Читать книгу Mauerstreifen - Jürgen Jesinghaus - Страница 8
3.
ОглавлениеBrosheim wachte kurz vor Mittag auf und hörte Schritte auf dem Flur. Er stieg aus dem Bett und zog sich an. Er hatte einen halben Arbeitstag verschlafen, denn er war einen Tag mit Reisen und Zimmersuche beschäftigt gewesen. Ihm blieb noch dieser Nachmittag, und morgen würde er zurückfliegen. Brosheim trat beherzt aus der Tür und traf auf eine Dame, die dabei war, die Wohnung zu verlassen. Sie drückte die Tür wieder ins Schloss und wünschte guten Morgen.
„Haben Sie gut geschlafen? Ich habe Sie nicht mehr kommen hören.“
Sie ging an ihm vorbei in die Küche und zeigte ihm eine Thermoskanne und wo das Brot zu finden war.
„Aufstrich im Kühlschrank. Übernachtung inklusive Frühstück macht 60 Mark. Legen Sie es dort in die Schublade, ich habe es leider eilig, eine Verabredung, die ich nicht verpassen darf. Die Schlüssel, die Ihnen meine Tochter gegeben hat, legen Sie am besten dazu.“
„Natürlich“, sagte Brosheim, „selbstverständlich. Könnte ich mir, vielleicht heute Abend, eine Quittung abholen und gleich zum Übernachten dableiben?“
Die Frau blieb in der Küchentür stehen und sah ihn belustigt an.
„Wer den Schlüssel hat, der hat das Zimmer. Behalten Sie den Schlüssel, aber ich bin auf jeden Fall zu Hause. Sie können auch morgen zahlen, wenn Sie wollen, macht dann 120.“
Sie war bereits an der Wohnungstür, als sie ihm zurief:
„Ich habe keine Rechnungsvordrucke, ich bin noch nicht dazu gekommen. Wegen der Abrechnung mit der Firma, nicht wahr?“
Die Tür schlug zu und Brosheim blieb, wie er wähnte, allein in einer fremden Wohnung. Er fühlte sich als Einbrecher. Er wollte nicht wahrhaben, dass diese Frau von vorhin ein so großes Vertrauen in ihre Tochter haben sollte, und diese Tochter ein so großes Vertrauen in ihn. Ein Riesenbluff, dachte er. Er machte auf dem Gästeklo Katzenwäsche und putzte sich die Zähne. Dann setzte er sich, nachdem er alles zusammengetragen hatte, was zu einem Frühstück gehört, und saß und kaute in einer stillen Wohnung, in einer Nebenstraße des Westens. Dass Berlin überlaufen sein sollte, mochte er in diesem Augenblick nicht glauben.
Als Brosheim darüber nachdachte, wie er sich aus dieser Lage befreien könnte, ohne eine Spur in diesem seltsamen Gasthaus zu hinterlassen, und als er die nächstliegende Lösung dieses Problems in die Tat umsetzen wollte, nämlich das Geld zu hinterlegen, aus dem Haus zu fliehen und nie wieder zurückzukehren, da bewegte sich die Küchentür, die nur angelehnt war. Jemand stieß sacht die Türe auf, so dass es aussah, als öffnete sie sich von selbst. Herein schlurfte ein Mann, etwa im Alter der Frau, die vor zwanzig Minuten die Wohnung verlassen hatte, aber viel gebrechlicher. Er stützte sich auf einen Stock, dessen Bodenende aus einem wuchtigen Gummipfropfen bestand. Der Mann blickte Brosheim entgeistert an. Brosheim hielt im Kauen inne und riss die Augen auf. Für was musste der Alte ihn halten? Der Mann in Pantoffeln trug eine Weste über einem blaukarierten Hemd. Um seinen Hals schlang sich ein Schal. Alles an dem Mann hing herab, die Haare, die Tränensäcke, die bläulichen Wangen, die Lippen. Die Hosenbeine wurden durch keine Falte gestützt. Sie hingen am Gürtel, der über keinen Bauch zum Umspannen verfügte. Der Mann war mager. Es sah aus, als hätte er sich gerade jetzt, zur Frühstückszeit, dazu entschlossen, sein Krankenlager zu verlassen. Er bewegte sich vorsichtig auf den Küchenschrank zu, wie um Brosheim nicht zu reizen, nicht zum Aufspringen anzustacheln. Er bewegte sich fast seitlich und hielt dabei seinen Kopf gesenkt. Brosheim beschloss, gar nichts zu tun, und vergaß darüber, einen Gruß auszusprechen. Der Alte kannte die Stelle, wo Brot und Aufstrich zu holen waren. Er versorgte sich mit den Restbeständen und schlurfte zum anderen Tischende. Dort ließ er sich auf dem Stuhl nieder. Und wie verwandelt durch die Berührung des Stuhls, der ihm Selbstvertrauen und Kraft verlieh, sagte er auf einmal, ohne Brosheim anzusehen:
„Bring mir eine Tasse und einen Teller.“
Brosheim tat, als hörte er nicht, und kaute auf dem längst zu Ende gekauten Brotbrei in seinem Mund, hoffend, der Mann möge ihn für ein Gespenst halten und in Ruhe lassen. Der Alte seufzte tief und wollte sich erheben, was ihm sichtlich Mühe bereitete, als Brosheim ein Einsehen hatte und möglichst bestimmt wirkend rief:
„Bleiben Sie sitzen, ich hole Ihnen Teller und Tasse.“
Der Alte sah ihn dankbar an.
