Читать книгу Mauerstreifen - Jürgen Jesinghaus - Страница 15
10.
ОглавлениеEr stellte den Motor ab. Alle Parkplätze im Innenhof waren leer. Außer dem Rauschen des Verkehrs hinter den Mauern des HdM nur das Summen später Insekten, das Schwirren einiger Spatzen, die aus den Sträuchern des Innenhofs aufflogen oder auf dem Teerboden zur Landung ansetzten. Der Reflex eines gedrehten Fensters streifte Brosheim. Er sah an der Fensterfront entlang.
„Wir sind nicht die einzigen.“
„So ein Haus ist nie ganz leer, nie, zu keiner Tages- und Nachtzeit, niemals, glaube ich.“
Brosheim spürte, dass Debus etwas Ähnliches fühlte wie er: Die nie wiederkehrende Gelegenheit, in diesem Komplex zu tun und zu lassen, was man will, bei nur kleiner Gefahr des Auffallens.
„Was passiert, wenn ich ein Fenster einwerfe?“
Debus zuckte die Achseln und bot Brosheim eine Zigarette an, die er aus der Schachtel halb herausgezogen hatte.
„Wahrscheinlich Null. Kein Arsch kümmert sich darum, wenn es nicht zufällig sein eigenes Fenster ist. Das Große und Ganze hat ausgedient.“
Brosheim griff zur Zigarette.
„Ich habe eine Ewigkeit nicht mehr geraucht, die Pumpe.“
Debus reichte ihm das Feuerzeug. Die beiden Männer lehnten sich an den Kombi. Brosheim fragte sich, wer von ihnen die Stimmung mehr genoss.
„Waren Sie früher schon mal hier?“
„Einmal. Da und da“, er zeigte wo, „standen Schützenpanzer, zwischendurch rannten die Leute. Alle wussten genau, wohin sie wollten. Ich suchte mir ein Ziel aus und ging schnell zu dieser Tür da“, er zeigte auf die angelehnte Tür, „damals war sie verschlossen. Ich prallte davon ab wie ein Ball und direkt in die Arme der Polizei. Kann ich Ihnen weiterhelfen, fragte sie, und ich hatte doch glatt vergessen, zu wem ich musste. Ich habe ihr alles Mögliche erklärt von Paketen und Abteilungen. Ich musste mit zur Wache, die in einem Raum am Haupteingang untergebracht war. Henriette hat mich rausgehauen, und ich durfte dann die Pakete tatsächlich abliefern.
„Für Henriette haben Sie eine Menge übrig?“
„Ja. Ich habe sie sogar einmal geküsst.“
Brosheim lachte. Debus lachte und schielte zu ihm hinüber und drückte die Zigarette aus.
„Ich glaube nicht, dass wir jemanden finden, der uns beim Anpacken hilft. Wir sollten uns beeilen.“
Brosheim hatte seine Zigarette halb geraucht in ein Abflussloch geworfen und folgte Debus durch die Tür in ein Treppenhaus. Es war dunkel und still. Eine Trennwand stand im Gang. An ihr hingen ein paar Zeitungsausrisse, Aktfotos aus einer Soldatenpostille, ein Kalender, auf dem in Rot der Schichtdienst von Pförtnern eingetragen war. Debus stieß die Tür auf, bis sie gegen die Wand des Treppenhauses prallte, und schob einen Pappendeckel unter das Blatt, um die Tür zu arretieren.
„Hier heraus ist es am besten. Wenn die Sachen alle hier unten stehen, fahr ich den Barkas vor.“
Die Sonne schnitt in die Dämmerung des Flurs. Der Handlauf aus Messing leuchtete bis zum ersten Knauf, der wie ein Planet halb in Schatten, halb in Licht getaucht war.
Sie arbeiteten anderthalb Stunden. Sie sprachen nur das Nötigste, rollten Strippen auf, senkten Monitore in Pappkartons, verpackten Tastaturen, soweit das übrig gebliebene Verpackungsmaterial es zuließ, und transportierten die Pakete etappenweise von einem Treppenabsatz zum anderen, bis alles vor der Stellwand am Eingang aufgebaut war. Niemand hatte sich sehen lassen. Gelegentlich waren Schritte zu hören, eine Tür war zugeschlagen worden, einmal hatte ein Telefon geklingelt hinter einer versiegelten Tür. Das Haus war still, die Geräusche nur ein Bestick der Stille. Das Rutschen der Kartons über die Kunststeinböden und das Kratzen über die im Vergleich zur Flurbreite schmalen Teppiche drangen nicht weit durch die verwinkelten Flure, wo sich ein Ortsunkundiger leicht verlaufen konnte, wenn er den einmal gebahnten Weg in der Bürowildnis verlassen musste auf der Suche nach einem Abtritt hinter nicht versiegelten Türen. Die Stille war mit der Luft eine psychochemische Verbindung eingegangen, die Brosheim als Verdickung wahrnahm. Sie quoll aus allen Röhren und Öffnungen des Innenhauses und drohte ihn zu ersticken. Er fühlte sich leichter, als sie den letzten Karton in den Kombi stießen.
