Читать книгу Abenteuer Fernhandel - Jürgen Nagel - Страница 15
Kaufleute und Börsen
ОглавлениеMan hat es schon häufig gehört und gelesen: Die Ostindien-Kompanien waren die ersten Aktiengesellschaften der Wirtschaftsgeschichte. Sicherlich sind sie nicht in allen Punkten mit den AGs der Gegenwart gleichzusetzen, doch genauso sicher ist, dass sie am Anfang der Entwicklung standen und diese aufgrund ihrer langen Existenz und ihres wirtschaftlichen Erfolges maßgeblich prägten. Der Aufstieg der beiden wichtigsten europäischen Börsenplätze in der Frühen Neuzeit – London und Amsterdam – ist ohne die Kompanien kaum denkbar.
Das Prinzip der Anteilsteilung bei größeren, risikobehafteten wirtschaftlichen Unternehmungen geht auf das 15. Jahrhundert zurück, als im mitteleuropäischen Bergbau Schürfrechte in Form von sogenannten Kuxen vergeben wurden. Die Aktie als Wertpapier, das faktisch als Stück ausgegeben wird, trat jedoch tatsächlich erst mit den Handelskompanien in Erscheinung. Zunächst handelte es sich ausschließlich um Namensaktien, die auf einen bestimmten Anteilseigner ausgestellt wurden, der im Aktienbuch der Gesellschaft verzeichnet wurde. Zwar wurde auch mit Namensaktien gehandelt, doch machte der eher umständliche Besitzübertrag diese Papiere nicht uneingeschränkt börsenfähig. Bei der EIC wurden handelbare Anteilsscheine überhaupt erst mit der Installierung eines festen Kapitalstocks (joint stock) im Jahr 1657 relevant. Mit der Ausgabe von Aktien im Sinne realer Wertpapierstücke war der Zugang zur privilegierten Kompanie für alle geöffnet, die über das notwendige Kapital verfügten.
Börsen, die sich durch den Handel mit abwesenden, aber vertretbaren, sogenannten fungiblen Gütern bei zeitlicher und örtlicher Konzentration auf vorgeschriebene Handelszeiten und räumlich klar definierte Handelsplätze auszeichnen,32 bestehen seit dem frühen 15. Jahrhundert. Die Entwicklung von warenunabhängigen Handelsplätzen begann 1409 in Brügge und setzte sich mit den Börsengründungen von Antwerpen (1460) und Lyon (1462) fort. Dabei handelte es sich noch nicht um Effektenbörsen, die sich ganz auf den Handel mit Wertpapieren konzentrierten. Diese traten erst mit der Amsterdamer Börse in Erscheinung, die ihren Aufstieg bereits während des 16. Jahrhunderts erlebte, aber erst 1609 ihr repräsentatives Gebäude erhielt. Die Emission der VOC-Anteile im Jahr 1602 brachte erstmals Beteiligungspapiere auf das Börsenparkett, die neben Obligationen zunehmend die Entwicklung der beiden größten Börsen in Amsterdam und London, wo seit 1557 der Royal Exchange existierte, prägten.
Die Alte Börse in London, erbaut 1567–69. Kupferstich um 1600.
Die Grundidee der Ostindien-Kompanien bestand in der Zusammenführung von Kapital, um kostenintensive und risikoreiche Unternehmungen über längere Zeit zu ermöglichen. Zunächst geschah dies nur für den Zeitraum einer einzelnen Reise nach Asien. Da diese von der Ausfahrt bis zur Rückkehr weit über ein Jahr dauerte, war es bald nicht mehr möglich, die einzelnen Fahrten säuberlich getrennt nacheinander ablaufen zu lassen. Zwangsläufig kam es zu Überschneidungen und Unklarheiten in Buchführung und Bilanzierung, die nicht selten zu Ausschüttungen führten, die jenseits der Summe aus Kapital und Gewinn lagen. So wurde frühzeitig die Schaffung einer Institution unabdingbar, die für eine Verstetigung sorgte und solche Unternehmungen unabhängig von den tagesaktuellen Entwicklungen einzelner Reisen erlaubte.
