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Das Verfolgen der Phänomene:
Anmerkungen zur Methode

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Was bleibt, wenn man die Flucht in die Gewissheit ausgeschlagen hat, um der ursprünglichen Erfahrung der geschichtlichen Situation die Treue zu halten? Es bleibt die Verpflichtung, dem Philosophieren eine eigene Form zu verleihen. Das veranlasst mich zu einer ersten Zwischenreflexion: Schon in seinen beiden Qualifikationsschriften hat sich angedeutet, dass die moderne wissenschaftliche Methode für Blumenberg einen eigenen Reibungspunkt darstellt. Mit einem Wort: Er will die Philosophie davor schützen, sich als ›strenge Wissenschaft‹ begreifen zu müssen. Diese Abwehr eines auf sie übertragenen Anspruchs ist für Blumenbergs gesamtes weiteres Werk von nicht zu überschätzender Bedeutung.

Im Rückblick und mit größerer Distanz zu Husserls Vorhaben, die Geschichte der abendländischen Theorie auf die Phänomenologie zulaufen zu lassen, erscheint Blumenbergs Identifikation der Neuzeit mit dem cartesischen Willen zu absoluter Klarheit und Deutlichkeit freilich als allzu enggeführt. Ein einziger Blick etwa in die Genesis der kopernikanischen Welt reicht zur Verdeutlichung, wie sehr Blumenberg selbst sein frühes Bild von der modernen Wissenschaft korrigiert, erweitert und vertieft hat. Schon in seinem Aufsatz »Weltbilder und Weltmodelle« aus dem Jahr 1961 weist er die alleinige Verbindlichkeit cartesischer Leitvorstellungen für das moderne Theorietreiben zurück, sei doch offensichtlich, »daß die Funktion der Wissenschaften in unserer gegenwärtigen Wirklichkeit nichts mehr mit den Motiven ihres frühneuzeitlichen Ursprunges gemein hat«.167

Doch lohnender als eine Kritik an den Stilisierungen und unhistorischen Vereinfachungen, die sich die Habilitationsschrift noch erlaubt, ist ein Blick darauf, wie der überscharfe Kontrast vom Streben nach absoluter Gewissheit und Endlichkeit des Denkens die weitere Physiognomie von Blumenbergs Philosophie geformt hat. Ich möchte das mithilfe von einigen locker gereihten Anmerkungen andeuten.

Eine der zentralen Bedingungen der modernen Organisation von ontologischer Distanz durch die Wissenschaft ist die Verpflichtung auf das Einhalten methodischer Vorgaben. Erst mit Descartes hat das methodisch abzusichernde und zu verantwortende Vorgehen in der Wissenschaft die heutige dominante Stellung erlangt – man denke an Platons Dialoge oder an die ›scholastische Methode‹ des Hochmittelalters, um sich die Radikalitätsdifferenz zur modernen Methodologie vor Augen zu führen. Die neuzeitliche methodische Disziplinierung des Forschens zielt nach Blumenberg auf eine »Eliminierung der Subjektivität«,168 die in ihrer konkret-faktischen Gestalt gleichsam einer Verunreinigung der Wissenschaft gleichkommt. »Methode ist das Organon, behilfs dessen sich der wissenschaftliche Geist der Zufälligkeit und Endlichkeit der forschenden Individuen enthebt und sich der Befangenheit im faktischen geschichtlichen Dasein entzieht.«169 Insofern die absolute Gewissheit nicht in einem einzigen Schritt zu erreichen ist, sondern der Fortschritt auf Dauer gestellt werden muss, wird jeder Einzelne »zum Funktionär des szientifischen Prozesses der Gewißheitsbildung reduziert«.170 Die den wissenschaftlichen Fortschritt über Generationen versichernde Methode, an die sich alle Wissenschaftstreibenden zu halten haben, stellt dem ideellen Erkenntnissubjekt ›Menschheit‹ in Aussicht, was sie dem Einzelnen an Erkenntnis vorenthält.

Der in der Habilitationsschrift entwickelte Methodenaspekt der modernen Wissenschaft war Blumenberg so wichtig, dass er 1952 einen Aufsatz mit dem Titel »Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode« veröffentlichte. Von ontologischer Distanz ist darin schon nicht mehr die Rede, aber es werden auf knappem Raum die modernen Methodenansprüche mit einem Verständnis von Philosophie konfrontiert, für das das Ideal einer ›strengen Wissenschaft‹ nicht verpflichtend ist. Der Aufsatz liest sich als ein Befreiungsschlag, der dem Philosophieren Luft zum Atmen verschaffen und die Freiheit des Denkens jenseits methodischer Überregulierung garantieren soll.

