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7.

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Das Klappern von Damenschuhen drang bis hierher. Das Schlagen einer Tür klang wie eine Explosion. Das Schnarren eines Schlüssels, der umgedreht wurde, ließ Brosheim glauben, in ein Gefängnis gelockt zu werden. Ehrens fragte, ob Brosheim einen Schlüssel besitze, er habe seinen vergessen, obwohl er ihn heute unbedingt hatte abgeben wollen. Als Brosheim verneinte, forderte ihn Ehrens auf zu warten. Seine Schritte hallten lange in Fluren und Treppenhäusern. Brosheim schätzte danach die ungefähre Position des Mannes, dann wurde er abgelenkt von dem Rauschen der Heizung, das je länger er darauf achtete, desto mehr in seinen Ohren zu einem Dröhnen anschwoll. Er tastete nach einem Lichtschalter, weil er hoffte, dass im aufflammenden Licht das furchtbare Geräusch zusammenbrechen würde. Er fand keinen Schalter. In der hilflosen Wut eines verlassenen Kindes trat er zweimal gegen die Tür, vor der er abgestellt worden war, gezielt gegen das Schlüsselloch. Das Rahmenholz splitterte. Das vibrierende Blatt drehte sich langsam nach innen. Das herausgebrochene Rahmenstück stand schräg ab wie ein Schwert. Er betrat den Raum und drückte das Holzschwert vorsichtig nach unten. Es zerbrach unter dem Druck und fiel auf das Laminat. Brosheim beschwichtigte sich: Er war kommissarisch verantwortlich für diesen Teil und schuldete, wenn überhaupt jemandem, nur seinem Bonner Vorgesetzten Rechenschaft. Brosheim vergewisserte sich, dass der Raum nicht versiegelt war. Danach inspizierte er die Einrichtungen. Auf Tischen, in der Mitte des Raumes zusammengeschoben, fand er mehrere Bildschirme vor, deren Strippen in einem gemeinsamen Knäuel endeten. Die Rollschränke an den Wänden standen offen und waren nahezu leer. In einem Fach lagen eine Platine und zwei Exemplare eines Taschenbuchs über den zweckmäßigen Einsatz automatisierter Datenverarbeitungsanlagen, verfasst von einem Elektroingenieur namens Ehrens. Brosheim schob die Rollverschlüsse nach oben. Die weißen Stellen im Holz der Regale, negative Schatten, deuteten darauf hin, dass man den Inhalt kürzlich ausgeräumt hatte. Er ging zum Fenster. Aus den Ritzen der Fensterbank wuchsen Pflänzchen, in den Ecken bildeten sich Moospolster. Dort lag auch ein abgebrochener Fenstergriff, an dem Kalkspuren vergangener Renovierungen hafteten. Wahrscheinlich war in vielen Jahren nur das Oberlicht gelüftet worden. Brosheim untersuchte das Fenster, konnte jedoch keine Möglichkeit entdecken, es zu öffnen. Durch die fleckigen Scheiben schaute er auf das Gelände, wo bis vor kurzem die Mauer gestanden hatte. Es sah aus wie eine kiesige Baustelle ohne Baumaschinen, als wäre ein Messegelände oder eine mehrspurige Autobahn projektiert worden, und als wollte man gerade mit dem Bau beginnen.

Einen Augenblick, in dem einer, der unbeobachtet in einem aufgebrochenen Zimmer stand und nach Belieben Schränke aufrollen konnte, ohne dass auch nur eine Sekretärin auf dem Weg zu den Sicherheitsbeamten wäre, um ihn abführen und verhören zu lassen, einen solchen Augenblick hatte es seit dem Bestehen des Gebäudes nicht gegeben und er würde sich auch nie wieder einstellen. Brosheim räsonierte: Bald ist die Berliner Mitte vollgestopft mit Baumaschinen, für mindestens zehn Jahre. Die Mauerschneise wächst zu, und dieses Monstrum von einem Nazi- und SED-Ministerium wird leider nicht gesprengt. Nach dem Auszug der alten Behörden, die sich schnell einen neuen Namen haben geben lassen, zieht vollends die Treuhand ein, später vielleicht das Innenministerium. Und dieser Raum am Ende eines abgelegenen Flügels wird das Vorzimmer eines Abteilungsleiters oder Staatssekretärs.