In England bedeutete dies den Übergang von einer terminable stock company, die lediglich unter festen Rahmenbedingungen das Kapital für ein Unternehmen organisierte, zur joint stock company, die zeitlich unbefristet einen fest definierten Kapitalstock für alle Reisen zur Verfügung stellte. Die Vorteile im Kapitalbereich, die eine Kompanie mit sich brachte, wurden hier also erst mit der Charter von 1657 entfaltet. Ausgegeben wurden Anteile im Wert von mindestens £ 100, die sich zunächst zu einem Kapital von £ 739782 summierten. Nach der Reorganisation von 1709, als zwei zwischenzeitlich konkurrierende Kompanien zu einer erneuerten EIC fusioniert wurden, betrug das Grundkapital £ 3 200 000. Weitere Kapitalerhöhungen folgten 1786 und 1789. Im ersten Jahrhundert ihrer Existenz dominierten Großaktionäre die englische Kompanie. Um 1700 lagen 70% der Anteile bei einer Gruppe von 80 bis 90 Großaktionären, die Anteile von jeweils über £ 2000 hielten. Die beiden größten Aktionäre, Sir Josiah Child und Sir Thomas Cook, kontrollierten zusammen bereits 15% des Kapitals; die nächsten 15% lagen in den Händen von sechs weiteren Aktionären.33 Die Kontrolle über die EIC wurde vornehmlich von Großkaufleuten aus London ausgeübt. Der landed gentry, dem in Teilen durchaus investitionswilligen britischen Landadel, versuchten interessierte Londoner Kaufmannskreise zunächst den Zugang, wenn schon nicht zu verbauen, so doch zumindest zu erschweren. Ungeachtet dessen lag in Großbritannien der Anteil adeliger Anleger im Allgemeinen bei über 20% und somit weit über dem europäischen Durchschnitt.34
Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte in England ein grundlegender Wandel ein, gegen dessen Ende Großaktionäre kaum noch eine Rolle spielten. Er ging einher mit dem sozioökonomischen Aufstieg des Landadels, dessen Wohlstand auf einer kommerziell betriebenen Landwirtschaft beruhte und der zunehmend Investitionsmöglichkeiten suchte, vorzugsweise im Fernhandel. Die britischen Historiker Peter Cain und Anthony Hopkins, denen diese Gruppe aufgrund ihres Habitus die Bezeichnung „Gentleman-Kapitalisten“ verdankt, haben in ihren wegweisenden Forschungen zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergrund des Imperialismus darauf hingewiesen, dass in Großbritannien bei weitem nicht nur Industrieunternehmer den Aufstieg des Kapitalismus, des ökonomischen Rückgrats des Imperialismus, trugen.35 Vielmehr beteiligten sich mehrere Spielarten von Kapitalisten mit recht unterschiedlichem Hintergrund, unter denen es dem investitionswilligen Teil der gentry in der Zeit nach der Glorious Revolution von 1688 gelang, die geschlossene Finanzstruktur der EIC aufzubrechen. Gegen Ende des Jahrhunderts waren deren Anteile weit über das Land gestreut, waren sie doch längst zu einer relativ sicheren und lukrativen Geldanlage nicht nur für Kaufleute und Gentleman-Kapitalisten, sondern auch ganz handelsfern für Pensionen oder Renten geworden.
Eine zusätzliche Akzentverschiebung brachte eine Entwicklung mit sich, die mit der neuen Charter von 1657 ihren Anfang nahm und in deren Zuge zunehmend Schiffe für die Reise nach Asien von privaten Anteilseignern gechartert wurden. Diese Vorgehensweise vereinfachte Organisation und Verwaltung und verhinderte die Bindung von Kapital, das nun an anderer Stelle eingesetzt werden konnte. Zudem entstanden der Kompanie keine Versicherungskosten mehr. Innerhalb des Kreises der Anteilseigner entwickelte sich so eine eigenständige Fraktion, die Gruppe der Schiffseigner (shipping interests). Einfluss auf die Politik der Kompanie beruhte somit nicht mehr ausschließlich auf Anteilen am Kapital, sondern zusätzlich auf der Kontrolle über Bestandteile der Flotte.