Dazu verweist Blumenberg zunächst darauf, der ursprüngliche Wortsinn von méthodos sei: einer Sache nachgehen, etwas verfolgen, ganz im Sinne des räumlich-bewegungsmäßigen Nachsetzens. Im übertragenen Sinne verlange die methodisch ausgerichtete Theorie, einem Sachverhalt nachzugehen. »Immer bleibt das Gegebene, sei es real oder ideal, in seiner eigenen Bewegtheit im Blick.«171 Darauf kommt es an: Diese Art des methodischen Verfolgens lässt sich vom Gegenstand leiten, bestimmen, führen. Die Methode habe sich im Laufe der Geschichte dann aber in eine Technik verwandelt, wodurch das Wie einer Untersuchung in den Vordergrund gerückt und der Gegenstand aus seiner leitenden Funktion entlassen worden sei: »Der Erkennende heftet sich nicht primär an die Sache, sondern orientiert sich im Entwurf eines Ideenzusammenhanges, eines ›Systems‹, und die Sache hat ihre Bedeutung vornehmlich darin, daß sie die vorentworfene Topographie des Systems ›bestätigt‹.«172 Schlimmer hätte es kaum kommen können.

Für den Umgang mit Blumenbergs späteren Büchern ist die Beachtung von seinem als ›ursprünglich‹ ausgewiesenen Verständnis von Methode von überragender Bedeutung. Übersieht man seinen im Kern vormodernen Methodenbegriff, sind Irritationen vorprogrammiert, denn Blumenberg hat sich in seinen Schriften nicht dem Diktat der modernen Methodologie gebeugt. Daher rührt auch der berechtigte Eindruck, es mit einem ungemein souveränen, selbstbewussten und freien Denker und Autor zu tun zu haben. Blumenberg philosophiert aber auch nicht aus Prinzip wider den Methodenzwang, sondern legt seiner Philosophie eben jenen für ihn originären Methodenbegriff zugrunde. Etwa in den Paradigmen zu einer Metaphorologie: Nach wenigen Seiten Einführung, die nur die notwendigsten Bestimmungen und methodischen Auskünfte bieten, geht Blumenberg gleich ins ›Quellenmaterial‹ und lässt sich von den Metaphern leiten. Zwar bietet er für sie paradigmatische Typologien, aber es ist erkennbar das Ziel, sich vom zu Deutenden her bestimmen zu lassen. Blumenberg verweigert sich einer vorlaufenden Systematik, die die zu interpretierenden Metaphern zu reinen Bestätigungen verkommen lassen könnten. Es ist von hohem Aufschlusswert, dass Blumenberg im Rahmen der zu entwickelnden Metaphorologie zuerst einen Aufsatz, der den Paradigmen zeitlich noch vorausgegangen ist, vorgelegt hat: »Licht als Metapher der Wahrheit« aus dem Jahr 1957. Er wendet sich gleich dem ›Material‹ zu und verlässt sich auf systematische Grundintuitionen, die sich an den Quellen zu bewähren haben. Das setzt so etwas wie intellektuellen Spürsinn voraus, eine Kunst der Vermutung, das Vertrauen auf die eigene Intuition der Ahnung.

Zugleich verlangt es die Kunst der Selbstzurücknahme. Blumenberg hat sich dagegen ausgesprochen, ein ausdrückliches Selbstverständnis pflegen und vorweisen zu müssen. Er habe keinerlei ›Interesse‹ – die Leitvokabel von Habermas’ Erkenntnis und Interesse durch Anführungszeichen auf Distanz gesetzt – an einem Selbstverständnis: »Es stört dabei, das zu verstehen, was man doch vor allem, wenn nicht ausschließlich, verstehen möchte.«173 Insofern das leitende Interesse als der Ausgriff eines vereindeutigten Selbstverständnisses auf etwas zu Untersuchendes genommen werden kann – in der Art: ›Ich als Soziologe interessiere mich für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten in einem Stadtteil von Berlin‹ –, sucht die gewollte Interessenlosigkeit mit der Variabilität möglicher Selbstverständnisse jene Elastizität des theoretischen Nachverfolgens, bei der ein festgelegtes Selbstverständnis nicht beschränkend im Weg steht. Leitend ist für Blumenberg daher nicht das fokussierte ›Interesse‹, sondern die wahrnehmungsoffene ›Neugierde‹, nicht das ›Problem‹, sondern das ›Phänomen‹.

Dem ursprünglichen Methodenbegriff, der sich vom zu erkennenden Gegenstand leiten lässt, entsprechen Wissensformen, die inzwischen jenseits der strengen Wissenschaft angesiedelt sind: etwa der Bericht oder die Erzählung.174 Beides kultiviert Blumenberg in seinem Werk, indem er von ›Gipfeltreffen‹ zwischen Geistesgrößen berichtet – etwa Marcel Proust und James Joyce – und indem er große Bögen der Bewusstseinsgeschichte nacherzählt. Daher rührt der Verdacht aller in der modernen Methodologie Gefestigten, hier verkomme jemand zum ›erzählenden Philosophen‹, der von Anekdoten berichte.