Brosheim bückte sich nach einem Metallkästchen, das hinter dem Röhrenbein eines der zusammengeschobenen Tische lag, griff es und las das Klebe-Etikett. Er wusste auch so, dass er einen Transceiver in der Hand hielt. Er wog ihn. Dann rutschte das Kästchen aus seiner Hand und kurvte auf einer Bahn, die ihr Entstehen zwei Kräften verdankte, einer Wut-Kraft nach vorn gegen die Fensterscheibe und einer Scham-Kraft nach hinten, die aber nicht ausreichte, das Gleichgewicht herzustellen. Die Scheibe zerbarst, aber das Kästchen fiel nach innen zurück. Das angsteinflößende Geräusch zerbrechenden Glases musste man weit hören. Brosheim ging abermals zum Fenster, stieß mit dem Fuß den Metallkasten beiseite und steckte seinen Kopf durch das gesternte Loch. Er wollte sich, wie vermutlich andere auch, die das Geräusch gehört hatten, suchend hinauslehnen. Er sah in zweihundert Metern einen Trupp Bauarbeiter, die zur Baustelle Leipziger Straße gehörten. Sie schauten die Fassade entlang. Er winkte ihnen zu, aber sie drehten sich ab, als wäre es ihnen peinlich, aus dem Haus beobachtet zu werden. Brosheim lachte und trat zurück. Er horchte in den Flur und vernahm das Trappeln von Frauenbeinen und das Fallen eines Brettes, das einen schmatzenden Ton verursachte. Danach ein Lachen. Brosheim überlegte, ob er fliehen sollte. Aber er zog einen Stuhl heran und setzte sich. Die Schritte verklangen. Dann erwuchsen im Treppenhaus aus anfänglichem Kratzen wie von den Krallen eines Hundes auf Fliesen die Schritte eines Mannes.

Als Ehrens vor ihm stehen blieb, sagte Brosheim:

„Den Schlüssel hätten Sie sich sparen können.“

„Aber wieso denn, die Tür war abgeschlossen, vorhin.“

„Habe ich sie vielleicht eingetreten?“

„Natürlich nicht!“

„Ich brauchte sie nur anzutippen. Als Sie nicht wiederkamen, habe ich es probiert. Und voila! Sie haben nichts davon gewusst?“

„Ich schwöre es Ihnen!“

Ehrens machte hastige Schritte ins Zimmer und fummelte an Strippen, neigte seinen Kopf hinter Monitore. Dann streckte er sich und schüttelte den Kopf.

„Mir soll es ja egal sein, aber hier ist eingebrochen worden.“

„Vermissen Sie nichts? Keine Papiere?“

„Hier waren keine Papiere. Was für Papiere, denken Sie, waren hier? Ich habe Statistiken gemacht. Wie viel Elektroingenieure, wie viel Architekten, wie viel Mediziner, Lehrer undsoweiter. Die Zahlen haben wir sogar veröffentlicht.“

Brosheim saß auf dem Stuhl und dirigierte Ehrens mit dem Kopf. Er wollte wissen, was für ein Gerät neben dem Schrank lag, was in dem Schrank war, welcher PC die Rolle des Servers übernommen hatte, was sich auf dem Boden unter dem Tisch herumtrieb. Ehrens hob das metallische Kästchen auf.

„Ein Transceiver“, sagte er und legte den Gegenstand vorsichtig auf den Tisch, „ich komme nicht darüber weg, geklaut worden ist offenbar nichts.“

„Sie haben doch nicht allein in diesem Zimmer gearbeitet.“

„Nein, mit einem Kollegen, dessen Vertrag in einem viertel Jahr ausläuft. Er feiert drei Flure weiter mit den Leuten, die Ihr rausgeschmissen habt, Dr. Obert, ein Fachmann für Ökonomie.“

„Für was?“

„Ö-ko-no-mie.“

Brosheim stand auf.

