Читать книгу Mombasa - Jürgen Jesinghaus - Страница 15
Kapitel 2 10.
ОглавлениеDaniel kam aus seiner Löwengrube (für länger als nur für ein paar Stunden), nachdem ein Jeep auf den Betriebshof geprescht war und Gustav Hartkopf das Gefährt als „echt amerikanisch“ beschrieben hatte.
„Kein Nazi-Trick, Dan. Der Fahrer ist Indianer. Waren Indianer in der Wehrmacht? Na also!“
„Gibt es im Staate New York noch Indianer, in Yonkers beispielsweise? Vielleicht ist er ein Jude. Das wäre schön. Ein jüdischer Indianer, der meinen Vater gekannt hat. Ein Regenmacher und der Augenwischer. Mein Gott. Wer war noch bei ihm?“
„Ein Jude!“
Die Männer warfen sich auf einen Haufen Sand und lachten, lachten und weinten. Sie lachten, bis ihnen die Brust weh tat, bis ihr Lachen im Husten erstickt wurde und ihnen die Tränen über die Backen flossen. Sie hätten noch nie in ihrem Leben so gelacht!
In den ersten Wochen seiner Befreiung spazierte Dan umher. Als die Straßenbahn wieder in Betrieb genommen wurde, fuhr er nach Bonn und ging die die Pfarrer-Gyssel-Straße. Das Haus seiner „Illegalität“, das Haus, das sein Vater gerne gekauft hätte, war ausgebombt. Er fragte Leute aus der Nachbarschaft, nachdem er sich als Spiälsin vorgestellt hatte. Ach, das wissen Sie nicht? Den 18. Oktober 1944 hat es überstanden, aber den Winter nicht mehr. Die Amis sind dahintergekommen, dass der Größte Feldherr aller Zeiten im Westen eine Offensive machen wollte oder schon angefangen hatte. Da war der Bahnhof dran und alles, was aus der Stadt in die Eifel führte. Daniel wäre gerne wieder in die „Illegalität“ gezogen, jetzt als Herr Spielstein, aber das ging nun nicht mehr. Deshalb nahm der das Angebot der Militärverwaltung an, die ihm (durch Gustav Hartkopfs Vermittlung) ein Haus der Reichsbahn in Oplyr an der Strecke Bonn-Köln in Aussicht gestellt hatte. Daniel Spielstein blieb in Oplyr, einer Kleinstadt (Stadt erst seit Anfang der 1950er), wo ein Nazi-Apparatschik erschossen worden war, wo ein paar Liberale lebten, ein paar Sozen und viele schwarze, aber wenig braune Katholiken. Das war besser als vielerorts anderswo in Deutschland.
Daniel lebte als einziger in dem Haus an der Reichsbahn (der Bundesbahn, wie sie seit Ende 1949 hieß). Die Haustür war überdacht gewesen. Jetzt stand nur noch das gusseiserne Gestell, denn der Regenfang war längst ein Opfer des wollüstigen Triebs geworden, mit Kieselsteinen Sterne ins Glas zu werfen. Daniel hatte nach der Übernahme des Hauses die Dolche und Lanzenspitzen des restlichen Glases herausgebrochen, um sich und den Passanten das Gefühl der Bewohnbarkeit zu vermitteln. Die Zimmer des unteren Stocks waren zugenagelt, ebenso die Fenster. Zwei angesplitterte Bretter wiesen darauf hin, dass mit Pflastersteinen die Festigkeit des Verhaus geprüft worden war. Einmal fand er ein Hakenkreuz auf die Ziegelsteinfront gepinselt. Daniel verwandelte es in ein Quadrat mit Unterquadraten. Er wurde deshalb von Unbekannt angezeigt, weil er sich am hellichten Tag, aufreizend langsam und akkurat, an der Hausfront mit Pinsel und schwarzer Farbe zu schaffen gemacht habe. Die Polizei vermutete in Daniel den antisemitischen Schmierer. Ihr musste er demonstrieren, wie aus einem Hakenkreuz ein Kellerfenster wird. Daniel bewohnte zwei Zimmer im zweiten Stock. Er erreichte sie über einen Flur, von wo aus man einen kleinen Boden besteigen konnte (wenn man die Leiter, die unter der Decke hing, herunterzog). Daniel fragte sich oft, wie es über ihm und unter ihm aussähe. Die Vorstellung, in ein Zimmer einzudringen, wo Möbel, mit weißen Tüchern wie mit Leichentüchern bedeckt, herumstünden, hielt ihn davon ab, die Tür zur Wohnung im ersten Stock zu öffnen. Er wäre sich wie ein Einbrecher vorgekommen. Andererseits fürchtete er die Ernüchterung durch den Anblick leergeräumter Zimmer. Vielleicht würden ihm Ratten entgegenspringen. Nein, er war nicht neugierig. Er wollte es nicht wissen.