Als nächstes erläutert Blumenberg in seinem Methodenaufsatz die Leitidee moderner Methodologie, das forschende Individuum disziplinieren und das Feld des wissenschaftlichen Zugriffs abstecken zu wollen. Im Grunde arbeitet die wissenschaftliche Methode mit einer doppelten Verobjektivierung: Auf der einen Seite sorgt die strenge Methode für eine Homogenisierung der Gegenstandswelt, mit der es die Theorie zu tun haben will. Descartes etwa reduzierte alle Substanzen auf geistige und ausgedehnte, wodurch der nichtgeistige Objektbereich auf quantifizierbare Gegenstände eingegrenzt wurde. Diese Art von methodisch geschaffener Homogenität stellt eine Vorentscheidung darüber dar, was mit den Mitteln einer Methode überhaupt als Erkenntnisgegenstand erscheint. »Hierin liegt die spezifische ›Selektion‹, die den Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit entscheidend bestimmt; sie konstituiert sich aus ›Heraus-Sehen‹ und ›Über-Sehen‹. In ihr präformiert sich die Welt zum ›Gegenstand‹ der Naturwissenschaft, zum Herrschaftsfeld der Technik«,175 heißt es schon in der Habilitationsschrift.

Zum anderen soll auch der Bereich des Subjektiven homogenisiert werden: »Die ›Vernunft‹ als Träger des Erkenntnisprozesses ist zwar ›Subjekt‹, aber sie ist nicht ›subjektiv‹.«176 Dadurch werden »Individualität und Geschichtlichkeit … zu gleichgültigen und reduzierbaren Momenten«.177 Erst so lässt sich die Fiktion eines umfassenderen Erkenntnissubjekts erzeugen, dem die vielen Individuen zugeordnet sind: »Die Methode integriert die Vielheit der Funktionäre der neuen Wissenschaft im Prinzip zu einem Subjekt, indem sie ihre Erkenntnistätigkeit so einrichtet, daß sie von ihnen wie eine einzige geistige Aktion vollzogen wird, als ob sie aus einem einzigen Intentionszentrum gesteuert würde.«178

Blumenberg weigert sich, als Philosoph zum Funktionär einer methodisch geleiteten Wissenschaftsidee degradiert zu werden. Dazu wahrt er Abstand zu allen etwaigen Forderungen nach Auskünften über seine Methode. Nicht von Ungefähr verzichtet er selbst in seinen Hauptwerken auf zusammenhängende Darstellungen seines philosophischen Vorgehens. Wer darin nur Unfähigkeit zur methodischen Präzision vermuten möchte, verkennt den philosophischen Streitwert, der mit dieser Unterlassung markiert wird. Blumenberg unterläuft moderne Methodenerwartungen, um die Philosophie, die älter ist als die Ausbildung eben jener modernen Vorgehensbestimmungen, vor einer Verkümmerung zu schützen.

Für diese Intention gibt es bereits ein äußerliches Merkmal, das dem Druckbild seiner Bücher eigen ist: In seinen Monographien hat Blumenberg die herangezogenen Zitate niemals in Anführungsstriche gesetzt. Zitierte Passagen sind stets kursiviert. Das führt zu einer organischeren Einbettung des Herangezogenen in den eigenen Textfluss, ist aber vor allem ein historisierender Vermerk: In alten Büchern – zum Beispiel dem Dictionnaire historique et critique von Pierre Bayle, in seinen maßgeblichen Ausgaben in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen – finden sich Zitate stets auf diese Art markiert. Blumenberg folgt dieser alten Druckweise, um seine Schriften – bei aller Aktualität – in die Tradition zu stellen und sie so schon optisch von modernen Theorieansprüchen abzusetzen. Ein weiterer Beleg für die hohe Kongruenz von Sinn und Form in Blumenbergs Philosophie.

Der Wille zur Originalität, der sowohl für die stilistische Brillanz als auch für Umständlichkeiten und Gespreiztheiten seiner Texte verantwortlich zeichnet, ist daher als philosophischer Widerstand gegen eine vornehmlich am Ideal der Naturwissenschaften orientierten Wissenskultur zu begreifen. Der von Blumenberg gepflegte Personalstil, der oft als eine literarisierende Sprache wahrgenommen wird, wehrt sich gegen die Entsubjektivierung der Theorie durch strikte Methodik und strenge Wissenschaft. Blumenberg setzt seinen Individualitäts- und Originalitätsanspruch gegen die Fiktion einer von allem Subjektiven gereinigten Theorie. Seine Texte sind bis in die Überschriften hinein oft auf Anhieb als Texte dieses Autors auszumachen. Man sollte also die Stilblüten seiner stets um Unverkennbarkeit bemühten Diktion nicht allein als eine literarische Ambition werten, die sich der Philosoph zusätzlich zum Gedachten geleistet hat. Wer meinte, man könne, solle oder müsse doch Blumenbergs literarisierende Denkweise bis auf die in ihr enthaltenen ›Argumente‹ und ›Thesen‹ entkleiden können, übersieht, dass bereits die Form dieses Denkens als Sprache im Personalstil Ausdruck einer philosophischen Positionierung ist. Daher geht in der sprachlich spröden Form der Handbuchartikel, die sich einzelnen Aspekten der Philosophie Blumenbergs widmen oder Werke paraphrasieren, Wesentliches verloren. Was Blumenberg denkt, ist von der Weise, wie er es denkt, nur um den Preis der kruden Reduzierung zu trennen. Etwas von ihm ausführlich Erzähltes kann eben nicht formelhaft zusammengefasst werden, ist doch – dem ursprünglichen Methodenbegriff zufolge – das Erzählen keine beliebig verkürzbare Denkform, einem Gegenstand zu folgen.