„Ein historischer Augenblick“, sagte Debus spöttisch, und für einen Kerl, der sich von Henriette sagen lässt, was er machen muss, ungewöhnlich scharf, „und wir können sagen, dass wir dabei gewesen sind.“
Brosheim setzte sich quer auf den Beifahrersitz, krümmte seinen Rücken nach vorn und ließ die Beine nach außen baumeln, dann ergänzte er:
„… und nichts dazu getan haben. Wir passen in eine historische Lücke. Einen Nachmittag wie diesen gibt es nicht zweimal in der ganzen deutschen Geschichte, vom ersten Deutschen angefangen bis zum letzten im ganzen verdammten deutschen Vaterland. Wir sind im Auge des Orkans, im akustischen Schatten, im Meer der Stille, auf der Insel der Seligen, am Arsch der Welt. Wir könnten das ändern. Wir brauchten nur benzingetränkte Zeitungen in diesen Häuserkrebs zu legen und anzustecken, aber was würde Henriette dazu sagen? Sie würde sagen, das Haus anzuzünden wäre nicht halb so seltsam wie diese greifbare Stille.“
„Ende des historischen Augenblicks, ich habe Feierabend“, sagte Debus.
„Wieso hat man Sie übernommen?“ fragte Brosheim.
„Wieso hat man Sie von Bonn hierher geschickt?“
Beide lachten.
„Sie sind sich darüber im klaren, dass wir das Zeug noch auspacken müssen? Das würde Henriette auch sagen.“
„Henriette hat nichts zu sagen. Nicht mehr. Jetzt will ihr jeder reinreden, den Ihr uns schickt. Kann es sein, dass Ihr uns manchmal Leute auf den Hals hetzt, die Ihr drüben los sein wollt?“
„Könnte es sein?“ echote Brosheim.
Die Ampel stand wieder (oder noch immer) auf Rot, aber das Schemen hinter dem Glas des Wachhäuschens war verschwunden. Sie fuhren unbehelligt durch die Torhalle über die blaue, dunstverhangene Kreuzung in die Grotewohlstraße. Keiner sprach. Sie hatten ausgeredet. Brosheim rutschte in eine schlechte Stimmung. Ihn drückte seine Müdigkeit, die er den ganzen Tag mit sich herumschleppte, und dachte an das bevorstehende Auspacken. Er durfte es Debus nicht alleine machen lassen. Er könnte allerdings vorgeben, mit dem last verabredet zu sein.
„Wie viel Uhr hats?“
„Nach halb vier.“
Wenn ich sage, ich hätte um vier einen Termin mit dem last, dachte Brosheim, dann sagt dir Debus: um vier fahre ich den last nach Schöneberg oder etwas ähnliches. Außerdem ist es unfair, ihn alleine machen zu lassen, obwohl ich zwanzig Jahre älter bin als er. Brosheim presste sein Kreuz gegen die Rückenlehne und streckte seinen Kopf weit nach hinten.
„Wir müssen es schnell hinter uns bringen“, sagte er zu dem Fahrer, die Stellung beibehaltend. Debus nickte nur und war gänzlich mit Chauffieren beschäftigt. Bei der Einfahrt in den Hof berührte der Wagen einen Prellstein. Das Blech knirschte. Debus schien es nicht zu bemerken, und Brosheim wollte es nicht hören (er kann, wenn ich nicht drinsitze, seinen Barkas samt Inhalt zerschreddern und sich in die Pfeife stopfen). Sie luden gemeinsam die Pakete in den Lastenaufzug und beschlossen, eine Pause einzulegen.
Brosheim war verschwitzt und klebte. Er ging trotzdem zu seiner Freundin ins Sekretariat. Sie kratzte sich die Nägel mit einer Feile, als Brosheim zur Tür hereinkam. Gisela sah ihn kurzsichtig an. Es wirkte intensiv und freundlich, deshalb fühlte er sich ermutigt, sie zu fragen, ob er einen Kaffee haben dürfe. Sie legte die Feile fort und stand auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen:
„Heim hinkt der Held zum Herd der Hausfrau. Instant-Kaffee gibts. Sie dürfen sich dort hinstrecken, aber erst die Tassen aus dem Schrank holen. Ich setze das Wasser auf.“