Читать книгу Mauerstreifen - Jürgen Jesinghaus - Страница 6
2.
ОглавлениеBrosheim war der erste Gast. Die Frau hinter dem Tresen sagte:
„Du kannst bleiben.“
„Ich geh nur kurz um die Ecke und esse was.“
„Niemand hält dich fest, aber wenn es das ist, mach ich dir eine Bohnensuppe.“
„Aus der Büchse?“
„Was denn sonst.“
Sie war eine Rothaarige in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid. Er schätzte sie auf vierzig, mochte sich aber nicht festlegen.
„Willst du jetzt schon oder später?“
Er gefror und schaute sie an, so dass sie mit ihrer Raucherstimme auflachte.
„Wollen Sie jetzt einen Drink oder möchten der Herr warten, bis er gespeist haben?“
„Jetzt ein Guinness.“
„Nee, ich geb dir eine Weiße mit Schuss. Du bist zum ersten Mal hier. Ich kenne jeden, der reinkommt, und wenn nicht, muss ich schnell entscheiden, ob ich ihn rausschmeiße oder nicht.“
„Danke“, sagte er, „hast du schon mal einen rausgeschmissen?“
„Lassen. Ich seh es den Leuten an.“
„Was siehst du ihnen an?“
„Ob sie Stunk machen wollen. Ich seh es auch daran, was sie anhaben. Du zum Beispiel bist auf der Schreibstube.“
„Ich zum Beispiel bin Großmarktvertreter. Das soll ich jedenfalls – auf Rat eines Bekannten hin – behaupten, wenn ich in die Halbwelt abtauche.“
„Also hör mal!“
„Ich bin auf der Schreibstube, du hast recht.“
„Bei Vatern Staat? Geht mich nichts an. Du hast den ganzen Tag gearbeitet, willst was für die Gemütlichkeit tun und trotzdem deiner Frau später in die Augen sehen können, in die Kuckerchen.“
„Ich bin nicht verheiratet.“
Sie stellte ihm die Weiße auf den Tresen, frottierte sich die Hände an einem Tuch und verschwand in einer schwarzen Ecke. Er kam jetzt dazu, sich in der Bar umzusehen. Sie war einem Wohnzimmer vergleichbar, einer Straußenwirtschaft, ihrer Größe nach zu urteilen, ausstaffiert allerdings mit rötlich schimmerndem Mobiliar. Er tippte auf Kirsche oder Mahagoni und beschloss, die Bardame zu fragen (vergaß es aber). Die wenigen Tische standen auf einem Podium, gegeneinander abgegrenzt durch Messing-Geländer. Sehr spät, nachdem er sich an das indirekte Licht gewöhnt hatte, bemerkte er, dass der Boden voller Münzen lag. Er wunderte sich, dass er sie beim Hereinkommen übersehen hatte, und traute sich nicht, vom Hocker zu steigen, um die Währung festzustellen. Er würde es in Gegenwart der Dame tun.
Sie reichte ihm in einer dicken, roten Tasse die Bohnensuppe und drückte ihm eine halbe Schrippe in die Hand.
„Du bist nicht aus dem Osten“, sagte sie.
„Wieso? Hätte jemand aus dem Osten die Nüsse vom Boden geklaut?“
„Blödsinn.“
„Aus Bonn“, sagte er.
„Ah, von ganz von oben! Der Westen wimmelt jetzt von Ossis, aber ich habe hier noch keinen gesehen. Darum frage ich, ob du von drüben bist. Wäre ein Jubiläum.“
„Du hast es vielleicht nur noch nicht gemerkt.“
„Ich merke das, ich rieche es, ich sehe das und höre es auch.“
„Bei mir warst du aber nicht sicher?“
„Dich kann man schwer erraten.“
„Trotzdem hast du mich hereingelassen, ohne einen Knopf zu drücken und deinen Rausschmeißer zu rufen?“
„Instinkt mit Restrisiko.“
„Ist das schmeichelhaft für mich?“
„Das ist doch nicht wichtig für dich“, sagte sie, ließ dabei ihre Stimme rauh durch die Kehle und beugte sich zu ihm:
„Nun iss!“
Die Tür wurde aufgerissen und herein schneite, zu schwungvoll für den kleinen Kellerraum, ein aufgedunsener Mann in eleganter Kleidung.