Schließlich dient der Originalitätsanspruch seiner Texte dazu, das Funktionärsverständnis moderner Fortschrittslogik und -methodik zu unterlaufen. Niemand kann Blumenbergs Philosophie fortsetzen, weiterschreiben, seinen Stil ohne epigonale Peinlichkeit kopieren oder kultivieren. Damit bleibt dieses Werk situiert, geschichtlich und biographisch verortbar, individuell und unverkennbar. Das trifft freilich auch auf andere Philosophien zu, es ist kein Alleinstellungsmerkmal. Aber Blumenberg hat dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Es wäre undenkbar, dass er einen Aufsatz im Rahmen eines Autorenkollektivs verfasst und seinen Eigenstil in einem dafür notwendigen Maß zurückgenommen hätte, um gemeinsame Thesen zu präsentieren. Lexikonartikel mit der ihnen eigenen Verpflichtung auf stilistische Zurückhaltung stellen bei Blumenberg eine Ausnahme dar.179

Die Betonung der Personalität mag zu Anhängerschaften verleiten, denen Blumenberg sich durch Unnahbarkeit und Rückzug aus der Öffentlichkeit vorauseilend entzogen hat. Überhaupt gilt es, angesichts der starken personalen Färbung seiner Philosophie, ein drohendes Missverständnis abzuwehren: Das Philosophieren im Personalstil verteidigt eine Theorieform gegen die Entsubjektivierung der modernen wissenschaftlichen Methode, aber das heißt nicht, dass es folglich um die philosophierende Person zu gehen habe. Wer diesen Irrtum vermeidet, hat viel für die Lektüre der Werke Blumenbergs gewonnen.

Auch den Gegenstandsbereich philosophischer Erkenntnis will Blumenberg nicht vorschnell methodisch begrenzt wissen. Geradezu provokativ weitet er das Feld der Gegenstände philosophischen Denkens, wenn er Gedichte in seine Reflexionen einbezieht, Glossen zu Anekdoten schreibt, Briefe und Tagebücher zu gleichwertigen Quellen neben den Hauptwerken der herangezogenen Autoren erhebt. Darin liegt das Überraschungsmoment für den Leser begründet: Hier schreibt einer über Themen, die im Erwartungsraster des ›Wissenschaftsbetriebs‹ im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen nicht vorkommen: etwa über die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach, über Anekdoten und überhaupt über Figuren der Geistesgeschichte, die der Disziplin der Philosophie fernstehen. Wer fügt schon einem philosophischen Buch Kapitel über Sigmund Freud, James Joyce oder Adolf Hitler ein, ohne Psychologe, Anglist oder Historiker zu sein? Wer schreibt schon über Technik, ohne sich als Ingenieur oder Technikhistoriker ausweisen zu können? Wenige.

Blumenberg ist der Preis zu hoch, den das Ideal einer Wissenschaft zu zahlen bereit sein muss, um den Erkenntnisgewinn als gemeinsam getragene Fortschrittsgeschichte zu entwerfen: »Der Anspruch der ›reinen‹ und autonomen Selbstverfügung der Vernunft über ihren Grund und Anfang erwies sich als gebunden an die konsequente Destruktion des tragenden Bodens der geschichtlichen Existenz des Menschen, der eben gerade darin ›menschlich‹ ist, daß er nicht ›ex nihilo‹ leben kann.«180 Da er nicht ›aus dem Nichts‹ leben kann, ist der konkrete Mensch als Individuum stets lebensweltlich eingebunden und in eine geschichtliche Situation eingebettet. Dieses Leben aber bedarf angesichts seiner Endlichkeit und seiner Zeitknappheit der philosophischen Orientierung im Hier und Jetzt. Der unendliche Wissenschaftsfortschritt habe eine »blinde Automatik«181 hervorgebracht, für die nichts gleichgültig sei, aber alles beliebig zu werden drohe. Das philosophische Denken soll gegen die Engführungen moderner Methodisierung geschützt und »fundamentaler im Ansatz und umfassender in der Zielsetzung«182 gehalten werden. Daher betreibt Blumenberg Philosophie als ein spezialisierter Generalist. Wenngleich er das Philosophieren für so begründungsunbedürftig hält wie ein Gedicht, er also Theorie um der Theorie willen zu betreiben sucht, handelt es sich im Rahmen einer diskreten Anthropologie doch um eine Philosophie in pragmatischer Absicht. Freilich nicht im Sinne einer vorzuentwerfenden Praxis, wohl aber als Form der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung des Menschen in seiner jeweiligen Daseinssituation. Kann die Philosophie, fragt er in der Habilitationsschrift, »sich je von dem Selbstverständnis unseres Daseins so ablösen und sich in dem Universum wissenschaftlicher Gegenständlichkeit genügen, ohne ihren Ursprung und damit den Boden ihres Sinnes preiszugeben«?183