„Sie sind der Mann?“ fragte er.
„Welcher Mann?“
Der Alte erschrak und überlegte. Fürchtend, er könne als Antwort hören, was ihn enttäuscht, schwieg er und wartete, bis Brosheim alles vor ihn hingestellt hatte. Dann fragte er fast flehend:
„Die Messer?“
Brosheim vergewisserte sich, ob noch mehr fehlte, und brachte ihm das Messer und die Thermoskanne. Er fand sich plötzlich in der Lage eines Pflegers. Er bediente den Alten, und der dankte es ihm durch freundliche Blicke.
„Ich wohne hier“, sagte er auf einmal, „ich habe vergessen, wie ich heiße.“
„Haben Sie denn keinen Ausweis?“
„In meinem Ausweis steht nicht der richtige Name.“
„Wie lautet denn der Name in Ihrem Ausweis?“
Der Alte deutete mit magerem Finger auf die offene Tür und bewegte ihn auf und ab.
„Hol mir die Jacke.“
„Lassen Sie nur, keine Umstände, wenn es doch nicht der richtige Name ist.“
„Hol mir die Jacke!“
„Darf ich zu Ende frühstücken? Dann werden wir weitersehen.“
Der Alte machte wieder seine Anstalten, sich zu erheben und auf die Hilfe seines Pflegers zu verzichten. Brosheim kam ihm abermals zuvor. Im Stehen nahm er noch einen Schluck aus der Tasse. Kauend bequemte er sich in den Flur und brachte die einzige Jacke, die dort hing. Der Alte griff gierig nach ihr und nestelte nach einer Brieftasche. Aber statt eines Ausweises zog er eine Fotografie hervor und reichte sie Brosheim zum Anschauen. Der erkannte die Bardame, die auf dem Bild etwa zwanzig Jahre jünger aussah. Er blickte abwechselnd auf das Bild und den Mann, um eine verwandtschaftliche Ähnlichkeit zu erkennen. Die Lüsternheit in dessen Augen erschreckte Brosheim.
„Sie ist eine Hure“, sagte der Alte, „sie ist verdammt.“
Er nickte bekräftigend und sein Grinsen entzerrte sich zu einem freundlichen Lächeln, das über jeden Zweifel in dieser Frage erhaben war.
„Du bist falsch informiert“, sagte Brosheim, „sie ist natürlich keine Hure. Du bist ein Hurenbock und hast dir beim Wichsen eine Gehirnerweichung geholt.“
Er sprach leise und nachlässig, weil er es nicht darauf anlegte, von dem Alten verstanden zu werden. Brosheim steckte das Bild in seine eigene Jackentasche. Der Alte kicherte.
„Ich hab noch mehr davon.“
Er stand auf, behender als bei seinen vorausgegangenen Versuchen, und lief in kleinen Schritten aus der Küche. Brosheim wollte unter diesen Umständen kein Geld zurücklassen. Daher schrieb er auf einen Zettel, den er aus seiner Tasche geholt hatte, seine Privat-Adresse und die Zusicherung, dass er heute Abend wiederkommen werde. Er legte den Zettel in die vereinbarte Schublade und, obwohl neugierig auf weitere Bilder der Bardame, zog er seinen Mantel an, nahm die Tasche und wollte verschwinden, als der Alte aus einem Zimmer in den Flur zurückkehrte und statt Bilder zu bringen eine rote Plastikpistole auf Brosheim richtete und fragte:
„Hast du bezahlt?“
Brosheim entgegnete:
„Ich zahle morgen, wenn ich abreise. Das ist so üblich.“
„Aha.“
Der Alte senkte das Spielzeug. Er überlegte, dann fiel ihm ein, dass er Bilder hatte holen wollen.
„Sie hat meine Fotos versteckt oder vernichtet. Sie nehmen mir alles ab“, sagte er tonlos. Brosheim holte die Fotografie hervor und gab sie dem Alten zurück.
„Sie ist keine Hure, sie wird in den Himmel kommen.“
Der Mann nahm zögernd das Bild entgegen und bedankte sich, dann bat er Brosheim zum Frühstück in die Küche. Brosheim lehnte vorsichtig ab, in die Küche zu folgen, und verabschiedete sich.
„Sind Sie ein Gast des Hauses?“ fragte er den Alten noch.
„Ein Gast?“
Der Alte dachte nach, er fühlte sich überfordert und antwortete im gereizten Ton:
„Ein Gast bin ich auf jeden Fall, denn ich wohne hier. Ein Gast, das kann man sagen. Ja, ich bin der Gast.“
Der Alte memorierte: ein Gast, der Gast, und ging eilig in die Küche, als müsste er sein neuerworbenes Wissen hinüberretten an einen sicheren Ort der Verwahrung, den er in der hellen Küche zu finden hoffte.