Читать книгу Mauerstreifen - Jürgen Jesinghaus - Страница 9
4.
ОглавлениеBrosheim fragte sich durch zum S-Bahnhof Charlottenburg. Er ging durch eine Poterne zu der Treppe, die ihn auf den zugigen Bahnsteig brachte, von wo laut Plan ein Zug Richtung Erkner fährt. Ein Bahnhof und zugig. Brosheim erwog die Doppelbedeutung, grinste für sich, schaute sich um und dachte: Wie der Bahnhof einer Mittelstadt, in Niedersachsen beispielsweise. Der Bonner HBF erschien ihm gedrängter. Dieser war auseinander gezogen, auf einer Ebene gut verteilt. Kein Fremder vermutet eine brandende Großstadt im Umkreis einer Autostunde. Brosheim begab sich unter das T-Dach und stolzierte zu einer Bank mit hoher Rückenlehne aus Holz. An Bonner Verhältnisse gewöhnt, richtete er sich auf eine lange Wartezeit ein und packte sein Paperback aus der Umhängetasche, blätterte es auf und begann zu lesen.
Er fühlte etwas auf seine Schulter fallen, leicht wie Pappe. Deshalb drehte er sich zur Seite und fand neben sich den blutverschmierten Verschluss einer Zigarettenschachtel. Er renkte den Hals und bemerkte eine Gestalt, die ihm den Rücken zuwandte und in das Studium eines Fahrplans vertieft war. Er konnte sich nicht entschließen, den Mann, der diese Gestalt war, anzusprechen. Darum rückte er sich zurecht und las weiter.
„Darf ich dich mal was fragen?“
Brosheim setzte sich schräg, um besser zu hören.
„Hast du was dagegen, wenn ich dich duze?“
Blut tropfte herab. Ein Jüngling, der eine Intellektuellenbrille trug, mit runden Gläsern dicht vor den Augen, stützte sich auf die Holzlehne. Er kniete auf einem Sitz der anderen Seite.
„Nichts dagegen“, sagte Brosheim, „es macht aber nur Sinn, wenn wir uns unterhalten möchten. Wollen wir das denn?“
Er merkte, dass der Intellektuelle sich schlecht konzentrieren konnte. Der junge Mann blickte fragend durch ihn hindurch. Brosheim sprach weiter:
„Hast DU die Klappe der Schachtel fallen lassen?“
Plötzlich erinnerte sich der Mann, warum er das Gespräch begonnen hatte.
„Hast du mal Feuer?“ fragte er.
„Leider nein, ich rauche nicht.“
„Darf ich dich mal was fragen? Was liest du für ein Buch?“
Brosheim zögerte mit der Entgegnung, weil er Lektüre für eine intime Sache hielt. Aber er kannte keinen vernünftigen Grund, außer diesem, die Antwort zu verweigern. Bevor er antwortete, schaute er auf die Anzeige, ob ihm die Bahn aus der Verlegenheit hülfe.
„Mailers Monroe-Biografie.“
„Zeig.“
Widerstrebend drehte er das Buch und ließ zu, dass Marilyn Monroe den blutenden Mann anlächelte.
„War dieser Schriftsteller nicht mal Soldat? Gegen die Japse?“
„Gegen die Japaner.“
„Den kenn ich.“
Während der Mann sich in den Anblick des Titelbildes vertiefte, fragte Brosheim (damit die Vertiefung nicht zu penetrant geschähe):
„Was hast du mit der Hand gemacht?“
„Mit was für einer Hand?“
„Der Hand, die meine Lehne vollblutet. Gehört sie dir nicht?“
„Nein. Was soll ich damit? Ich bin arbeitslos.“
„Der Schnitt ist gefährlich.“
Der Mann zog seinen Blick von MM und schaute wild auf Brosheim.
„Ich hab so ein scharfes Ding, daran hab ich mich geschnitten! Mir sind alle Weiber weggelaufen.“
„Du hattest ja so viele!“
„Die zwei, die ich hatte, die hatten mich. Zwei Weiber sind klüger als ein Mann.“
„Das wäre ja mehr als das halbe Zugeständnis an die Gleichberechtigung.“
„Ich war Feminist! Wir lassen das Thema!“
„Der Schnitt ist wirklich gefährlich.“
„Er tut dir nichts.“
„Er ist gefährlich für dich, weil er sich entzünden kann. Die Lehnen sind eine ideale Brutstätte für Bakterien.“
„Meinst du, das wüsste ich nicht? Vier Semester Chemie und Biologie! Der Schnitt ist desinfiziert, ich hab in die Scherben einer Schnapsflasche gepackt.“
„Du solltest zur Bahnhofsmission.“
„Liegt mir nicht. Ich hab das Soziale hinter mir, jetzt kommt der blanke Egoismus. Auf die steh ich.“
Er zeigte auf das Buch, das Brosheim auf seine Schenkel zurückgelegt hatte, bereit, weiterzulesen, wenn der Mann die Bahnhofsmission aufsuchen würde. Aber er machte keine Anstalten, die blutverschmierte Hand von dem Holz zu lösen.