Mit der Relativierung des modernen Anspruchs an die strikte Methodik ist der Willkür nicht Tür und Tor geöffnet, aber dem Anspruch, auch die Philosophie habe ›strenge Wissenschaft‹ zu sein, widersprochen. Zwar gebe es für die Philosophie einen Sinn von Wissenschaftlichkeit, der so originär philosophisch sei, dass er gar nicht verleugnet werden könne, aber es gelte doch, sich gegen »die Unterwerfung der Philosophie unter das Ideal der wissenschaftlichen Methoden, Erkenntnischaraktere, der Exaktheit und Strenge«184 zu verwahren. Die Abkehr von dem zeitgenössisch durch Husserl erneuerten Anspruch, auch Philosophie habe strenge Wissenschaft zu sein, ist eine der bedeutendsten, tiefgreifendsten, formprägendsten Richtungsentscheidungen im Denken Blumenbergs. Im Kern ist das von Descartes vorgestellte und von Husserl verteidigte Ideal der strengen Wissenschaft für Blumenberg Inbegriff einer abgesicherten ontologischen Distanz. Es sei offensichtlich, »daß die Idee strenger Wissenschaftlichkeit von ihrer Herkunft am Beginn der Neuzeit her unabdingbar gebunden ist an die Auffassung des Seienden als mögliche pure Gegenständlichkeit, als das aus einer Distanz heraus und über eine Distanz hinweg ›klar und deutlich‹ Erfaßbare«.185 Die von Blumenberg dagegen kultivierte Umständlichkeit seiner Bücher und die vermissbare Stringenz der Argumentation in Hinblick auf ein systematisches Ziel resultieren in der Zurückweisung der kategorischen Verpflichtung auf strenge Wissenschaft. Der Erwartung, Theorie habe ›Ergebnisse‹ als Schlusspunkt methodisch geleiteten Forschens zu erbringen, setzt Blumenberg seine mäandernden Texte entgegen, die zwar lehrreich, aber kaum resümierbar sind. In seinen späten Jahren wird er geradezu provokativ Nachdenklichkeiten kultivieren, von Ergebnis und Ziel ist da längst nicht mehr die Rede.

Damit sucht Blumenberg daran zu erinnern, Philosophie sei zwar in einem unaufgebbar grundsätzlichen Sinn, aber nicht in einer spezifisch modernen Weise Wissenschaft. Das Selbstverständnis der modernen Wissenschaft ist ein geschichtlich bedingtes, historisch gewachsenes und unter eigenen Erkenntnisnöten stehendes. Auch wenn man ihm Gültigkeit attestiert, verleiht man ihm damit noch keine zeitlose Notwendigkeit. Damit wird der Stellenwert der Wissenschaft für das moderne Leben nicht infrage gestellt. Selbst dann, wenn Blumenberg die moderne Wissenschaft mit ihrem Methodenideal gegen die Philosophie überscharf abzusetzen unternimmt, spricht er den zwei Wegen doch auch eine Berechtigung zu: »Aus dieser Antinomie zwischen Philosophie und Wissenschaft ist nicht herauszukommen: das Erkenntnisideal der Philosophie widersetzt sich der Methodisierung, die Wissenschaft als der unendliche Anspruch eines endlichen Wesens erzwingt sie«, aber »diese Trennung war notwendig und legitim«.186 Seine eigene Art zu philosophieren folgt aber dem Ziel, »die Fraglosigkeit aufzubrechen, mit der die Formel ›Philosophie als Wissenschaft‹ hingenommen wird«.187 Was Philosophie ist, hat sie selbst zu bestimmen und sich nicht durch eine Wissenschaftsauffassung vorgeben zu lassen, die sich in ihrer aktuellen Herausbildung kontingenter Bedingungen verdankt. Philosophie »konstituiert erst in ihrem Selbstvollzug, was sie ist und zu sein hat, und mit diesem zugleich, ob Wissenschaft zu Recht und notwendig die Gestalt der Verwirklichung des Gewißheitswillens sein kann«.188

Für Descartes und vollends für Husserl war, wie sich gezeigt hat, das Bewusstsein die Sphäre unbedingter Gewissheitsbildung. Damit wurde die Geschichte im Sinne metakinetischer Umbrüche ausgeblendet. Blumenberg hat seine voluminösen Relektüren der abendländischen Geistesgeschichte gezielt als ›Bewusstseinsgeschichten‹ bezeichnet, etwa in Die Genesis der kopernikanischen Welt oder Arbeit am Mythos.189 Er spricht ausdrücklich nicht von ›Geistesgeschichte‹, um jeden latenten Hegelianismus einer teleologischen Verlaufsform zu vermeiden. Entgegen dem momentanen Evidenzbewusstsein cartesischer Prägung ist für Blumenberg Philosophie »werdendes« und somit geschichtliches »Bewußtsein des Menschen von sich selbst«.190 Damit ist sie immer auch Ausdruck der Verlegenheit, eben nicht auf Anhieb angeben zu können, was der Mensch ist. Seine Bewusstseinsgeschichten sind lang angelegte, umwegige Antwortversuche auf diese Frage.