Die alten Mieter hatten das Haus längst verlassen. Das genügte ihm. Sie waren in die Stadt oder auf die Felder gezogen, wo die Neubausiedlungen standen, weiter weg von den Schienen und dem an- und abschwellenden Brausen der Schnellzüge, die in dichter Folge Tag und Nacht durch Oplyr rasten. In der Dampflokzeit waren nicht so viele Züge gefahren. Das energische Stampfen und Ziehen unter dem davonwehenden Wasserdampf der Loks hatte sich frühzeitig angekündigt und niemanden erschreckt. Die Kessel in den schwarzen Bäuchen hatten in Oplyr noch nicht ihre maximale Kraft gewonnen, die Heizer noch nachlegen müssen. Die verdrängte Luft war in den Straßen parallel zum Schienenstrang abgeflossen, in die Gärten und auf die Felder. Jetzt schossen die Bahnen wie Raketen durch den Häuserschacht. Die Luft wurde gegen die Wände geschleudert, presste sich gegen die Scheiben, dass sie in den Rahmen erzitterten, knallte in die Ecken, gischtete am Efeu hoch, riss Blätter ab. Daniel lüftete nach hinten hinaus. Er hatte die Fenster zur Straßenseite zugekittet und hoffte, dass die Einfachscheiben dem Luftdruck widerstünden (ein wenig Spiel musst du ihnen lassen, die Fenster dürfen nicht zu stramm sitzen, sonst platzen die Scheiben).
Daniel hörte wenig vom Leerlauf der Motoren in den Fahrzeugen, die vor der geschlossenen Schranke warteten, wie Hunde an der Leine sprungbereit, die Schienen zu überqueren, aufjaulend vor Erwartung. Der nervöse Fuß auf dem Gashebel, nur um einen Mann zu erschrecken. Das Mädchen auf dem Fahrrad durch eine halbe Umdrehung des Griffs am Motorrad zu zwingen, sich erschrocken umzudrehen und in ein grinsendes Gesicht zu schauen. Nur wenn Dan die Hände auf die Scheibe legte, „hörte“ er es, spürte die Vibrationen und konnte sich denken, warum die Mieter das Haus verlassen hatten und warum die Deutsche Bundesbahn, der das Haus gehörte, darauf verzichtete, von ihm Miete zu kassieren. Alles staute sich vor den Schranken. Die Jogger traten auf der Stelle. Die Fahrer stiegen aus den Autos und blickten links und rechts in die Ferne, strengten ihre Augen an, um zu erkennen, ob sich der Fluchtpunkt aufblähen, die Rakete aus ihm herausplatzen würde. Sie hörten auf das Singen und Sirren des angeregten, durch ferne Räder maltraitierten Stahls, der die Erlösung ankündigt: den Zug mit seinen Reisenden, die gelangweilt oder gedankenverloren in den Polstern halb saßen, halb lagen, nachlässig in Papieren blätterten oder hinausstarrten und von der Ungeduld der Leute an den Schranken nichts wussten, nichts wissen wollten, als stünden sie höher im gesellschaftlichen Rang. Das Drama der Vorbeifahrt, die Demütigung vor den Zuginsassen, wiederholte sich stündlich mehrere Male, bis auf die Nächte, in denen die Signale einsam salutierten und die Schranken sich nur selten querlegten. Manchmal stand Daniel hinter den Fenstern und versuchte, in die beleuchteten Fahrkabinen zu schauen, indem er rasch seinen Kopf mitbewegte.