„Ich werde alle Geräte so schnell wie möglich hier wegbringen lassen. Um sie weiterverwenden zu können, hätte ich gerne noch die Beschaffungsunterlagen.“

Ehrens verfärbte sich.

„Sie sehen ja selbst, wie es hier aussieht, alles leer, und ich habe sie nicht in meiner Hosentasche.“

„Sie wollten sich doch etwas holen?“

Ehrens ging zum Schrank, sah in den fast leeren Regalen nach und griff zu dem Taschenbuch. Er lachte bitter.

„Können Sie haben.“

Er warf es Brosheim zu.

„Ihr Werk?“

„Ich bin einer von drei Autoren.“

„Das war aber nicht, was sie gesucht haben?“

„Na, ich seh schon, hier ist es nicht mehr. Ich dachte, es wäre noch hier.“

„Was denn?“

„Privatsachen. Fotos.“

Er ging zum anderen Schrank hinüber, bückte sich und zog eine schwankende Schublade heraus.

„Schrott.“

Unter Drähten und zerbrochenen Platinen zerrte er Broschüren hervor und warf sie neben sich auf den Boden. Brosheim machte keine Anstalten, einen Blick darauf zu werfen. Er sagte:

„Also, ich habe jetzt alles gesehen. Wie komme ich hier wieder weg?“

Ehrens stieß die Lade zurück und erhob sich. Er händigte Brosheim den Zimmerschlüssel aus.

„Ich habe Obert schon gesagt, dass er den Schlüssel nie wieder sieht. Er gehört jetzt Ihnen.“

Ehrens nickte in die Richtung eines Computers.

„Um den tut es mir leid. Passen Sie gut auf ihn auf. Das Ganze hier ist seine Hunderttausend Mark wert, DM. Ich habe es Ende 89 für einen Vorzugspreis erstanden, darum gibt es auch nicht allzu viele Papiere.“

„Ein Papier genügt mir, der Kaufvertrag.“

„Von mir aus können wir jetzt.“

Statt zur Tür ging Ehrens noch einmal zum Fenster.

„Ohne Mauer sieht es auch nicht besser aus. Aber wird noch. Die Arbeiter haben die Scheibe kaputtgeschmissen.“

„Nein“, versetzte Brosheim, „wo wäre denn der Stein?“

„Mit Rache muss man jetzt rechnen. Es gibt eine Menge Leute hier, die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen.“

„Wenn es nach mir ginge“, sagte Brosheim, „dürften sie das ganze Haus einreißen.“

Er steckte das geschenkte Buch in seine Tasche und verließ das Zimmer. Ehrens folgte ihm und fragte:

„Was haben Sie vor? Wollen Sie irgend jemanden anzeigen?“

„Ach was, ich bin einfach nur schlecht drauf. Ich habe mich um diese Dienstreise nicht gerissen und außerdem viel zu kurz geschlafen. Hinzu kommt, wie soll ich es ausdrücken, meine Aversion, wie soll ich sagen. Es hat mit Ihnen nichts zu tun.“

Brosheim war stehen geblieben.

„Sie sind ein prima Kerl, möglicherweise. Ich kann es nicht beurteilen. Es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen.“

„Offengestanden …“

„Ich kann es auch nicht erklären, jedenfalls nicht so, dass Sie oder ein anderer es direkt verstehen könnten.“

„Es ist wahrscheinlich zu hoch für uns im Osten.“

„Quatsch. Sie verstehen das falsch.“

„Das sage ich doch.“

„Es geht um nichts, was man im Osten weniger verstehen könnte als anderswo. Es ist mein Problem. Was man sagt, ist falsch. Ich bin mit dem Denken nicht nachgekommen. Die Welt ist rund, überall gibt es Arschlöcher. Wir stehen auf derselben Kugel. Was fangen Sie damit an?“