In den Niederlanden bedeutete die Schaffung eines festen Kapitalstocks das Ende der auf Einzelfahrten ausgerichteten Vorkompanien, die nun zur VOC vereinigt wurden. Der Entwicklungsweg glich dem englischen durchaus, doch erkannte man in den Niederlanden die Vorteile einer joint stock company bereits ein halbes Jahrhundert zuvor. Zudem spielte der Adel in den Vereinigten Niederlanden nur eine geringe Rolle, sowohl in der ebenfalls kommerziellen Landwirtschaft als auch im kapitalistischen Entwicklungsprozess überhaupt. Dementsprechend entstand keine vergleichbar enge Verbindung des Landadels und der Agrarwirtschaft zum Handelskapital. In den Niederlanden waren es vorrangig Kaufleute, die den joint stock von 6,4 Millionen Gulden aufbrachten, der während der gesamten Existenz der VOC konstant blieb. Und es blieben vornehmlich Kaufleute, die im Laufe dieser zwei Jahrhunderte in Anteile an der Kompanie investierten.
Das Rückgrat des niederländischen Kapitalismus war nicht so ausdifferenziert wie das britische, doch durchliefen beide Ostindien-Kompanien eine Entwicklung hin zu einer breiten Anteilsstreuung. Organisatorische Schwierigkeiten ergaben sich zwar daraus, dass keine faktischen Anteilsscheine der VOC ausgegeben, sondern nur Transfereinträge in den Büchern der Kompanie vorgenommen wurden. Den Börsenhandel mit den Anteilen verhinderte dies jedoch keineswegs. Dieser führte dazu, dass sich neben den großen Kaufmannsdynastien der niederländischen Hafenstädte früh eine breite Anlegerschaft entwickelte. Anders als in Großbritannien konnten nie einzelne Persönlichkeiten überproportionalen Anteil und damit Einfluss erwerben. In den Niederlanden wurde eher in Gruppen gedacht; es waren letztendlich die Amsterdamer Kaufleute, die in der VOC den Ton angaben. Allgemein profitierten die Vereinigten Niederlande von der Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunktes in Folge der Unabhängigkeit von Spanien 1581 sowie von der wirtschaftlichen Blüte in der Region zu dieser Zeit. Im Speziellen profitierten die Unternehmer Amsterdams, da diese Entwicklung mit der Verlagerung des Handelszentrums von Antwerpen in ihre Stadt einherging. Sowohl in den freien Niederlanden als auch in ihrer Metropole Amsterdam stand ausreichend Anlagekapital zur Verfügung, das dringend Investitionsmöglichkeiten suchte und in der VOC eine der lukrativsten fand.
Andere Kompanien dienten nicht selten als Ausweichmöglichkeiten für niederländisches und britisches Kapital, das bei den beiden großen Gesellschaften nicht zum Zuge kam. Waren es in Dänemark noch vorrangig die Kopenhagener Großkaufleute und der einheimische Mittelstand, die das Kapital aufbrachten, investierten in die Kompanie von Ostende, den kleinen Konkurrenten aus den katholischen habsburgtreuen Niederlanden, auch englische Anleger. In die schwedische Kompanie flossen schließlich neben einheimischen Geldern auch englisches, niederländisches und französisches Kapital. Spätestens im 18. Jahrhundert kann von einem offenen Kapitalmarkt gesprochen werden, auf dem international operierende Anleger ihr wirtschaftliches Glück suchten – eine Entwicklung, die nicht zuletzt durch die offizielle Öffnung der EIC für auswärtige Geldgeber im Jahr 1709 unterstützt wurde.