Die Scheiben wurden blind und fleckig, die Wasserfahnen des Regens klatschten dagegen. Der Regen nahm den empor gewirbelten Staub auf, und die Züge schmissen den Sud in der Vorüberfahrt gegen das Glas und das Fensterholz. Abends erstrahlte das Fenster, wenn das Licht der Fernzüge an Daniels Scheiben zerplatzte, aufglühte und flackerte wie Kerzen hinter Transparenzpapier oder wie Feuer in fernen Öfen, die Stahl durchsichtig machten und wo keine Form Bestand hat. Daniel aber fürchtete die lichtlosen Züge, die Waggons in langer Reihe, die Tieflader mit Panzern, die ins Manöver rollen.
Die sowjetischen Militärattachés wissen es eher als ich! Hier an dieser Schranke, dem strategischen Kreuzungspunkt, werden sie die Gemüsezufuhr zum Großmarkt stoppen, die wartenden Traktoren mit ihren Spanholzkisten voll Endiviensalat oder Erdbeeren in die Luft pusten, vaporisieren, zu Gemüsedampft machen, zu Eisen- und Gemüseeintopf. Mit Fleischbeilage – die Bauern nicht zu vergessen und die Jungs nicht, die ihnen beim Ernten geholfen und auf dem Weißkohl gesessen haben und jetzt, im Eisen- und Gemüsedampf aus zehn Kilometer Höhe den strategischen Gemüse-Panzer-Kreuzungspunkt von oben sehen (denn sie haben bereits die Augen von Engeln). Die Panzer glühen, werden durchsichtig und leichter, erheben sich, fliegen davon wie Sonnenflecken im Spiegel eines sich schließenden Fensters, wackeln wie ein Flämmchen und verblubbern in der Stratosphäre, Plasma aus Eisen, Gemüse und Fleisch. Die Rohre von Rheinstahl bewegen sich wie Girlanden im Luftzug. Die Sowjets wissen es eher als ich. Im Krieg schießen sie auf diesen Punkt (auf diesen und viele andere). Dann kommen die Panzer nur bis Oplyr und keine Umdrehung weiter, denn hier vor meiner Nase werden sie durchsichtig gemacht, hier beginnt ihre Himmelfahrt. Ihn ging es nichts an, aber um die Jungen auf dem Weißkohl tat es ihm leid. Die blieben besser zu Hause oder wanderten aus. Allerdings, die Erde ist voll von strategischen Punkten. Es wimmelt von ihnen.
Um die geschlossenen Waggons wäre es nicht schade, sie sollten verschwinden, obwohl es nicht mehr dieselben sind wie Anfang der 1940er Jahre (aber sie sehen immer noch so aus). Diese hier sind in den fünfziger Jahren gebaut worden. Es können nicht mehr dieselben sein. Das Holz wäre verfault. Auch die Schienen sind nicht mehr dieselben, das alte Eisen wäre sonst abgewalkt und verrostet. Er konnte vor seiner Haustür stehen oder am Fenster und die geschlossenen Holzwaggons vorüberfahren sehen. Er sah sie wie in einem Dokumentarfilm ohne Sprecher. Bist du ganz sicher, dass sie Schafe oder Kühe geladen haben, Daniel Spielstein, oder Zuckerrüben oder eines von tausend anderen Gütern, und keine Menschen? Lass es verstrahltes Material sein, das seine unsichtbaren Fackeln in die Häuser am Rande wirft, in die Straßenschluchten und Hinterhöfe. Was alles wird auf diesen Schienen hin- und hergeschoben! Sollte man es nicht wissen? Müsste nicht alles in Glaskübeln transportiert werden? Die Güterzüge mit den Holzwaggons, die Holzklapperschlangen auf Rädern, wurden an Dan vorbeigeschoben und verschwanden in dem Punkt, durch das sich alles Sichtbare hindurchquetschen muss, zu dem schnurstracks die Schienen führen wie eine Jakobsleiter zu Gott.