Die Geschichtlichkeit der Geschichte ist damit gewahrt. Blumenberg hat wiederholt betont, es gebe keine ›ewigen Fragen‹, die die Philosophie zu beantworten suche. »Geschichtlichsein ist das ursprüngliche In-Frage-stehen«, daher ist dann auch »alles Fragen ursprünglich geschichtlich«.191 In den Paradigmen zu einer Metaphorologie von 1960 heißt es, es gebe Fragen, die wir »nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden«.192 Man mag an der heideggerisierenden Rede vom ›Daseinsgrund‹ Anstoß nehmen, aber sie wahrt die Einsicht der frühen Jahre, dass alles Philosophieren auf dem metakinetisch beweglichen Grund der jeweiligen geschichtlichen Situation geschieht, auf dem wir uns vorfinden, den wir aber nicht gewählt haben und nicht haben wählen können.

Damit deutet sich bereits an, dass die Zurückweisung einer Flucht in die Gewissheit auch Auswirkungen auf Blumenbergs Hermeneutik der Geschichte hat – dazu später mehr. Doch schon in der Habilitationsschrift markiert Blumenberg die Notwendigkeit einer Philosophie der Geschichte, die in den klassischen Formen der Geschichtsphilosophie oder der Historik nicht aufgeht. Die klassische Geschichtsphilosophie, das zeigte sich schon, unterstellt dem Geschichtsverlauf eine Zielgerichtetheit und arbeitet dazu mit dem Verweis auf die Kontinuität ihrer Antriebe. Geschichte als der »bloße Vorlauf auf die je aktuelle Gegenwart des Denkens«193 sucht metakinetische Umbrüche zu vermeiden oder in eine Gesamtentwicklung zu integrieren, so oder so aber auf Distanz zu setzen. Entgegen geschichtsphilosophischer Entwicklungsvorstellungen richtet Blumenberg daher sein Augenmerk eben auf jene »paradigmatischen Situationen der Geistesgeschichte«,194 in denen sich die Erfahrung ursprünglicher Geschichtlichkeit Bahn gebrochen hat.

Nun könnte man meinen, der Historismus des 19. Jahrhunderts habe Blumenbergs Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Geschichte schon vorweggenommen. Mit Blick auf seine späteren quellengesättigten Werke wird Blumenberg davon sprechen, er habe »den Vorwurf des ›Historismus‹ immer als ehrenvoll empfunden«.195 In der Habilitationsschrift aber überwiegt die Abwehr der historischen Methode als Vergegenständlichung des Gewesenen zu historischen ›Tatsachen‹, die kausal miteinander in Verbindung gesetzt werden. Das »Werden der historischen Wissenschaft ist nicht das Werden des Sinnverstehens von Geschichte; es kann sein Gegenteil sein«.196 Dabei droht die Überführung des ehemals geschichtlich Andrängenden in distanzierte Verstandenheit. Als Gegenstand historischen Interesses wird die Geschichtlichkeit der Geschichte nicht angemessen verstanden. »Wie es ›eigentlich gewesen‹ ist, das bleibt gerade in der strengen gegenständlichen Bindung an die ›Tatsachen‹ verschlossen.«197 Blumenberg wird in seinen späteren Studien zur kopernikanischen Wende seine Hermeneutik der Geschichte formvollendet ausführen. »Mir erscheint als das aufregende geschichtliche Problem dieser Epochenwende«, führt er dort aus, »gerade nicht die Erklärung des Faktums der Leistung des Kopernikus oder gar die Versicherung ihrer Notwendigkeit, sondern die Begründung ihrer bloßen Möglichkeit am Ende desjenigen Zeitalters, das durch das geschlossenste dogmatische System der Welterklärung geprägt worden war.«198

Die Relativierung des Anspruchs der historischen Methode, allein anhand von Fakten die Dynamik der Geschichte nachzeichnen zu können, lässt Blumenberg seine Philosophie der Geschichte von einer reinen ›Rezeptionsgeschichte‹ absetzen. Immer wieder stellt er Bezüge zwischen Autoren, Texten und Positionen her, ohne dass für diese Verbindungsstiftung ein Rezeptionsverhältnis nachgewiesen werden kann. Daher haben seine Metaphernbücher wie Schiffbruch mit Zuschauer oder Die Lesbarkeit der Welt mit ihrem Durchgang durch die Geschichte der Leitmetaphern der abendländischen Geschichte etwas leicht Schwebendes, von einem Quellenfund zum anderen, ohne sich der Strenge und angestrebten Vollständigkeit einer rezeptionsorientierten Toposgeschichte zu unterwerfen. Noch den dabei mitunter auftretenden Eklektizismus der Quellenauswahl mag man als Abwehr jenes Anspruches ansehen, den eine historische Forschung prinzipiell zu erheben hat. In den Kategorien der ontologischen Distanz droht die Rezeptionsgeschichte zu jener Oberflächengeschichte fugenfreier Kontinuität zu verkommen, die die metakinetischen Einbrüche im geschichtlichen Hintergrund überblendet. »In allem, was eine vorwiegend literarisch-quellenkritische Forschung unter dem Titel der ›Rezeption‹ zusammengefaßt hat, ist eine unausdrückliche Sorge bemerkbar, die Kontinuität des Welt- und Selbstverständnisses zur Antike nicht durchbrechen und abreißen zu lassen, die großen Denker der Vergangenheit als ›auctoritates‹ nicht zu verlieren.«199