„Ich steh auf ihre Brüste, die tätowierte Rose unter ihrer rechten Brust.“
Brosheim belehrte ihn:
„Frau Monroe hat sich meines Wissens nicht tätowieren lassen.“
„Wie alt bist du?“
„Nicht mehr der Jüngste.“
„Wie jetze.“
„Von uns beiden der Ältere.“
„So redest du auch. Was ist daran schlimm, wenn ich ihre Titten bewundere? Was soll daran schlimm sein? Ich wollte, jemand würde meine Eier bewundern. Es ist eine Menge, was sie uns zeigt. Es ist nicht das Schlechteste, was ein Mensch zu bieten hat!“
Brosheim nickte. Dagegen konnte er nichts einwenden.
„Ja, das ist viel. In den frühen Aufnahmen und in ihrem letzten Film ist sie uns nackt erschienen. Viele können das Wunder bezeugen.“
„Samantha Fox hat auch Wunder vollbracht.“
„Auch Frau Fox hat uns Wunderbares offenbart. Ihr Wandel ist nicht zu verachten. Aber wenn sie James Joyce gelesen haben sollte, dann hat sie es niemandem mitgeteilt. Sie hat auch niemals mit Laurence Olivier gedreht. Denn diesen Film hätte ich bestimmt gesehen!“
„Du bist schon weit in deinem Buch gekommen? Ich kann nicht mehr lesen. Es fällt mir schwer, eine Seite zu lesen. Ich bin darauf angewiesen, mit Leuten zu reden, sonst bin ich verloren. Ich könnte mich eben so gut in einer unbeleuchteten Telefonzelle einschließen, bei der sie den Hörer abgerissen haben. Darf ich dich mal was fragen? Sind Bilder in dem Buch? Bilder versteh ich am besten.“
„Nein.“
Brosheim wollte die Bilder nicht zeigen, nicht einmal einem Monroe-Schwärmer. „Darf ich dich mal was fragen? Es sind keine Bilder in dem Buch?“
„Das Buch besteht aus lauter geschriebenem Text, ein Wort gibt das andere.“
„Willst du mir was Spezielles damit sagen?“
„Außerdem ist es in Englisch geschrieben.“
„Parlez-vous anglais? Lisez-vous des livres anglaises?“
Brosheim sah, wie das Blut auf den Sitz neben ihm tropfte.
„Habe ich dich beim Lesen gestört?“ fuhr der Mann fort, „gehörst du zu denen, die nicht reden wollen?“
„Ich rede doch mit dir – solange bis die Bahn kommt. Frau Monroe ist vor 45 Jahren gestorben, vor ziemlich genau 45 Jahren. Wie alt bist du?“
„Sie war 20 Jahre tot, als ich geboren wurde, eher mehr.“
Dem Enthusiasten zitterten die Lippen, und er strich mit der Hand über die Stirn, als wollte er dort die Träne wegwischen, die er seinen Augen – als Egoist – nicht erlaubte. Mit hochschnellender Hand schleuderte er einen Tropfen Blut auf Brosheims Backe. Der fühlte ihn wie einen Bleitropfen. Vorsichtig, um sich nicht ruckartig bewegen zu müssen, griff er sein Taschentuch und wischte ihn ab, indem er fest aufdrückte, um das Blut restlos in das Tuch zu pressen. Er legte es auf den Sitz neben sich. Die abgetupfte Stelle pochte.
„Darf ich dich mal was fragen? Gibst du mir den Lappen?“
Brosheim reichte ihn langsam hoch. Es gelang dem Enthusiasten, das Taschentuch um die verletzte Hand zu winden, ohne die Hilfe Brosheims zu beanspruchen, der sich innerlich schon zum Samaritertum entschieden hatte. Er beobachtete den Menschen, bereit zu helfen, aber nur im äußersten Notfall, und begriff deshalb zu spät, dass er mit der Bahn, deren Türen klappten, zur Friedrichstraße hätte fahren sollen.
„Verdammt. Ich hab die Bahn verpasst.“
„Für dich ist ihr Tod 45 Jahre her, für mich erst 20“, sagte der Enthusiast und gab Brosheim einen Anlass, über Logik nachzudenken.
„Ich darf also keine Frage stellen?“ hörte er den Mann fragen.