Daniel hatte sich an dem Kontergewicht vorbei gedrängt und sich mit einem Bein auf die Schiene gestellt, den Oberkörper weit nach links ausgelagert in den Raum, den sonst in rasender Fahrt die Züge ausfüllten, die vor Bonn nicht zu halten brauchten. Ein Mann in Lodenmantel, Wickelgamaschen und Bergsteigerschuhen packte ihn an der Schulter und sprach zu ihm. Daniel zuckte zurück, beeilte sich, an dem Kontergewicht vorbei auf die Straße zurückzukehren und war sich seines dummen Leichtsinns bewusst. Der Mann wies zornig auf einen Mast nahe der Schranke und sagte etwas zu Daniel, bevor er in seinen Mercedes stieg und den Schlag zuklappte. Daniel nickte bestätigend mit dem Kopf, obwohl er sich nicht erklären konnte, was die Warnung vor einem herannahenden zweiten Zug mit dem Mast zu tun haben sollte, auf den der Herr gewiesen hatte (der Herr von Grein). Nachdem der strategische Punkt in beide Richtungen freigegeben worden war und nun verlassen dalag, suchte Daniel mit den Augen den Mast ab, der im Licht der beiden Lampen hüben und drüben zwei Schatten warf. Nun erkannte er den Lautsprecher (darauf hatte ihn der Mann aufmerksam gemacht). Und dieser Lautsprecher soll ihn gewarnt haben? Woher hat der denn gewusst, dass ich den strategischen Punkt berühre? Daniel suchte mit den Augen weiter. Genau vor seinem Haus jenseits der Bahnlinie, höher als der Lautsprecher, war die Kamera angebracht und auf die Kreuzung gerichtet. Irgendwo am Rande Bonns saß in einem Kontrollhaus ein Mann oder eine Frau vor einem Monitor, vor einer Wand von Monitoren, und beobachtete Kreuzungen.
Daniel war beunruhigt, als er sich zu Hause in seinem Zimmer von dem Schrecken erholte. Durch sein Fenster konnte er bei dieser Dunkelheit nur die Flecken der beiden Lampen wahrnehmen. Er stieg an diesem Abend auf den Dachboden, stieß die Luke auf und erkannte in erschreckender Nähe und Deutlichkeit die Kamera, die immer noch auf die Kreuzung gerichtet war. Immer? Ließ sie sich bewegen? Könnte sie sich auf mein Fenster richten? Bin ich beobachtet worden? Werde ich beobachtet? Daniel achtete genau auf die Kamera. Dann war ihm manchmal, als ob sie sich rührte, in kleinen ruckartigen Bewegungen. Er schloss die Augen, und wenn er sie wieder aufmachte, wies die Kamera bewegungslos und zielgerichtet auf die Kreuzung. Weiß man bei der Bundesbahn davon? Ist es eine Einrichtung des Verteidigungsministeriums oder des Innenministeriums? Oder ist es doch nur eine Schutzmaßnahme für die Bevölkerung? Lampen blinkten, die Schranken klappten herunter, eine Schnur heller Rechtecke wurde vorübergezogen. Darauf achtete Daniel nicht. Er behielt die Kamera im Auge, ob sie sich synchron zu einem beleuchteten Fenster bewegte (wie er es mit seinen Augen machte, um Personen zu erkennen). Sie ist starr auf die Kreuzung gerichtet. Ist sie die einzige Kamera? Gibt es nicht andere, die mich beobachten, während ich diese eine beobachte? Übernimmt eine Kamera die Überwachung der anderen? Daniel rollte die Augen, ohne sein Gesicht zu bewegen. Er suchte unauffällig nach der zweiten Kamera auf einem anderen Mast. Es nützt nichts, Daniel, sie zoomen dich herbei, auf dem Monitor erscheinen deine rollenden Augen, die Bedienung lacht! Woher wussten sie, dass du es bist, als sie dich anredeten? Sie haben dich doch angeredet?