„Lässt dich auch mal sehen?“ fragte die Frau und erhob sich von ihren Ellbogen.
„Hi“, sagte er, „gib das Telefon rüber. Hast du einen Drink für mich übrig?“
Er schien Brosheim nicht zu beachten. Die Dame erfüllte ohne Gemütsregung die Wünsche des Mannes, der sich den Apparat herangezogen hatte und sich verrenkte, um eine Zigarette anzuzünden. Brosheim war froh, sich mit der Bohnensuppe beschäftigen zu dürfen. Er hatte Angst, von ihm angesprochen und herumkommandiert zu werden. Ihm war nicht nach Schlägerei. Jemand, der seit vier Uhr morgens herumhängt, schlägt sich nicht gerne, darum vermied er alles, was das Interesse des Mannes auf ihn ziehen könnte. Dieser wählte zum wiederholten Mal, dann nahm er die Zigarette aus dem Mund. Brosheim spürte, wie er ihn als Blickfang benutzte, als wäre er ein Plakat an der Wand oder eine Fliege auf dem Tisch. Er spürte die Wut hochkriechen. Jetzt brauchte es nicht viel, und er würde selbst eine Schlägerei beginnen! Der Mann hatte sich wieder abgewandt und telefonierte. Dabei lächelte er die Barfrau an, die hinter dem Tresen zwischen den beiden Männern stand, von jedem gleich weit entfernt. So bekundete sie ihre Neutralität. Obwohl Brosheim nicht zuhören wollte, achtete er doch auf das Gespräch und schaute dabei auf die Barfrau, die wie ein heiliges Opfer die Blickspeere auf sich zog. Der Mann orderte telefonisch eine Pizza in die Wohnung seiner Freundin, soviel war klar. Dann wählte er ein zweites Mal und bestellte weiße Rosen zu derselben Adresse, aber für eine halbe Stunde früher als die Pizza. Bei der Blumenbestellung gab es Schwierigkeiten. Der Mann wurde barsch, er sprach aber leiser. Dann fand er plötzlich zu seiner lauten Höflichkeit zurück und legte zufrieden auf.
„Die Leute wollen nicht immer, wie man will“, rief er zu Brosheim hinüber.
„Kein Wunder bei den Zeiten.“
„Schwere Zeiten, Sie sagen es, wird bestimmt besser, seh ich schon vor mir, die von drüben. Aber das große Geld fehlt noch! Wird schon werden, wenn Vater Staat mit den Piepen rüberkommt.“
Er schwang sich vom Hocker und legte einen Zehner auf den Tresen. „Ciao“ und verschwand in der geschäftigen Eile, wie er gekommen war. Brosheim versöhnte sich mit ihm. Sie hatten wie ordentliche Geschäftsleute miteinander gesprochen.
„Weiße Rosen“, sagte die Bardame, „sind in, rote Rosen sind out.“
Das wusste Brosheim nicht und nahm es deshalb wortlos zur Kenntnis.
„Früher hat mir der Kerl nur Moosröschen mitgebracht.“
„Kennst du ihn?“
„War mein Mann, habe ihn rausgeschmissen wegen Geldgeschichten. Ich bin aus Hamburg. Ich war zu alt für meinen Job und habe mich hier zur Ruhe gesetzt.“
Sie wandte sich ab und hantierte an der Kasse, als wollte sie Brosheim Zeit lassen, alles richtig zu begreifen.
„Ich hätte“, meinte Brosheim, „dir jedenfalls keine Moosröschen mitgebracht, sondern richtige Rosen, nicht so kleine.“
„Ach du großer Gott! Steck ihn wieder in die Hose. Du machst mir doch keine Komplimente?“
„Ich könnte einen Aquavit vertragen.“
„Na also.“
Wie gerufen trat ein Thai herein und bot Rosen zum Verkauf. Die beiden Anwesenden lachten, und der Thai lächelte in seiner geduldigen Güte.
