Читать книгу Mombasa - Jürgen Jesinghaus - Страница 9
4.
ОглавлениеDaniel Spielstein wurde um fünf Uhr überfallen. Die Täter waren in Ledermäntel gekleidet und von einer Gelassenheit, die Kriminellen gewöhnlich nicht eignet. Sie schlugen gegen die Wohnungstür und forderten ihn auf mitzukommen. Sie brauchten nichts zu sagen, ein Ruck mit dem Kopf genügte. Daniel Spielstein, der sich Spiälsin nannte, fragte, was er mitnehmen dürfe. Der Anführer zuckte die Achseln. Er löste sich aus dem Türrahmen und folgte dem schlaftrunkenen Mann ins Zimmer. Die Hände behielt er in der Tasche, denn er hatte sich von der Harmlosigkeit des Opfers überzeugt. Widerstand hätte nur ein Pistolenschütze leisten können, der kaltblütig genug gewesen wäre, die beiden Männer über den Haufen zu schießen – und den dritten dazu, der bei laufendem Motor im Auto saß. Daniel packte seine sieben Sachen in eine verschlissene Aktentasche.
„Wertsachen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Papiere?“
Die Papiere lagen im Küchenschrank. Der Ledermantel riss sie Daniel aus der Hand, als er sie geholt hatte.
„Wo ist das J?“
Er schwieg betreten, als hätte ihn die Polizei in einer Fälscherwerkstatt ertappt.
„Also dann.“ Der Ledermantel verließ energisch das Zimmer, ohne sich nach dem Wehrlosen umzuschauen, in der Gewissheit, dass er folgen würde. Flucht zwecklos. Also folgte Daniel. Die Männer stiegen hastig in den Wagen (jetzt musste es schnell gehen), so dass er Mühe hatte einzusteigen.
Die Opfer waren Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, sogar alte Zentrumsleute, Oppositionelle aller Art, aber auch persönliche Feinde derjenigen, die Macht hatten, Ledermäntel in die Nacht zu schicken und Leute aus ihren Wohnungen heraus zu verhaften. Die Ledermäntel taten, was man ihnen befohlen hatte. Sie würden sich nach dem Krieg darauf berufen und eine Tugend daraus machen („wo kommen wir hin, wenn jeder tut, was er will“). Keiner sprach mit dem Gefangenen. Die drei unterhielten sich über die nächsten Stationen und den kürzesten Weg, um das „Einsammeln“ schneller hinter sich zu bringen. Niemand solle glauben, betonte der Fahrer, ohne sich an das Opfer zu wenden, dass ihm der ganze Quatsch Spaß mache, die Herumfahrerei bei dieser Tageszeit, in diesem saukalten Wetter. Schuld daran seien die Juden und die anderen, die nicht in das neue Deutschland passten.
Daniel wurde an der „Sammelstelle“ der Gestapo abgeliefert und so behandelt wie einer, der 20 Reichsmark aus einer Ladenkasse gestohlen hatte, nicht freundlich, aber mit einer schmerzlosen Gleichgültigkeit. Das änderte sich am nächsten Tag, als er Rede und Antwort stehen sollte und die Herkunft des angeblich gefälschten Passes erklären musste. „Unverschämtheit!“ schrie der Verhör-Offizier ein um das andere Mal. Er stellte Fragen, wartete aber keine Antworten ab, sondern schlug dem Häftling jedesmal mit der flachen Hand auf die Ohren. Daniel stürzte. Er konzentrierte sich darauf, nicht in Ohnmacht zu fallen. Als er hochgerissen wurde, sah er, wie sich der Mund seines Peinigers bewegte, aber er hörte keine Stimme. Er war von Rauschen umgeben, als stünde er unter einem Wasserfall. Der Mann hob wieder seine Hand gegen ihn, Daniel deutete auf ein Ohr und sagte, ohne dass er es kontrollieren konnte: „Kann nicht hören.“ Man schlug ihn trotzdem. Er wachte in einer Zelle auf. Die Kälte hatte ihn geweckt. Um ihn herum drängten sich zehn, zwölf Personen. Seine Nachbarn redeten auf ihn ein, aber er hörte nichts, nur das Rauschen. Es rief das Bild eines schwarzen Meeres hervor, das kalte Wellen vor ihm auftürmt. Er schloss die Augen. Der Schmerz schoss durch seinen Kopf.
Tags darauf transportierte man sie in Wehrmachtautos zu einem stillgelegten Fabrikgelände, wo man sie hinter Stacheldraht in Baracken unterbrachte. Daniel fror. Er hatte vergessen, eine Jacke überzuziehen. Seine sieben Sachen waren auch verloren gegangen. Er wusste nicht, wie es weitergehen würde, er wusste nur, dass er es in diesem Zustand nicht lange aushalten konnte. Er stand in sich zurückgezogen, eingeigelt gegen den Schmerz und die Kälte, hinter seinen Armen versteckt, mit denen er sich selbst umklammerte. Nach der Helligkeit zu urteilen, war es ungefähr 9 Uhr. Kaffeezeit. Er dachte daran, dass jetzt im Büro von Gustav Hartkopf jemand Kaffee brühte.