Herr Daniel Spielstein, gehen Sie bitte von den Gleisen! Das ist heute ein strategischer Punkt! Ihre Artgenossen brauchen Sie bei der Eisenbahn gar nicht mehr zu suchen. Da gibt es nicht mehr zu suchen! Die Zeiten haben sich geändert, und wir reden Sie mit ‚Sie‘ an. Das sollte Ihnen doch genügen, unseren Weisungen Folge zu leisten! Die Züge in den Osten waren auch aus Bonn abgefahren und in Auschwitz angekommen. Gewiss, Daniel Spielstein, einige fahren noch, bringen aber Kohle an die Rheinhäfen, fahren Schrott in die Hütten, transportieren Knochen aus den Schlachthöfen in die Seifenfabriken. Und einige stehen noch heute auf den verlassenen Stichgleisen zwischen Schrebergärten und Nadelwald, verfaulen im Regen, zerblättern unter der Sonne oder stehen vergessen an den Kais und werden vom Wind zerfressen.
Daniel spürte es nur an dem ungewohnten Luftzug. Die Türe war aufgerissen worden. Als er sich umdrehte, standen zwei junge Männer vor ihm, in schwarzes Lederzeug gekleidet, behängt mit Symbolen. Die Köpfe waren geschoren. Die Füße staken in Armeestiefeln. Aber sie hatten keine Pistolen. Niemand richtete einen Lauf auf ihn. Und sie schienen auch nicht zu wollen, dass er sofort seine Sachen packte und die Wohnung mit ihnen verließe. Sie bewegten sich zwanglos in dem Zimmer und redeten auf ihn ein. Auch das Mädchen, das sich im Dunkel des Flurs aufgehalten hatte, war hereingekommen und schaute sich um.
„Ich dachte, der Laden ist unbewohnt. Würde uns gefallen. Könnten wir gut gebrauchen. Was wir gar nicht gebrauchen können, bist du, kannst du hier nicht verschwinden?“
Sie redeten ihn mit ‚Du‘ an. Er musste ihren Weisungen keine Folge leisten. Sie haben ja nur gefragt, ob ich nicht verschwinden könne, sie haben es mir nicht befohlen. Gute Kinder. Einer stieß ihn mit dem Zeigefinger gegen das Brustbein und schaute ihn herausfordernd an mit dem blankgeputzten Blick eines Hundes. Daniel erklärte, dass er nicht gut hören könne, weil man ihn geschlagen hatte.
„Du musst uns bei Gelegenheit mal sagen, wer dich geschlagen hat, Opa, den nehmen wir auseinander. Den kaufen wir uns, dazu sind wir nämlich da. Lass mal Geld rüberwachsen. Kies, kapiert? Kies!“
Daniel ging zu seinem Schrank und holte eine Tabakbüchse aus Blech hervor. Sie war durch pressende Männerfinger ausgebeult worden. Sie zeigte ein wehendes Flaggenband: Schiffergruß, darunter einen weißgekleideten Mann mit Schiffermütze vor dem blauen Meer. Drei weiße Pfeile oder Ausrufezeichen, die hintereinander aufgereiht einer Regatta von Segelschiffchen gleichen. Der weißgekleidete Mann hält eine Büchse in der Hand, auf der ein weißgekleideter Mann zu sehen ist, der eine Büchse in der Hand hält, auf der ein weißgekleideter Mann zu sehen ist, der eine Büchse in der Hand hält, auf der ein … Die Büchse mit dem blauweißen Signet war so alt wie Daniel. Darum sagte er:
„Die Büchse könnt Ihr mir lassen, sie ist so alt wie ich. Sie gehörte meinem Vater.“
Einer riss ihm die Büchse aus der Hand, öffnete sie und holte einen Zwanziger und einen Zehner heraus. Dann warf er sie achtlos von sich. Gerade wollte er das Papiergeld in die Brusttasche stopfen, als die junge Frau es ihm aus der Hand riss.