„Doch, bis die nächste Bahn kommt – verdammt nochmal.“
„Die Bahn bestimmt dein Leben, sie ist dein Schicksal. Eine Unterhaltung mit dir ist ziemlich anstrengend. Bist du Professor oder was? Ich hätte dich gern mal was gefragt: Nämlich warum du auf sie stehst.“
Er deutete mit dem Kopf auf das Buch. Brosheim antwortete hinhaltend, während er den Westen nach Bahnen absuchte:
„Sie hat etwas Schwesterliches, lässt viele Projektionen zu.“
„Was?“
„Projektionen!“ Brosheim wedelte mit den Fingern. Er wusste nicht genau, sollte er auf sich projizieren oder auf den gegenüberliegenden Bahnsteig (Frau Monroe stand ja nicht zur Verfügung).
„Du kannst dir bequem aussuchen, als was du sie sehen willst. Kapiert?“
„Ja natürlich, Mann.“
„Sie hatte mindestens so schlechte Karten wie du.“
„Ich habe lauter Luschen, Alter!“
„Auch wer Luschen hat, ist noch im Spiel. Frau Monroe jedenfalls hatte ganz schlechte Karten. Trotzdem hat sie es nach oben geschafft. Die Königin von England empfing sie, der amerikanische Präsident und sein Justizminister schätzten sie, der Papst hätte sie auch gerne kennen gelernt, und sie war die Frau eines berühmten Schriftstellers. Aber …“
„Der Kerl hat sich nichts aus ihr gemacht, das weiß ich zufällig.“
„Blödsinn. Was weißt du! Er hat sie geliebt. Alle haben sie geliebt. Alle! Sie haben es nur nicht richtig rübergebracht. Sie sind ihr vieles schuldig geblieben.“
„Man hat sie gekreuzigt!“ schrie der Enthusiast, der um die Bank gelaufen und vor Brosheim hingetreten war, eine Hand fest auf die verbundene andere Hand drückend. Die Leute auf dem Bahnsteig drehten sich um.
„Es gibt ein Poster, wie sie am Kreuz hängt, in dem gerüschten Kleid. Sie sitzen alle unten herum: Humph Bogart, Cary Grant, Marlon Brando, John Wayne, Clark Gable, Dick und Doof.“
Brosheim hoffte, dass die Bahn bald einträfe.
„Sie würfeln um ihr Kleid, obwohl sie noch gar nicht tot ist. Sie lächelt immer noch. Ich vergebe euch allen. Über den Dächern von Nizza habe ich fünf- oder achtmal gesehen.“
„Grace Kelly ist mit dem Auto verunglückt, sie wurde nicht gekreuzigt.“
„Ich habe tausend Filme gesehen, ehrlich, aber ich hab mir nie merken können, wer in welchem Film spielt. Humph in Casablanca, das weiß jeder. Ich sage, man hat sie gekreuzigt, die verdammten Schweine haben sie gekreuzigt! Darf ich dich mal was fragen?“
Brosheim nickte nur.
„Kannst du mir das Buch geben?“
„Nein.“
„Du willst sie für dich behalten!“
„Bücher, die ich gelesen habe, verschenke ich nur, wenn sie besonders schlecht sind.“
„Das Buch kostet doch bestimmt seine 200 Mark?“
„Jaah – das könnte hinkommen. Hier, ich schenke dir das Bild. Es ist aus dem Leim gegangen. Diese Paperbacks sind alle mit Spucke festgeklebt.“
„O Mann, ich danke dir! Dein Buch hat ja doch Bilder, wusstest du das? Aber danke, Alter. Was trägt sie denn da?“
„Einen Blaumann.“
„Als hätte sie in der Fabrik gearbeitet.“
„Sie hat ihr ganzes Leben in der Fabrik gearbeitet. Hier ist sie gerade in einer Flugzeugfabrik, vor über 60 Jahren.“
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Alter. Ich hab kein Geld bei mir. Willst du eine Zigarette? Hast du mal Feuer?“
„Nein, ich bin Nichtraucher. Ich habe dir das Bild geschenkt. Verkauf es nicht. Wenn ich höre, dass du es verkauft hast, schneide ich dir die Eier ab. Kapiert?“
„Ja, ich verkauf es nicht. Ehrenwort.“
Der Enthusiast hielt das Bild in beiden Händen und starrte es an. Er überhörte den quäkenden Signalton der S-Bahn, in die Brosheim gestiegen war. Brosheim atmete auf. Wer ist hier der Enthusiast? Help, I feel life coming closer when all I want to do is die. Solche Sätze konnte sie schreiben! In der Bahn vergewisserte er sich, dass er das Buch eingesteckt hatte.