es bedeutet, sich auf nichts verlassen zu können. Unter der Macht des absoluten Vaters »fühlt man alle sonst verläßlichen Realitäten förmlich ›verdampfen‹; das Bewußtsein einer bodenlosen Nichtigkeit bleibt zurück«.296 Schon Kafka ist daher ein Beispiel für die Frage nach einem unzugänglichen Kern der Existenz, aber nicht – wie bei Descartes – im Sinne eines methodisch souverän durchgeführten Gedankenexperiments, sondern als erlebte und erlittene Infragestellung: »In einer Welt, die der namenlosen Freiheit, der verspieltesten Allmacht ohne Gesetz und Regel, ohne Pfand und Gnade ausgeliefert ist, durchdringt die Sorge der Selbstbehauptung das Dasein bis in seine Wurzeln und in seinen Grundbestand.«297

Was später, in Arbeit am Mythos, Absolutismus der Wirklichkeit heißen wird, gibt schon jetzt die Daseinsbewegung als Flucht vor. Das deckt sich mit der Tendenz der ontologischen Distanz, sich etwa in die Logoi zu flüchten, wie es bei Platon über Sokrates heißt, oder eben überhaupt in die absolute Gewissheit, wie es die moderne Wissenschaft methodisch abgesichert anstrebte. Nun ist auch Kafka eine Existenz der Flucht. Doch sie misslingt ihm so sehr, dass er seinem Freund Max Brod vor seinem Tod die Weisung gab, den Großteil seiner Schriften, die die Fluchtursache und -bewegung so eindringlich abbilden, zu vernichten.

Kafkas Vater ist ein absoluter Patriarch mit unmenschlichen Ausmaßen. Er nimmt den Großteil der Welt ein, in der sich Franz bewegt. Doch das ist für Blumenberg »mehr, als ein wirklicher Vater jemals ›bedeuten‹ kann; es ist die Sphäre der Prometheus, Sisyphos, Atlas und Tantalus«.298 Blumenberg hat erneut – wie schon in seiner Habilitationsschrift – den Mythos als einen Ausdruck absoluter Mächte in den Blick bekommen; noch erkennt er in ihm nicht die Anstrengung, diese Mächte nicht heraufzubeschwören, sondern zu bannen. Der Umstand, dass Kafka den frühen Blumenberg so beeindruckte, er im späteren Werk aber lediglich eine momentan aufblitzende Präsenz behaupten konnte, mag eben hierin seinen Grund haben: Blumenberg war zwischenzeitlich jemand anderes in den Blick gekommen, dem seine Flucht vor dem Vater gelungen war: Goethe. Auch an Goethe und dessen zeitweiliger Identifizierung mit Prometheus – darauf wird noch zu sprechen zu kommen sein – macht Blumenberg einen Vater-Sohn-Konflikt aus.299 Mit dem Unterschied, dass Goethe im Gegensatz zu Kafka den Weg ins Eigene fand. Auch dieser Konflikt ist für Blumenberg kein psychoanalytisch zu dechiffrierender. In beiden Fällen lehnt er die »psychische Unterwelt Sigmund Freuds«300 ab, da er eine Untertreibung des Konflikts um jeden Preis zu vermeiden sucht.

Kafka wird von einem Blumenberg gelesen, der eben noch katholische Theologie studiert hat. Daher ist er empfänglich für ein Motiv, das er als ein zentrales im Werk des Autors ausmacht: »Daß wir die Beständigkeit des Seins, eben weil sie so beständig und verlässig ist, auch schon zu besitzen, legitim darüber verfügen zu können glauben, als sei das Nichts ein mythischer Aberglaube – das will Kafka nicht billigen, will er mit immer neu ansetzenden Metaphern erschüttern. Aber wer hier nur nihilistisches Mißtrauen in den Sinn der Welt wahrnehmen möchte, verkennt das Entscheidende, nämlich: daß es Kafka darum geht, die Urhaltung des fassungslos Beschenkten dem Sein gegenüber zu entbinden. Kafka weiß, wie nur wenige in den Jahrhunderten der Neuzeit es wissen, was das Wort ›Gnade‹ bedeutet. Aber er beschreibt sie nicht in Metaphern des Lichtes, in dem sie sich schenkt, sondern in Bildern der Finsternis, in der sie sich verweigert. Die Entbehrung der Gnade ist das unendlich variierte Thema aller seiner Werke, die Ungewißheit, aber nicht die Existenz der Gnade, sondern des Rechtes, an ihr teilzuhaben.«301 Der später vom Glauben Abgefallene wird an Goethe studieren, wie man sich ohne einen Gott in der Welt zu halten vermag.