„Arschloch, lass ihm sein Geld!“
Sie fing sich eine schallende Ohrfeige und schrie in ihrer Empörung darüber.
„Von Sven ja, von dir nicht. Von dem lass ich mir sogar einen reinschieben, von dir nicht. Spielt sich vor dem Opa auf! Eine starke Nummer. Weißt du, Opa, dass er Anstreicher ist? Aber spielt sich hier auf! Du schlägst mich nie wieder, hörst du! Ich lass mich von meinem Alten nicht schlagen, und von dir schon gar nicht.“
Der eine stieß sie weg (halt die Schnauze), der andere hielt Dan am Oberarm fest und sah ihn an.
„Wir verlassen dich jetzt. Hat uns sehr gefreut. Wir sehen mal nach dir. Für heute, so long.“
Die jungen Männer verließen die Wohnung. Das Mädchen hob die heruntergefallenen Scheine auf, knallte wortlos den Zwanziger auf Daniels Küchentisch und steckte den Zehner in die Hosentasche. Sie verließ grußlos den Raum, kam aber wieder zurück, fingerte den Schein aus der Tasche und warf ihn in das Zimmer, so dass er niederflatterte und nahe der Büchse den Fußboden berührte und leicht auflag, als hielte es ihn dort nicht lange, jederzeit bereit, wieder fortzufliegen. Die junge Frau trat ganz herein – die Tür stand noch offen – ließ sich auf Daniels einzigen Stuhl fallen und fing an zu schluchzen. Daniel war in Verlegenheit und wusste nicht, was zu tun. Er konnte nicht einmal entscheiden, ob sie ihm etwas vorspielte, ob das alles Teil eines Schabernacks war, an dem sie auf seine Kosten einen Gefallen hatten. Sollten sie sich über ihn lustig machen! Was lag ihm daran. Er ging zu ihr und legte seine Hand auf die Farbmasse ihrer Haare. „Ich habe es überlebt, Kleines.“
Sie sprang auf und lief hinaus. Daniel zuckte die Schultern. Ein Jux war es wohl nicht. Was verstehe ich von diesen Kindern und ihren Problemen. Er bückte sich nach der Büchse, griff sie umständlich, ging zur Tür und rief auf gut Glück:
„Hallo, nimm sie mit!“
Er horchte aus Gewohnheit in das Treppenhaus. Wie sie heißen mag? „Wie heißen Sie, wie heißen Sie, darf ich Ihren Namen erfahren, kleines Frollein?“ Wie in einem Rausch rief er: „Wie heißen Sie? Die Büchse können Sie haben. Ich schenke sie Ihnen.“ Er hatte seine Tür abgeschlossen und begann, für sich zu singen, erlöst von dem Schrecken dieser Begegnung, die er nicht einordnen konnte. Dann sang er, unhörbar, in der Art von Opernarien: ‚Wie heißen Sie, nennen Sie mir Ihren Namen, Ihren Na-hamen, und weinen Sie nicht. Das Leben ist der schönsten eines. Tralalala. Que vuolo ballare, Signora Contessa. Die zehn Mark, die zehn Mark dürfen Sie behaal-ten.‘ Als ihm bewusst wurde, dass man ihn sogar auf der Straße hören musste (er maß es an der Kraft, mit der er seine Stimme herauspresste), beendete er seine Vorstellung, nahm die Scheine, stopfte sie in die Büchse zurück und stellte sie in den Küchenschrank. Du musst hier ausziehen. Du bist nicht mehr sicher. Ich bin zu alt, um mit einem Mädchen zusammenzuwohnen oder eine WG mit drei anderen zu gründen.