Lediglich Frankreich bildete einen Sonderfall. Auch im Bourbonenreich waren die Ostindien-Kompanien als Kapitalgesellschaften gedacht worden, doch mangelte es den einheimischen Kaufleuten, die eine lukrativere und sicherere Geldanlage suchten, an Interesse, während die streng merkantilistische Ausrichtung der französischen Regierung ausländisches Kapital als unerwünscht erachtete. In der Folge wurde der Staat zum wichtigsten Kapitalgeber, so dass zumindest in finanzhistorischer Sicht bei den französischen Kompanien nur eingeschränkt von einer Innovation gesprochen werden kann.
Das eingelegte Kapital reichte den beiden großen Gesellschaften aus Großbritannien und den Niederlanden bereits in der Anfangsphase nicht aus. Immerhin mussten nicht nur die auslaufenden Flotten ausgerüstet werden. Der Aufbau eines Stützpunktsystems und die Absicherung des Erreichten schlugen auf Dauer weitaus höher zu Buche. Folgerichtig mussten bald neue Finanzquellen erschlossen werden. In den Niederlanden waren von Beginn an Anleihen im Spiel, wenn es um den Schiffsneubau einzelner Kammern ging. Spätestens 1622 begann die VOC als solche mit der Ausgabe von Obligationen, die zunächst eine Laufzeit von sechs, zunehmend aber von zwölf Monaten hatten. Hinzu kamen die sogenannten anticipatiepenningen, mit denen die Kompanie Geld gegen Vorkaufsrechte und Zinsen aufnahm. Ende des 17. Jahrhunderts erreichte das aufgenommene Kapital beinahe den doppelten Wert des gezeichneten Aktienkapitals. Die Obligationen der VOC wurden selbst zu einem begehrten Handelsobjekt, mit dem sogar die fälligen Dividenden ausgezahlt wurden. Im 18. Jahrhundert war die älteste Aktiengesellschaft der Wirtschaftsgeschichte längst in mehrfacher Gestalt auf dem Kapitalmarkt präsent – und von diesem abhängig.
Auch die EIC geriet recht schnell in finanziell schwieriges Fahrwasser. Da anfangs noch der feste Kapitalstock fehlte, bestand das eigentliche Ziel darin, den vollen Umfang des Kapitals zuzüglich der Dividende nach jeder Asienfahrt zurückzuzahlen. Bereits nach zwei Jahrzehnten war dies nicht mehr möglich. Die Schulden der Kompanie, welche die Abwicklung der laufenden Geschäfte nun ebenfalls durch Anleihen absicherte, stiegen rapide, bis kurz vor der Zahlungsunfähigkeit die finanzielle Unternehmensbasis auf einen festen joint stock umgestellt wurde. Auch wenn es sich die EIC 1698 leisten konnte, dem Staat einen Kredit von £ 700 000 zum Vorzugszinssatz von 4% anzubieten, blieb sie langfristig selbst auf Anleihen angewiesen. Die Hoffnungen, dass Steuereinnahmen im Zuge der territorialen Herrschaftsausweitung in Indien während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine solide Finanzgrundlage schaffen könnten, wurden enttäuscht. Die für eine Kolonialverwaltung notwendigen Ausgaben überstiegen bald die Einnahmen; die Schuldenlast der EIC wuchs weiter.
So gehörte die Betätigung auf dem freien Kapitalmarkt bei beiden großen Ostindien-Kompanien zum alltäglichen Geschäft. Während die VOC letztendlich die immer wieder auftretenden Finanzlücken nicht dauerhaft schließen konnte und 1799 vordergründig wegen ihrer Zahlungsunfähigkeit liquidiert werden musste, spielte die finanzielle Situation bei der Auflösung der EIC 1858 nur eine nachrangige Rolle. Bei den kleineren Gesellschaften wiederum war die häufig sehr dünne Kapitaldecke stets ein Damoklesschwert, das eine entscheidende Rolle für den Niedergang spielte. Hinter solchen Kompanien standen weder das kaufmännische Potenzial noch das machtpolitische Interesse, welche die finanziellen Probleme dauerhaft hätten auffangen können.