Читать книгу Mauerstreifen - Jürgen Jesinghaus - Страница 13
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ОглавлениеEs war erst halb zwei. Brosheim machte den kleinen Umweg zum Brandenburger Tor. Eine Bretterwand umgab es. Die Passanten konnten durch rechteckige Löcher Blicke ins Innere werfen. Brosheim spähte durch eines und sah vier gelbe Baumaschinen, die ungenutzt wie auf einer Ausstellung in einer Reihe standen. Ein Holzzaun versperrte das Mitteltor. Aus der rechten Hälfte war eine Tür herausgeschnitten worden, die halb offen stand. Kopfschüttelnd verließ Brosheim das Beobachtungsloch. Er passierte eine Reihe von Holztischen, auf denen Uniformen, Mützen, Litzen und Koppel der Roten Armee auslagen, darunter auch die Uniform eines Majors, für deren Echtheit ein Zertifikat bürgte, das in kyrillischen und lateinischen Buchstaben den Rang und die Herkunft ihres Trägers bezeichnete. Eine Gruppe Frauen wühlte an einem Tapeziertisch in Fahnentüchern, die dort auslagen, zogen gelegentlich eine Fahne heraus und hielten sie hoch gegen die Sonnenscheibe hinter der verschlissenen Wolkendecke. Sie prüften die Textur und die Maße. Brosheim beobachtete die Matronen und malte sich aus, wie die schwarz-rot-goldene Flagge sie kleiden würde, wenn sie ihre Köpfe durch das Loch steckten, wo sich einst Hammer und Sichel befunden hatten. Er entdeckte einen Karton ausgefranster Embleme, die jemand einzeln zum Preis von 5 Mark anbot. Diejenigen, die im heiligen Zorn die Fahnen von ihren Stangen gerissen und ihrer Sinnbilder beraubt hatten, sie hätten die Stoffreste nicht verbrannt und in den Müll geworfen? Um die Revolution zu verkaufen? Symbole wie ausgeweidetes Wild auf der Fleischerbank, geschlachtete Wappentiere. An einem anderen Tisch wurden Fahnen angeboten, die noch Hammer und Sichel im Ährenkranz zeigten, aber zu einem niedrigeren Preis als die gelöcherten. Bros-heim trat an den Tisch heran und suchte nach einem Anzeichen dafür, dass sie zu keinem anderen Zweck als der öffentlichen Demütigung gewebt oder gedruckt worden waren. Auf den übrigen Tischen und Stühlen, auf Zeltplanen und Brettern am Boden lagen Betonbrocken, die als Überreste der Mauer galten. Ein ziegelsteingroßes Exemplar, das durch die Enden abgesägter Moniereisen wie aufgespießt wirkte, farbenreich besprüht, kostete einen Hunderter, so dass Brosheim einen Augenblick an die Echtheit glaubte. Nach dem Zertifikat, das einem Eisen anhing, stammte der Mauerrest aus der Nähe des Übergangs Kochstraße. Verwaschene rote Farbkleckse wurden als Blut eines Maueropfers gedeutet. Neben diesem Exemplar existierten viele unansehnliche, die allein durch ihre Normalität als Bauschutt echt aussahen. Aber auch bunte Betonsplitterchen, mit der schriftlichen Empfehlung, sie zu fassen und als Schmuck um den Hals zu hängen, lagen aus zum Verkauf.
Nach dem Rundgang um das Tor, das zwecklos auf dem unbebauten Gelände die Stellung hielt, auf verlorenem Posten, von Bauholz umzingelt, blieb Brosheim an einer Getränkebude stehen, die auf dem Pariser Platz errichtet worden war, und kaufte eine Dose Mineralwasser. Er hatte auf nichts Appetit, brauchte aber einen Anlass stehenzubleiben und auf den Himmel zu schauen, der sich malerisch verändert hatte. Das Wasser schmeckte nach nichts. Es diente dazu, eventuellen Beobachtern in tieffliegenden Raumschiffen zu erklären, warum er, Brosheim, um den sich sonst keiner scherte, noch einmal innehielt, mitten auf dem Pariser Platz, wo es nichts zu sehen und zu hören gab, außer für Romantiker wie ihn und außer für versponnene, ihren Erinnerungen nachhängende Greise, die den Bombenkrieg überstanden hatten und den Aufmärschen hinterherhorchten, um ihre späte Genugtuung daraus zu ziehen, dass sie noch lebten, dass ihre Latschen den Platz berührten, wo jene Knobelbecher längst verhallt waren. Das schwarzweiße, das braune, das rote Preußen existierte nicht mehr, aber Dänemark lebte und Polen war noch nicht verloren.