Es ist damit nicht unterstellt, Blumenberg habe die Erforschung von Rezeptionsverhältnissen gering geschätzt. In seiner Studie »Selbsterhaltung und Beharrung«200 etwa untersucht er penibel, ob sich stoische Anleihen im modernen Konzept der ›Selbsterhaltung‹ finden, welche Rolle Cicero dabei zukommt und inwiefern sich bei Newton und Spinoza ein Neuansatz des Konzeptes der conservatio sui, der Selbsterhaltung, aufweisen lässt; oder man lese den Aufsatz über »Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik«,201 um sich von der quellengesättigten Arbeit an der Rezeptionsgeschichte ein Bild zu machen, zu der Blumenberg fähig und willens war. Aber Blumenberg ist nicht bereit, sich durch Aufweisforderungen einer Rezeptionsgeschichte im philosophischen Ausdeuten des Quellenmaterials einengen zu lassen. Bei aller philologischen Genauigkeit, zu der er fähig war, hat er bis in die Gestalt seiner Bücher hinein von einer Philologisierung der Philosophie und ihrer Geschichte Abstand gehalten. Er hat das zu markieren gewusst, indem er keinesfalls jedes Zitat mit einem Quellennachweis versehen hat. Als penibler Arbeiter erlaubte er sich hier eine Freiheit gegenüber dem wissenschaftlichen Standard und wählte einen Ausdruck dafür, dessen strenge Methodik nicht teilen zu wollen. Einer, der so viel und aus entlegensten Quellen, oft in der Originalsprache, zitiert hat, wollte nicht als Philologe missverstanden werden. Damit ist keine Geringschätzung der Philologie verbunden – sein Mitarbeiter Karl-Heinz Gerschmann war Philologe –, wohl aber eine Selbstbehauptung der Philosophie als Philosophie.

Wie stringent Blumenberg seinen philosophischen Selbstanspruch zum Formprinzip seiner Texte hat werden lassen, lässt sich an einem weiteren Detail ablesen. Der »Anspruch der Erklärung macht die Historie notwendig zur Wissenschaft in der Dimension des Perfekts«,202 heißt es in der Habilitationsschrift. Um der vergegenständlichenden Ruhigstellung von geschichtlichen Phänomenen zu entgehen und das Geschichtliche als Phänomen hervortreten zu lassen, nutzt Blumenberg in seinen Darstellungen geistesgeschichtlicher Zusammenhänge sehr oft das Präsens.

Der historischen ›Tatsache‹ als Baustein von Erklärungszusammenhängen stellt Blumenberg schließlich und als Konsequenz seiner Art von Methode das ›Phänomen‹ gegenüber. Der gegenständlichen Auffassung von Geschichte widerspricht ihre »phänomenale Gegebenheit«.203 Was ist dabei mit dem Stichwort des Phänomens und des Phänomenalen gemeint? Es ist sinnvoll, hier Vorsicht walten zu lassen und nicht mehr Eindeutigkeit zu suggerieren als die Auskünfte Blumenbergs hergeben. Wirft man einen Blick in Blumenbergs Schriften, stößt man auf verschiedene Verwendungssituationen des Ausdrucks ›Phänomen‹: Da ist von der »Phänomenbasis«204 die Rede, es wird eine »Phänomenologie der Rezeption des Mythos«205 in Aussicht gestellt, ebenso eine »Phänomenologie der Bedeutsamkeit«206 und eine »Phänomenologie der Figur«.207 Zwar bietet Blumenberg gelegentlich »ein Stück historischer Phänomenologie«208 und nimmt in seinem letzten zu Lebzeiten publizierten Buch, Höhlenausgänge, die Aufgabe einer »Phänomenologie der Geschichte« ins Visier, fügt aber an: »sobald es sie geben sollte«.209 Es gibt sie also noch nicht, heißt das. Wozu dann die Rede vom Phänomen des Geschichtlichen, gar von einer Phänomenologie der Geschichte?