„Du bist zu früh dran“, sagte die Barfrau. Brosheim machte keine Anstalten, einen Rosenstiel zu kaufen (er hatte sich eben albern benommen). Er kam sich vor wie ein Inspizient. Die Kellerbar war eine kleine Bühne. Die Schauspieler traten durch den Vorhang, der die Eingangstür von dem warmen Raum trennte. Sie hatten ihre kleinen Auftritte und verschwanden wieder. Und die Bardame war der Gegenstand des Stückes. Der Aquavit wärmte ihn, er verlor seine Müdigkeit, ein schlechtes Zeichen für den nächsten Tag, den er in einem Büro der neuen Dienststelle dösend würde zubringen müssen. Die Aussichten, von hier aus ein Zimmer zu bestellen, waren fast Null. Vielleicht hätte er den Exgatten der Bardame danach fragen sollen. Der sah ihm so aus, als hätte er sofort eines organisieren können. Er musste es wenigstens noch einmal versuchen.
„Ich komme gleich wieder“, sagte er.
„Geh nur.“
Am Vorhang angekommen, schlug er beide Hände gegen die Jacke.
„Ich habe nicht bezahlt. Entschuldige! Ich hatte es vergessen. Wie viel macht es?“
„Geh nur, zahl später.“
„Das ist mir peinlich, aber jetzt bezahle ich. Ich muss nur kurz telefonieren.“
„Du gehst raus, nur um zu telefonieren?“
„Ich muss mich um ein Zimmer kümmern.“
„Du gehst raus, nur um zu telefonieren? Geh nur, du kannst hier auch telefonieren, aber geh nur!“
Er schlug sich gegen den Kopf.
„Ich habe doch kaum getrunken, trotzdem bin ich aus der Rille, ich bin einfach zu lang auf den Beinen. Wenn ich bei dir telefonieren dürfte?“
„Du darfst.“ Sie war beleidigt. „Fluchtverhalten“, sagte sie.
„Nein wirklich, du musst mir glauben, ich wollte nicht abhauen, ohne zu bezahlen. Ich bin ja gottseidank selbst drauf gekommen. Gib es zu.“
„Du wolltest einfach raus, weg von hier. Mit dem Bezahlen hat das gar nichts zu tun.“
Sie trocknete Gläser und hielt sie gegen das Licht, um zu prüfen, ob Flusen daran hafteten.
„Ich wäre bestimmt wiedergekommen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ich sollte mir ein Zimmer besorgen, jetzt sofort, weil ich sonst keines mehr kriege.“
Sie lächelte und sagte nichts.
„Es war blöd von mir. Wichtig ist nur, dass du mir glaubst, ich wollte nicht ohne Bezahlung abhauen.“
Er nahm sein Portemonnaie aus der Jackentasche und warf es ihr zu.
„Behalt es, bis ich bezahlt habe.“
„Nimm das wieder oder ich schmeiß es dir an den Kopf!“
Sie warf es ihm gegen die Brust.
„Wenn du willst, kannst du gehen. Ich halte dich nicht.“
„Ich will ja gar nicht gehen.“
„Du kannst aber. Niemand hält dich.“
„Ich möchte hier bleiben“, sagte er kleinlaut.
„Er möchte hier bleiben, weil er draußen auf der Straße kein Zimmer findet!“
„Willst du, dass ich gehe?“
„Ich denke, du willst telefonieren? Du bist ja nicht der erste, der von hier aus telefoniert!“
Sie stellte ein Glas ab, reichte ihm das Telefon und zog das gelbe Buch hervor. Dann stützte sie sich auf den Tresen und schaute ihn an.
„Hast du Angst vor mir?“
„Nein, Virginia Woolf. Ich bin übermüdet, nur etwas durcheinander.“
„Mit dir ist also heute nicht mehr zu rechnen?“
Er blickte sie an. Die Hitze stieg in seinen Kopf und verteilte sich brennend über die Backen.