„Nichts. Es stimmt, aber kein vernünftiger Mensch kann etwas damit anfangen.“

„Eben.“

Brosheim legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Und Ehrens:

„Sie tun so, als wäre ich vom Mond und spräche eine Sprache, die Sie grundsätzlich nicht verstehen. Wenn ich MS-DOS sage, wissen Sie doch, wovon ich rede, obwohl ich bei Robotron gearbeitet habe und Sie bei IBM, nehme ich an. Zugegeben, ich hatte die Erlaubnis, an die Giftschränke zu gehen, ich hatte, um es für Sie verständlich auszudrücken, Zugang zur westlichen Literatur, wollen Sie mir daraus einen Vorwurf machen?“

„Ich unterschätze überhaupt nicht, dass wir uns über Technik unterhalten können.“

„Wollen Sie sich mit mir vielleicht auch noch über Marxismus-Leninismus unterhalten, über ML? Interessiert mich nicht. Abgehakt. Die Kommunisten waren nicht die Schweine, wie Ihr denkt. Aber bitte. Weg mit Schaden. Der Genosse Erich hat mir persönlich nichts getan, anderen ja, weiß ich, also weg damit. Ich weine ihm keine Träne nach. Ich war nicht in der Sakristei, Kirche hat mir nicht gelegen, ich war auch nicht mit Kerzen auf der Straße, ich war kein Held, aber blöde bin ich auch nicht. Dass der Laden so nicht weiterlaufen konnte, wussten alle hier. Ich habe oft mit den Leuten, auch aus der SED, darüber gesprochen. Und was haben die getan? Genickt haben sie, ganz bedächtig und dabei in die Ferne geglotzt, weil ihnen nichts mehr einfiel. Bin ich nach Bautzen deswegen gegangen?“

„Andere sind.“

„Die SED hatte sich selber zum Erbrechen satt.“

„Ich sollte mich eigentlich freuen, dass alles so glatt ging. Zu schön, um wahr zu sein. Eine Diktatur weniger auf der Welt. Alle sind happy.“

„Alle happy? Im vorigen November waren sie es noch. Jetzt fragen Sie mal ein paar Ihrer Leute Unter den Linden, aber passen Sie auf, dass Sie genügend Abstand wahren. Ich habe mit euch keine Probleme. Wie Ihr Geschäfte macht und Projekte durchzieht, das liegt mir, das kommt mir entgegen, das macht mir gar nichts. Das habe ich vor der Wende auch machen können, mit kleinen Einschränkungen natürlich. In dem Raum, wo wir eben waren, hatten wir auch Pläne gemacht, hatten denen gesagt, wie man es machen könnte. Mal gab es eine Belobigung, mal den väterlichen Rat, nichts zu überstürzen. Jetzt haben sie die Büchse aufgemacht und die Flöhe schwirren durch die Gäjend. Wir Jüngeren haben keine Probleme mit euch, und ich wette, mein Einkommen ist jetzt schon höher als Ihres.“

„Wette gewonnen. Ich frage mich, ob Sie der neue Ostdeutsche sind oder nur eine Ausnahme.“

„Wie viele Ostdeutsche kennen Sie?“

Brosheim entfaltete seine Finger:

„Den Pförtner, Gisela und Sie.“

„Und? Welches Gen ist anders? Ich sage Ihnen: gen Gen, null Gen für DäDäÄrr. Ihre drei Ostdeutschen sind trotz ML völlig verschiedene Typen.“

Brosheim ärgerte sich, dass der junge Mann ihm erklärte, was er für seine eigene Philosophie ansah. Außerdem fühlte er sich elend. Ihn bedrückte die vandalistische Tat an der Tür und seine Unfähigkeit, in diesem Augenblick präzise erklären zu können, was prinzipielle Gleichheit bei individuellen Unterschieden bedeutet. Denn er hätte gerne diesen einen Grundsatz seiner Philosophie ins Gespräch gebracht. Stattdessen sagte er:

„Der Pförtner ist ein Pförtner wie überall auf der Welt, soweit ich die Welt von ihrer Pförtnerseite her kenne. Als Kind bei meinem Onkel in der Fabrik und als Werkstudent: Pförtnerbegegnungen. Also zugegeben, ML hat keine neuen Pförtner hervorgebracht. Und Gisela ist sehr patent.“

„Das haben Sie schnell mitgekriegt, Sie Oberschiedsrichter.“

„Und Sie sind mir genauso unsympathisch wie eine Reihe von Kollegen in Bonn. Also alles in bester Ordnung. Wenn ich Sie zu einem Bier einladen dürfte?“

Der junge Mann schwankte. Dann schnellte er seine Hand vor und sah auf die Armbanduhr.

„Ein andermal, würde ich sagen.“

Sie waren auf dem Treppenabsatz in der Eingangshalle stehen geblieben.

„Erklären Sie mir schnell die Aversion, von der Sie geredet haben.“

„Erklären Sie mir schnell, wo die Rechnungen sind, die Sie mir vorenthalten haben.“

„Ein andermal, würde ich sagen.“

Er reichte Brosheim die Hand. Brosheim nahm sie widerwillig. Er litt keine Deutschen (Männer weniger als Frauen). Darin war er schlimmer als ein amerikanischer Jude. Eine nur teilweise erklärliche Inländerfeindlichkeit, die er bei sich spürte, hier stärker als zu Hause, machte er für seinen Missmut verantwortlich, obwohl die kollektive Antipathie gegen Deutsche doch auch typisch deutsch war und gegen den eigenen philosophischen Grundsatz verstieß. Er hätte ebenso gut eine Abneigung gegen Aborigines fassen können, denn er glaubte nicht, dass sie besser seien als Deutsche, aber sie trugen wenigstens nicht diese Uniformen und hatten nicht diese Kartoffelgesichter. Die Kartoffelgesichter, die er für typisch hielt, die ihm besonders bei Beamten und Rentnern auffielen, verglich er mit den Gesichtern der Duse und des Prinzen de Broglie, deren Portraits ihm vorschwebten. Er verließ die Halle, ohne den Ausweis vorzuzeigen. „Hallo“, rief der Uniformierte. Brosheim machte Front gegen ihn. Dann fiel ihm rechtzeitig ein, dass er noch einmal hierher müsse, und er sagte einfach: „Rufen Sie im Ministerium an.“ Dann ging er und ließ den Wächter in großer Verblüffung zurück. Brosheim dachte: Heisenberg hatte auch ein Kartoffelgesicht. Diese Kartoffelgesicht-Philosophie taugt nichts. Es liegt nicht an den Gesichtern. Es liegt an den Konzentrationslagern. Daran war die DDR nicht schuldiger als die BRD. Also bitte etwas freundlicher.

Auf dem Weg durch die Otto-Grotewohl-Straße, die ehemalige Wilhelmstraße (die sicherlich bald wieder so heißen würde), fand er zu sich selbst und zu seiner Rede, die er gerne vor Ehrens gehalten hätte, um ihm auf eine philosophische oder philosophisch erscheinende Weise zu erklären, dass er von dem Wessi-Ossi-Dualismus nichts hielt. Wie oft hatte er sich geärgert, wenn es hieß, dass die eine Hälfte der Welt die andere nicht verstehen könne, dass trotzdem die „westliche Wertegemeinschaft“ dem Rest der Welt ihre Grundwerte aufzwingen wolle, und dass dieses Unterfangen vergeblich sei, weil die vielen Menschen jenseits von NATO und EWG völlig andere, nämlich prinzipiell verschiedene Grundwerte besäßen, die man nur tolerieren müsse und nicht zu verstehen brauche. Dieses Argument erschien verführerisch, weil es scheinbar tolerant daherkam. Tatsächlich war es rassistisch, denn es leugnete die Fähigkeit zur Verständigung und postulierte verschiedene, quasi genetisch fixierte „Mentalitäten“, die eine Teilhabe an gemeinsamen Grundwerten vereiteln.