Die Philosophie, führt Blumenberg einmal aus, habe kein anderes Verfahren, »ihre ›Phänomene‹ zu konservieren, als sie zu beschreiben. Sogar wenn sie ihre eigene Geschichte schreibt, beschreibt sie das Hervortreten ihrer ›Phänomene‹, für die es keine andere Präparation gibt als eben diese Geschichte. Und wie das geschieht, ist wiederum eines ihrer ›Phänomene‹.«210 Während die ontologische Distanz auf die Eindeutigkeit des Zugriffs auf zum Gegenstand Gemachtes setzt, lässt eine phänomenologisch beschreibende Philosophie etwas hervortreten, was von der Beschreibungsweise nicht unabhängig gedacht werden kann. Diese Art von Phänomen erscheint und erhellt sich nur in der Beschreibung. Der mitunter vage Gebrauch der Begriffe ›Phänomen‹ und ›Phänomenologie‹ – letzteres nicht im strikten Sinne Husserls – mag seinen Grund darin finden, ein Phänomen nicht zwanghaft zum klar und deutlich abgegrenzten Gegenstand der Erkenntnis machen zu wollen. Damit verbindet sich die aus Einsicht gespeiste Vorsicht, »daß die Phänomene nicht nur Sachen unserer Demonstrationen sind« und der Theorie eine »beliebige und jederzeitige Zugänglichkeit der Gegenstände«211 nicht möglich ist.

Es gibt eine Vagheit des zu Erfassenden, eine Unschärfe des zu Bestimmenden, die ihren Grund in der Sache und nicht in einem Mangel der Methode hat. Es gibt ein »Dämmerlicht …, wo jeder Umriß, jede Andeutung dem Verstehen hilfreich werden kann«.212 Vorsicht gebiete die Erfahrung mit den »dialogtheoretischen Einführungszwängen für Begriffe«, denn immer wieder erweise sich »als eine der Illusionen im Umgang mit Theorien aller Art, daß von dem Bestimmungsgrad der Begriffe, die sie einführen und verwenden, ihre Qualität schlechthin abhinge«, dabei zeige sich doch oft, »daß die Strenge bei der Bildung oder Zulassung von Begriffen eher Sterilität begünstigt als präzisen Fortgang bewirkt«.213 Auch was ›Phänomen‹ sein soll, bedarf daher der behutsamen Beschreibung und sperrt sich gegen die vorschnelle begriffliche Definition. Immerhin gilt: »Was nicht zu ›erklären‹ ist, bleibe lieber im Ungeklärten als im Genügen einer prätendierten Verstandenheit.«214

Ein Mythos hilft hier weiter. In einer der anrührendsten Erzählungen unserer Tradition wird die tragische Geschichte eines Liebespaares erzählt, das sich gleich zweimal verliert. Zuerst trennt der Tod Orpheus und Eurydike, nachdem Eurydike von einer Schlange gebissen wurde. Doch durch die Kunst seines betörenden Gesangs kann Orpheus, der von seiner Geliebten nicht lassen will, die Herrscher der Unterwelt der Toten dazu bewegen, ihm Eurydike zu überlassen. Von seinem Gesang ergriffen, erfüllen sie seinen Wunsch, allerdings unter der Bedingung, er dürfe sich auf dem Weg aus der Unterwelt als Vorangehender nicht nach Eurydike umschauen. Beide haben schon fast die Oberwelt erreicht, als Orpheus nicht mehr an sich halten kann und sich nach seiner Geliebten umwendet, um sich ihrer Gegenwart zu vergewissern. Diesen Tabubruch bezahlt Orpheus mit dem erneuten und endgültigen Verlust Eurydikes. Sie sinkt ohne Wiederkehr zurück in das Dunkel der Unterwelt.

Dieser Mythos lässt sich auch philosophisch lesen, als Erzählung davon, was geschieht, wenn man mitunter Gewissheit zu erzwingen sucht. Dann stellt der Orpheus’sche Blick zurück den Sündenfall eines Denkens dar, das nach Gewissheit verlangt, wo sie nicht zu haben ist. Im Moment der Umkehr wird Orpheus zum Cartesianer, der Klarheit und Eindeutigkeit zu erzwingen sucht, wo allein die Kunst der Beschreibung phänomenerschließend gewesen wäre. Ernst Cassirer, ein äußerst behutsamer Führer aus der Unterwelt des Vorwissenschaftlichen, wusste genau um diese Gefahr des Entgleitens des theoretisch Bedachten. Bei der Bestimmung der Funktion eines vormythischen, eines vorlogischen und eines vorästhetischen Wahrheitsfundaments weist er auf diese Erschließungsproblematik hin, denn es scheint uns »diese Wahrheit um so mehr zu entgleiten, je mehr man sie zu fixieren versucht: d. h., je mehr man sie von vornherein auf ein einzelnes Gebiet ›festlegt‹ und sie ausschließlich mittels der Kategorien desselben bezeichnen und bestimmen will«.215 So leicht es sei, ergänzt Blumenberg, »den ausschließlichen Gebrauch klarer und distinkter Begriffe zu fordern und alles vom Tisch zu wischen, was der Strenge vorgängiger Begriffsklärung nicht genügt, so problematisch ist es, jene vielleicht noch flüchtige und wenig konturierte Gegenständlichkeit zu gefährden, die als Konvergenzpunkt bis dahin verstellter Aspekte aufzuspüren gerade der interdisziplinären Anstrengung obliegen sollte«.216 Und so leicht es ist, methodisches Vorgehen einzufordern, so wenig ist damit gewonnen: »Feststellungen zur Methode erklären ohnehin zumeist nicht viel«,217 heißt es lapidar und abschließend.

Hans Blumenberg

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