Der Himmel stimmte ihn versöhnlich, erinnerte ihn an die Ägäis und ihre blauweißen Postkarten. Die frischen Ziegel der Großbaustelle Otto-Grotewohl-Straße leuchteten auf in der Sonne, die eben jetzt die letzten Dunstschleier abgeworfen hatte. Das Pittoreske der Ziegel unter dem Himmel voller weißer Ballen und taubenblauer Wände, das war Canaletto. Wie man es fertig bringt, Venedig und Dresden mit denselben Augen zu sehen! Das kann kein Politiker und kein Bomberpilot, das kann aber die Kunst. Brosheim näherte sich Berlin, der Mitte, dem eigentlichen Berlin, auf Umwegen: über die Ägäis, Venedig, Dresden (die Unschuld des Opfers). Heute morgen hatte Euler ihn umgestimmt, und jetzt versöhnte ihn der Himmel, zwar der reinen Anschauung noch nicht vollends zugänglich, nur begreifbar über griechische Postkarten und die weißblauen Anteile der Flaggen freier Nationen, auch der russischen Trikolore, die schon über einem Militärfahrzeug wehte, oberhalb der roten Sowjetfahne.
Weiß-Blau-Rot, der Berliner Himmel und die Ziegel der Grotewohlstraße halfen ihm, Begriffe auszugraben, die in seinem atlantischen Gedächtnis verschüttet lagen: Alexander, Tilsit, Baltikum, Döblin, Mendelssohn, Schlüter, Polen, Kosciuszko. Chodowiecki auf der Jannowitzbrücke, das Bild hatte er kürzlich beim Friseur in einer Illustrierten gesehen (Gisela nach der Jannowitzbrücke fragen). Und ob es nun der Menzel gemalt hat oder nicht: Menzel ist auch so ein Berliner Begriff. Brosheim wusste, wie man Chodowiecki korrekt ausspricht. Wer Fußball gespielt und noch die Oberliga West erlebt hatte, der war firm, die polnischen Namen der Kicker aus dem Ruhrgebiet richtig zu artikulieren: Szepan, Szimaniak, Abramczik. Der konnte auch Kubicki richtig aussprechen (dazu war nicht einmal der Bildungsminister, obwohl FDP-Mitglied und Schalke-Fan, in der Lage). Brosheim musste sich Berlin gewaltsam ins Gedächtnis zurückrufen. Dann würde ihm vieles wieder einfallen, was er von Jugend auf kannte, was aber vernachlässigt, vergessen in ihm schlief.
Wir haben nie an Berlin gedacht, obwohl es immer gegenwärtig war, allein durch die Sondermarke, die Mauer und durch Willy. Wir dachten in den Kategorien von Bill Haley, Elvis, den Beatles und Marilyn Monroe, in den Kategorien des Spiegels und der Sun (Samantha Fox, Gail McKenna). Trotzdem war ihm noch vieles Preußen-Deutsche dunkel erinnerlich, ohne es beleuchtet zu haben und darum ohne erleuchtet zu sein: Helmholtz, die Humboldts. Der Mathematiker Eisenstein, jung gestorben, der kommt doch auch aus Berlin (Eisensteinsches Irreduzibilitätskriterium, es hat dir eine Klausur gerettet). Wenn er erst einmal mit den Mathematikern anfinge!
Oder der verkannte Tüftler Zuse, der in zehn, in zwanzig, vielleicht auch erst in hundert Jahren zu den IT-Größen gezählt wird, und als Kuno See seine dilettantischen Ölgemälde in den Labors der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung ausstellen durfte, in einem Dorf am Rhein. Zuse und Schreyer, die Computer-Genies aus Berlin, schneller als die Amis und durch die Nazis um den Ruhm gebracht. Röhren und Glimmlampen, der Rundfunk und die Elektrotechnik. Wenn er erst einmal mit der Technik anfinge und sich ein Hobby daraus machte, zu untersuchen, was alles in Berlin zusammengelaufen war, um zu tüfteln und zu produzieren!
Leberecht Hühnchen hatte Brosheim als Junge gelesen, eine Berliner Geschichte, ihr Autor Seidel war Ingenieur wie er. Ein anderes Jugendbuch fiel ihm ein, nicht für „Knaben“, aber herzzerreißend auch für ihn: Königin Luise von Marie von Felseneck. Der Tod der jungen Königin hatte ihm ans Herz gegriffen wie dem armen Johannes der Tod des Vaters in Andersens Märchen. Wie gut man die zufälligen Namen der Kindheit behält! Das erste Erwachsenenbuch: Theodor Pliviers Stalingrad, ein Buchgeschenk zur Konfirmation. Und Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, vom Lehrer zur gefälligen Lektüre in die Hand gedrückt, vom Lehrer Kramer, der dreierlei damit auszudrücken wünschte: den Tadel über den Diebstahl einer 33er Platte (Rock around the clock), das Lob über die schnelle Schülerantwort, die ihm selbst, Kramer, eine neue Erkenntnis bereitete (e hoch Pi ist größer als Pi hoch e) und drittens den Wunsch, wenn schon Flegel, dann belesene Flegel zu unterrichten (ein Lehrer alter Schule). Kam Kramer nicht aus Berlin? Und Brecht, seine belehrenden Stücke, gut für kritiklose Verehrung! Aber an die Schüleraufführung der Mutter Courage erinnerte sich Brosheim gern. Ein Mädchen aus seiner Klasse (Susanne) hatte die Courage gespielt, und keiner hatte gefeixt (denn sie stand unter seinem Schutz, weil er einmal mit ihr Eis essen gegangen war). Wenn er erst einmal mit den Schriftstellern anfinge! Da würde einiges zusammenkommen, ohne auf die Nennung Fontanes angewiesen zu sein.