Er wusste diesen Vorfall zwar nicht einzuordnen, aber er fand ihn auch nicht schockierend, nicht so, als hätte er ihn auf eine Welt gestoßen, die ihm bis dahin unbekannt geblieben wäre. Es kam ihm bekannt vor, nicht vertraut, aber doch vorhersehbar. Seinesgleichen rechnete mit so etwas. Er war immer auf dem Sprung, wähnte sich beobachtet, bedroht. Er fühlte Gewehre auf sich gerichtet oder Gewehrkolben gegen ihn erhoben. Er hatte sich daran gewöhnt. Manchmal war es ihm lästig. Er konnte sich dann auf nichts anderes konzentrieren als auf einen Hieb, der ihn von den Füßen reißt. Dann würde sein Mund überquillen, und er müsste sein Blut wie heißen Kaffee herauslaufen lassen. Wenn ich so da liege, kurz vor dem Abkratzen, welches Gesicht wird es sein, das ich mir einprägen würde und hinübernähme? Angewidert oder gleichgültig? Polizei? Krankenpfleger? Jemand, der sich sorgt? Um dich? Dan! Das wird ein verdammt wichtiges Gesicht. Vor dem Gesicht habe ich Angst, mehr noch als vor dem Schlag und dem überquellenden Mund. Ein Hundegesicht? Ein Schafsgesicht!
Nahe dem Anlegepunkt der Mondorfer Fähre auf dem schmalen Streifen Wiese zwischen den Pappeln am Radweg und den Büschen am Kiesufer, in denen die Einkaufstüten und die Kunstdüngersäcke wie Fahnen wehen, war er eingeschlafen, leichtsinnigerweise, gefährlich für einen Mann seines Alters. Beim Aufwachen schaute er unvermittelt in ein Schafsgesicht, in das Antlitz eines Schafbocks, in das forschende, ganz und gar aufnehmende, von keinem Vorurteil entstellte Gesicht eines Schafs. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine so vertraute Nähe zu einem Tier erlebt zu haben, jemals eine so unbedingte Nähe zu irgendeinem anderen Lebewesen. Wohltuend aus dem Bauch heraus perlte es in ihm, und er schien einen Augenblick die Wahl zwischen Weinen und Lachen zu haben. Er lachte, fast so wie 1945, als sie über den jüdischen Indianer gesprochen hatten, als sie überglücklich gewesen waren. Gott hat nicht so gelacht am siebten Tag, denn er hatte noch so vieles zu bedenken (und schon damals quälten ihn böse Ahnungen). Aber Daniel lachte, und das war der Ausdruck völliger Übereinstimmung mit dem Schafbock und sich selbst. Er hatte an beiden nichts auszusetzen, und ihm schien diese kleine Welt, angefüllt mit dem Schaf und den Pappeln und den Wolken darüber, gelungen. Der Bock wandte sich ab, nicht überstürzt, sondern nachsichtig und zufrieden. Ach, dieses herrliche Antlitz. Wenn es ein Schaf wäre – oder wenigstens eine Katze. Einmal würde es ihn erwischen, in dem Augenblick, wo der Druckpunkt erreicht ist und der Luftzug einer Taube, das Erschrecken über einen Sonnenreflex oder ein fallendes Blatt den Nerv zucken lässt – schon ist die Kugel heraus! Was ich dann als letztes sehe, soll nicht das Gesicht des Mörders sein. Lass es nicht zu, Ewiger. Sei es ein schönes Gesicht, ein Schafsgesicht! Oder das Gesicht des kleinen Frolleins. Meinetwegen.