Wenn ich schon die Verschiedenheit zur Grundlage meines Denkens mache (so Brosheim zu sich und dem imaginierten Ehrens an seiner Seite), dann stelle ich als erstes fest, dass ich nicht einmal meine westdeutschen Nachbarn verstehe. Sie kommen mir manchmal vor, als gehörten sie nicht nur einer fernen irdischen Kultur an (wenn überhaupt einer Kultur), sondern einer extraterrestrischen. Ich verstehe sie nicht, oft nicht, obwohl wir dieselbe Sprache sprechen, denselben Gesetzen gehorchen müssen und von denselben öffentlichen Einrichtungen profitieren. Trotzdem, es lohnt sich nachzuforschen, worin alle Menschen oder wenigstens die meisten übereinstimmen. Und da habe ich die wunderbare, paradox anmutende Entdeckung gemacht, dass mir Menschen entfernter Kulturen in vergangenen Zeiten sehr nahe sein können, und dass ich sie manchmal besser verstehe, als ich meine Verwandten je verstanden habe. Es gibt anrührende altägyptische und alttestamentarische Texte, zu denen ich einen sofortigen Zugang finde (natürlich nicht nur ich). Aber viel einsichtiger als die übersetzten Zeichen-Texte, die uns räumlich und zeitlich so weit entfernt erscheinen, sind die Gebärden-Texte, die jeder Mensch vom anderen abliest. Dabei brauche ich mir nichts darauf einzubilden, dass ich einem Aborigine oder einem Jemeniten nachempfinden könnte, wenn er glücklich, wütend oder traurig ist (wie viele Aborigines kennst du?), nein, darin verstehe ich auch meine westdeutschen Nachbarn, mögen sie mir sonst so fremd vorkommen wie Seekühe. Denn ihre Grundbedürfnisse sind meine. Wenn ich sie in Rechnung setze, dann weiß ich viel mehr über meine Nachbarn, über alle Menschen, als wenn sie mir ihre Welt durch künstliche Zeichen erklären würden, also durch Worte oder Briefe. Selbst da, wo sie wütend auf mich sind, erkenne ich doch dreierlei: dass sie respektiert werden möchten, dass sie nicht fremd bestimmt sein wollen und dass sie hilfebedürftig sind. Das trifft auf meine Nachbarn (selbst die, die ich nicht leiden kann und die mich nicht leiden können) ebenso zu, wie auf Afghanen, Eskimos, Mecklenburger, Chinesen und Franzosen (um nur sie zu nennen). Das heißt aber doch: Die Menschenrechte, die Freiheitsrechte, die Menschenliebe sind Werte, die nicht nur der „westlichen Wertegemeinschaft“ zugehören, sondern allen. Die großen Drei der französischen Revolution, Liberté, Egalité, Fraternité, drücken Menschheitswünsche aus. Dass es sich so verhält, beweist außer der Empathie auch die Tatsache, dass in Ländern jenseits der „westlichen Wertegemeinschaft“ Geheimpolizisten und Folterknechte existieren. Sie sind der treffende Beweis dafür, dass meine Ideale auch in jenen Ländern vorherrschen. Sonst gäbe es die Unterdrücker nicht! Dort sind Menschen, die sehen und verstehen wie ich. Wir sind nicht abgeschnitten, wir haben noch die Rückzugswege zueinander. In dem Verstehen, das ich bei anderen entdecke, liegt der Glaube an die Erkennbarkeit und die Objektivität der Welt begründet. Ohne ihn versänken wir im Solipsismus.

Brosheim war zufrieden mit sich. Aber diese Zufriedenheit, die nicht lange dauerte, machte ihn auch wieder misstrauisch: Hatte er nicht übertrieben? Das Gefasel von Aborigines und Chinesen? War der Zugang zu Ossis nur möglich über gemeinsame Menschheitswerte? Waren Ossis nicht Deutsche und daher für ihn, einen Deutschen, besser zugänglich als Pharaonen, Propheten und Franzosen? Er konnte sich nicht entscheiden.

Mauerstreifen

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