„Bestimmte Sachen kann ich immer.“
Sie nickte einige Male.
„Nur telefonieren kannste nich.“
„Ich habe keine Nummer.“
„Draußen auf der Straße hättest du eine gehabt?“
Der Vorhang wurde auseinandergeschlagen. Eine Mischung aus Boxer und Schäferhund zog einen Mann hinter sich her, der Mühe hatte, das Tier festzuhalten.
„Namt. Sauwetter.“
„Hallo. Regnet es?“
„Das nicht.“
„Kalt geworden?“
„Nicht eigentlich.“
„Ungemütlich?“
„Könnte man sagen.“
Er schaute sich um. Brosheim wählte eine Nummer. Absage. Er musste sich anhören, wie man ihn auslachte: Aussichtslos, Sie hätten sich viel früher darum kümmern sollen! Der Neue hakte den Hund von der Leine. Nachdem der Boxer (oder was es sein sollte) an Brosheim geschnüffelt hatte, irrlichterte er durch den Keller und scharrte in den Münzen, dass es klingelte wie auf dem Weihnachtsbasar. Die Dame schien an diesen Vorgang gewöhnt zu sein. Sie protestierte nicht über den umtriebigen Gast, der sich in den Schankraum verdrückte. Hinter der Theke stöberte er einen verpackten Broiler auf, zerriss das Papier, ohne dass jemand versucht hätte, ihn daran zu hindern. Dann floh er unter einen Tisch. Brosheim blätterte lustlos in dem gelben Buch.
„Wo ist die Karlstraße?“
„Kennst du die Karlstraße?“ fragte die Dame den Hundebesitzer, der sich die Hände rieb.
„Die Karlstraße? Ich kenne keine. Der Herr meint die Karlsruher Straße.“
„Die Karlstraße.“
„Sie meinen sicher die Karlsruher oder die Karl-Marx-Straße, wau, nichts für ungut.“
Brosheim ließ die Blätter zwischen Zeigefinger und Daumen hindurchgleiten.
„In Bonn gibt es eine Karl-Max-Straße.“
„Da hat der Kohl das R rausnehmen lassen, politisch korrekt, völlig wau-wau“, entgegnete der Herr.
Brosheim reichte das gelbe Buch zurück. Er tat ihr leid, und daher sagte sie entschuldigend zu dem Hundebesitzer:
„Er kommt nämlich aus Bonn.“
„Wau. Der Karl Marx kommt doch auch aus der Gegend. Was habt Ihr denn mit dem?“
„Gar nichts. Ich brauche ein Zimmer.“
„Versuch es doch mal im Charlottenburger Hof“, warf die Dame beschwichtigend ein, „und dann nochmal hier vorne in Arnulfs Pension.“
„Nein, die heißt anders, liegt aber drei Häuser weiter.“
Brosheim sagte:
„Wenn sie hier vorn ist, schau ich doch selbst nach.“
„Nur ein paar Häuser weiter links.“
„Soll ich nun zahlen?“
„Du zahlst nachher und schaust, dass du rauskommst. Vergiss diesmal den Mantel nicht, es ist ungemütlich draußen.“
Brosheim ging hinaus und schöpfte tief Luft. Er überlegte, ob er rein theoretisch gesehen abhauen könnte, und tastete seinen Mantel und die Jacke ab, ob er nichts dagelassen hätte. Die Hängetasche. Werde nicht vergesslich, alter Junge! Aber selbstverständlich hatte er gar nicht vor abzuhauen. Er blickte in die Straße, nach links, nach rechts. Nichts, was auf ein Hotel oder eine Pension hindeutete. Er fragte eine Frau nach einer Pension Arnulf oder so ähnlich, aber sie schüttelte unwirsch den Kopf, als wollte sie sagen, dass sie auf der Straße nichts kauft. Er schritt fünf Häuser nach links und kehrte dann in die Bar zurück. Nun hatte er seinen eigenen Auftritt auf der kleinen Bühne. Der Hundebesitzer rieb sich noch immer die Hände oder schon wieder. Er ließ Brosheim auf dem Hocker Platz nehmen, bevor er sagte:
„Die Pension ist in der Parallelstraße. Sie müssen, wenn Sie rauskommen, zuerst nach links, dann über die Ampel, dann kommen Sie auf den Holtzendorffplatz, dann halten Sie sich links und da ist dann die Pension Arnold, in der Karlsruher Straße.“
„Es ist kalt“, versetzte Brosheim nur.