Wir dachten in den Kategorien des Adenauer-Deutschlands, die so berlin-fern waren (obwohl doch Adenauer auch eine Berliner Karriere hinter sich hatte). Sieh dir das katholisch-altkatholische Bonn an mit seinen hausdorff-j üdischen und bultmann-protestantischen Einsprengseln. Ist Berlin, außer im Straßennamen, der die Erinnerung an die deutsche Einheit wachhalten sollte, an die niemand von ihnen geglaubt hatte (nicht einmal nach dem Mauerfall), ist Berlin nicht unaufdringlich auch immer in Bonn gegenwärtig gewesen? Die alte Anatomie am Ende des Hofgartens stammt von Schinkel. Im Vorhof des Restaurants Kaisergarten steht in Marmor Wilhelm I., allerdings nur zu Fuß, etwas despektierlich, rheinisch eben. Für uns war es der Kartätschenprinz, der Reaktionär, der Gipfel des preußischen Junkertums – und nicht (das wusstest du nicht) der Sohn Luises, der gütigen, schönen Mecklenburgerin. Eher verächtlich als ängstlich haben wir darauf verzichtet, ihn mit Farbbeuteln zu bewerfen, und ihn stattdessen im Schatten der Kastanien ostentativ unbeachtet gelassen. Seine Geschichte war nicht unsere. Denn unsere begann mit General Eisenhower und Carlo Schmidt. Die Ausstellungen, die wir besuchten, hießen Westkunst, Pop Art, Guggenheim Collection, Informel. Aber Schadow und die Prinzessinnen? (Frau Bardeleben fragen, ob sie weiß, wo die Figurengruppe steht, und ob sie vielleicht mitkommt). Hardenberg und vom Stein: Das roch nach den geölten Gängen und dem strengen Putzmittel alter Schulen. Mendelssohn-Bartholdy und die Italienische – Erinnerungen an die Musikstunden des „Huhnes“, so hieß bei den Schülern der Musiklehrer, der sein Ohr gegen den Weltraum neigte, der Verteidiger des Klassischen gegen Rock. Die Reformer, Künstler – Schatten der Unterwelt, nicht ernst genommen, verdrängt. Die Mauer hat auch uns deformiert, uns um die Hälfte des Erbes gebracht (um die „größere Hälfte“ hätte Fontane gesagt) – die Mauer, ja, aber in erster Linie die Nazis und der Krieg.
Jetzt stand Brosheim in dem scharfen Wind unter diesem Himmel (wie beschrieben), goss den letzten Schluck kalten Wassers in sich hinein. Fühlte er sich wohl? Wie ein Passagier auf dem Weg zur Arktis sich wohlfühlt, auf der Dünung bei sommerlicher Fahrt nach Spitzbergen, Frösteln gemischt mit Neugier. Aufbruch in Berlin-Mitte. Er würde aufpassen müssen: Die alten Erinnerungen und die neuen Eindrücke nahmen Brosheim in die Zange, waren getrennt marschiert, würden vereint schlagen (Moltke, auch so ein Verdrängter). Da wird einiges über mich zusammenbrechen, mich herumschleudern! Wenn es eine Volksabstimmung darüber gäbe, ob Berlin wieder Hauptstadt werden soll, würde ich für Berlin stimmen? Mal schauen, was Frau Bardeleben rät.
Brosheim zerdrückte die Weißblechbüchse und warf sie in einen aufgespannten Plastikbeutel. Während er zurückging unter die Linden, überlegte er, ob er bei dem aufgeklarten Wetter nicht weitergehen sollte, über die Friedrichstraße hinaus, Richtung Insel und Berliner Dom, um sich die Reste Berlins anzusehen, die Berlin an Paris erinnern, anders als die Ödnis des Pariser Platzes, auf dem sich die Touristen verliefen und nur in der Nähe des nutzlosen Tores Trauben bildeten. Aber Brosheim bog dann doch, aus Bequemlichkeit oder Pflichterfüllung, das wusste er selbst nicht, zu der unscheinbaren Eingangstür seiner Dienststelle und erkundigte sich bei dem Pförtner, den er schon kannte, nach dem Leiter der Fahrdienstbereitschaft. Der Pförtner beschrieb ihm den Weg zur Kantine und empfahl ihm, den nächsten, der ihm begegnete, nach dem Aufenthaltsraum der Fahrer zu fragen. In der Kantine saßen zwei Frauen und ein Mann, die keine Gelegenheit boten, sich ansprechen zu lassen. Sie nahmen Brosheim nicht wahr. Sie bemerkten ihn, aber sahen nicht zu ihm hin. Hätte er sie angesprochen, wären sie womöglich aufgestanden und davongelaufen. Jede dieser Personen hielt eine Dose Bier in Händen. Er war sich nicht sicher, ob sie würfen, wenn er sich durch Akzent und Ortsunkenntnis als Wessi zu erkennen gäbe, oder ob er sich alles nur einbildete.