Hartkopf mochte damals 40 Jahre alt gewesen sein. Jedenfalls sah er so aus, denn sein Gebaren ließ auf ein gesetztes Alter schließen. Der jahrelange Umgang mit Geschäftsleuten und Arbeitern, die alle etwas auf ihn gaben und ihm zuhörten, wenn er redete, hatte ihn zu einem selbstbewussten Mann gemacht, der sein Ego nicht hervorzukehren brauchte wie sonst die Männer an der Schwelle zu Amt und Würden. Er hatte gestern mit einem Bekannten telefoniert. Der kannte jemanden, der einen von der Gestapo kannte. Diesem schrieb Hartkopf einen förmlichen Heil-Hitler-Brief. Er hatte sein Anliegen so dringend vorgetragen, dass er sich schon für nächste Woche mit einem Funktionär der Sonderpolizei in Bonn verabreden konnte. Er war darauf aufmerksam gemacht worden, dass dieses Treffen rein außerdienstlich sei und er deshalb mit einem Mann zu rechnen habe, der nicht in Uniform, sondern im Straßenanzug erscheinen würde.
„Wenn ich Ihnen helfen kann, jederzeit gerne, nur stellen Sie bitte meine Loyalität nicht in Frage.“
„Mein Angestellter befindet sich in Ihrem Gewahrsam.“
Der Herr im Straßenanzug, am Revers ein rundes Abzeichen, das ihn als Angehörigen der herrschenden Kaste auswies, steckte sich eine Zigarette an.
„Ja wissen Sie, ‚befinden´ ist gut gesagt. Ich weiß zwar nicht, was im einzelnen mit ihm geschehen wird, aber ich möchte es so ausdrücken: Die Chancen, dass er wieder bei Ihnen arbeitet, sind ungefähr gleich Null.“
Hartkopf schwieg betreten. Zu gehen wäre ratsam, denn die Frage lag in der Luft: Haben Sie nicht gewusst, dass er beschnitten ist? Und wenn Sie es gewusst haben, warum setzen Sie sich dann für ihn ein?
„Zigarette?“ Das Gespräch sollte fortgeführt werden.
„Danke, gerne. Russische?“
„Der Führer wird keine Gegenoffensive wegen russischer Zigaretten machen.“
„Nein? Nein. Ihre Bemühungen sind natürlich nicht umsonst. Ich weiß, dass Sie persönlich keine Vergünstigungen annehmen, aber Ihrer Organisation könnte vielleicht an einem fairen Geschäft gelegen sein.“
Das Wort ‚fair‘ brachte Hartkopf widerwillig über die Lippen. Er ärgerte sich über seinen gestelzten Stil. Während er ihm nachhing, verlor er den Faden und schwieg. Nach einer Pause, in der er eine Zigarette entgegennahm und anzündete, sprach er weiter:
„Sie wissen vielleicht, dass ich einen kriegswichtigen Betrieb zu laufen habe: Sand, Zement, Beton, Pisten, Bunker. Der Betreffende könnte im Dienst Ihrer Organisation in meinem Betrieb weiterarbeiten. Ich brauche jede Hand für den Endsieg.“
„So haben Sie sich das also vorgestellt. Sind Sie in der Partei?“
„Nein, obwohl auch ich im Dienst der Sache stehe. Meine Produkte sind, wie ich schon sagte, kriegswichtig.“
„Es kann ja nicht jeder in der Partei sein. Was ich jetzt sage, bleibt hübsch unter uns: Der Krieg läuft nicht so, wie wir uns das gedacht haben. Und nochmals unter uns: Mir ist nichts daran gelegen, überhaupt nichts, dass diese Menschen über den Jordan gehen. Ich bin sogar bereit, dem einen oder anderen aus der Patsche zu helfen. Ich hätte da meine Risiken und einige Spesen. Wie sollen wir uns näherkommen?“
„Ich bin bereit, Ihre Spesen zu übernehmen. Und was das andere angeht, so habe ich mir vorgestellt, dass ich den Lohn des Betreffenden bis auf eine Courtage an Ihre Organisation abführe.“
„Sagen wir mal so: Die Courtage beträgt 50% und dient zur Deckung meines Risikos, mit dem ich leben muss, eines Risikos, das sobald nicht aufhört.“
„Bei Kriegsende.“
„Was kann ich mir denn nach einem verlorenen Krieg dafür kaufen?“
„Einen Persilschein.“
„Es bleibt dabei. Sie haben mich verstanden! Was die Zahlungsmodalitäten angeht, setzt sich meine Organisation schon bald mit Ihnen in Verbindung. In Sachen Provision komme ich noch auf Sie zu. Und Persilschein, mein lieber, mein sehr lieber Herr Hartkopf, dazu würde ich Ihnen gerne noch einige Takte sagen!“