„Ja, ungemütlich draußen.“
„Bleib hier“, sagte die Barfrau, „ein Hotel kriegst du sowieso nicht mehr. Du müsstest dir ein Zimmer schon mit zwei anderen teilen. Berlin ist voll bis obenhin.“
Alle drei bestätigten sich gegenseitig, dass Berlin voll sei und dass Berlin eine Veränderung durchgemacht habe, dass die Preise gestiegen und die Hotels trotzdem monatelang im voraus ausgebucht seien. Aber Bros-heim verspürte keine Lust, die Veränderung beim Namen zu nennen. Er fühlte sich müde und wollte die Meinung der anderen über die Wiedervereinigung nicht hören. Den anderen erging es ebenso. Sie waren leer von Politik. Der Mann erzählte, dass Aquavitfässer jahrelang übers Meer gefahren würden, um sie durchzuschütteln, bis der Schnaps aus den Eichenbrettern der Fässer den berühmten Goldstich gesogen hätte. Die Dame ließ sich abwechselnd von beiden zu Likören einladen und berichtete, dass sie, solange sie im Dienst ist, noch nie besoffen war.
„Ab und zu reißt mir der Faden, wenn ich morgens mit einem guten Kunden losziehe, um bei einem Bekannten, außerdienstlich sozusagen, einen Schlaftrunk zu nehmen, nur so zum Vergnügen.“
„Wau!“
Die beiden Männer hörten ihr zu, als berichtete sie über Abenteuer und schreckliche Bräuche in einem fremden Erdteil. Der Hund lag auf den Münzen und schlief. Um Mitternacht kam ein Mann zum Schweigen herein. Er bestellte einen Chablis und versank in Schwermut.
„Der einzige Ort in Berlin, wo man nicht totgetrampelt wird“, sagte der Hundebesitzer zu ihm.
Nach Theaterschluss fanden sich noch vier Gruppen ein, die dafür sorgten, dass sich der Keller füllte und laut wurde. Aus einer Tür hinter dem Tresen trat eine junge Person, eine schöne Frau, die ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid anhatte. Die Lippen sahen in ihrem bleichen Gesicht schwarz aus, eine Tochter Juliette Grécos gewissermaßen, die sich am Tresen zu schaffen machte. Die beiden Damen sprachen leise miteinander. Die junge Person beendete das Gespräch mit einem energischen Kopfnicken und blickte die Gäste an, die hinter dem Lichtvorhang, der zwischen Deckenleuchte und Tresen im Zigarettenrauch schwankte, über ihren Gläsern sannen, als warteten sie auf ein Ereignis, das ihr Leben ändern würde. Brosheim spekulierte, dass die junge Person, eine Aushilfe, die auch nach Mitternacht prompt eingesetzt werden konnte, wenn die Nachfrage es erforderte, die ganze Zeit über im Hinterzimmer auf den späten Andrang der Gäste gewartet und sich mit Lesen die Zeit vertrieben hatte. Bonjour Tristesse. Er hielt es für ausgemacht, dass sie die Tochter der Bardame und eine Studentin war.
Die Bardame erschien ihm nun milde und mütterlich. Sie hatte ihre Wachsamkeit an die junge weitergereicht und wirkte alt. Aber plötzlich war es ihm, als machte sie ein Zeichen mit dem Kopf, ihr ins Hinterzimmer zu folgen. Brosheim unternahm mehrere Versuche, sich zu vergewissern. Er hob die Brauen, zeigte mit dem Finger gegen sich. Sie zog schließlich mokant ihre Lippe hoch und trat unter den Lichtvorhang, dass ihr Haar in reinem Kupfer erstrahlte.