Der frühe Blumenberg hat sich daher nicht als ein Nihilist begriffen. Nihilismus ist für ihn »ein ›Sturz‹, ein ›Verfall‹ des Wirklichkeitsbewußtseins«, das sich »in Ruhe, in Starre, in Sättigung zu halten sucht«,302 also in Formen der Distanz. Die Philosophie dagegen hat mit einer »Bewegung des Mitvollzugs« den Phänomenen zu folgen und deren Unruhe aufzunehmen: »Es wird deshalb immer eine echte Aufgabe philosophischer Besinnung sein, die in der Kunst und Dichtung bezeugte Erfahrung sorgfältig abzuhören und sich von dem als echtes Zeugnis Erkannten in der Richtung des Denkens, des Ansatzes der Fragen bestimmen zu lassen.«303 Zeit seines Lebens wird Blumenberg immer wieder literarische Quellen in seine philosophischen Überlegungen einbeziehen, da er ihnen das Ausdrucksvermögen jener in Bewegung gehaltenen Ursprünglichkeit zutraut, die er der Philosophie anempfiehlt. Auch deshalb ist sein eigener literaturaffiner Stil nicht schmückende Zugabe. Wo die Philosophie in ihrer bewährten Terminologie zu erstarren droht, sucht er die von der Literatur inspirierte Sprachform, um durch gelungene Wendungen das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben. Sinn und Form sind auch hier nicht trennbar.

Man muss es nicht übertreiben mit der Auslegung von Blumenbergs Kafka-Deutung im Hinblick auf Späteres. Aber es wäre in Blumenbergs Sinne, auch einen letzten Fund anzuführen. »In der Hand habe ich nichts, auf dem Dach ist alles und doch muss ich – so entscheiden es die Kampfverhältnisse und die Lebensnot – das Nichts wählen«,304 schreibt Kafka in seinem Brief. An Blumenbergs ausgezeichnetem Gedächtnis zu zweifeln, verbietet die Art von Philosophie, die er betrieben hat. Nichts spricht also dagegen, Blumenbergs Antwort auf die Frage des Proust-Fragebogens des Magazins der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach dem Lieblingstier als eine Entgegnung auf Kafka zu nehmen: »Die Taube auf dem Dach«.305 Die einsetzende Daseinsausrichtung Blumenbergs, die von der Gnade des unverdienten Seinsbestandes nicht länger abhängig sein will, geht auf das noch nicht Erreichte, auf die Fülle, auf das Ausstehende.

Wenn das Ausstehende aber nicht länger eine Gnadengabe Gottes ist, verdanken sich Stabilität und Reichtum des Lebens allein der Kraft des Menschen. Damit kündigen sich für Blumenberg eine Wende in der Bewertung des Zeitalters und ein Aufbruch aus der Krise an. In einem am 31. Dezember 1952 erschienenen Zeitungsartikel »Plädoyer für diese Zeit. Versuch einer Ehrenrettung für eine schlecht beleumundete Epoche« hebt Blumenberg mit Verwunderung hervor, dass »eine Welt wieder zum Stehen kam«,306 die so tief gefallen war. Das bevorzugte Motto seiner Zeit sollte auch für die folgende Etappe seiner philosophischen Grundlegungen gelten: »Gehen wir an die Arbeit!«307

Hans Blumenberg

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