„Wenn ich dir sage: komm, musst du kommen.“
Er stand auf und folgte ihr. Vor der Toilettentür hielt sie ihn auf, fasste das Revers seiner Jacke und sah ihn alt an.
„Hör mal zu, Schmusekater, ich gebe dir einen Schlüssel.“
Sie hob mit der anderen Hand kurz zwei Schlüssel vor seine Augen und stopfte sie dann in seine Hosentasche, dabei stieß sie durch das Futter auf etwas wie einen aufgepumpten Schlauch.
„Du machst jetzt Rechnung bei mir, gehst dann in die Dahlmannstraße, die dritte Querstraße rechts, wenn du rauskommst. Kannst du das behalten? Bei der Nummer 319 nimmst du den Schlüssel mit der Delle, hast du verstanden, und schließt die Haustür auf. Nimm nicht den Fahrstuhl, um diese Zeit benutzt du nicht den Fahrstuhl, sondern schleppst dich selber in die vierte Etage, vergiss das nicht, die vierte Etage!
Sie zischte ihn an.
„Du hörst mir nicht zu!“
Brosheim konzentrierte sich auf ihre Augen, die ihn schwarz anschauten.
„Bleib mit deinen Kuckerchen bei mir und rühr sie nicht von der Stelle, damit ich sehe, ob du begreifst, was ich sage. Ihr Männer seid zu dämlich. Du schließt die Etagentür auf.“
„Welche Etagentür?“
„Du denkst mit, Schmusekater, es gibt nur die eine Etagentür, direkt vor deiner Nase, wenn du aus dem Aufzug rauskommst, aber du nimmst den Aufzug nicht, hast du das verstanden? Du schließt sie auf und gehst leise, wie gehst du? ganz leise durch den Flur und machst kein Licht an. Du schleichst dich durch den Flur und stößt mit deinem Döskopp gegen eine Zimmertür, durch die du dich dünn machst. Hast du das kapiert? Du machst die Tür hinter dir zu und kannst meinetwegen Licht anknipsen. An der Wand hängt ein Van Gogh, das ist dein Zimmer für die Nacht. Pipi machst du, wenn du rauskommst erste Tür rechts. Ist das zu viel für dich? Das Zimmer mit den Gladiolen, du musst es auf Anhieb finden, okay? Du hast das alles verstanden?“
Er grinste und bestätigte ihr, dass er alles verstanden hatte.
Brosheim fand alles so vor. Das Zimmer enttäuschte ihn. Es sah zwar besser aus als ein Hotelzimmer, eher wie ein selten und dann ungern aufgesuchtes Wohnzimmer, in dem alles akkurat an seinem Platz stand. Ihr Zimmer war es nicht. Genau genommen hatte er das auch nicht erwartet. Es war nur eine Hoffnung zweiten Grades, die ihn daran denken ließ. Hoffnungen zweiten Grades gehen niemals in Erfüllung oder bestenfalls nur einmal im Leben, und das hier war nur eine Hoffnung übungshalber, denn was erhoffte er sich von einer vierzigjährigen Ex-Nutte? Das Vertrauen, ihn in ihr eigenes Zimmer zu lassen? Er hatte gehofft, dass sie ihm vor allen anderen Gästen vertraut. Frauen geben ihren Schlüssel nicht so schnell aus der Hand, und wenn sie es endlich tun, hat man schon zweimal mit ihnen geschlafen. Brosheim suchte das Bild, das sie extra erwähnt hatte, nach Mustern und Zeichen ab, die etwas bedeuten könnten. Aber der Kunstdruck, aus einem Kalender gerissen und gerahmt, blieb ausdruckslos, reine Oberfläche. Er zog sich aus und legte sich ins Bett, nachdem er eine schwere bestickte Schondecke aufgeschlagen hatte.