Читать книгу Abenteuer Fernhandel - Jürgen Nagel - Страница 6
ОглавлениеI. Einleitung
Mehr als zwei Jahrhunderte prägten staatlich privilegierte Handelsgesellschaften die Beziehungen zwischen Asien und Europa. Diese Ostindien-Kompanien waren ein historisch einmaliges Phänomen, das Zeitgenossen gleichermaßen faszinierte wie heute Wissenschaftler und interessierte Laien. Faszination und Singularität beruhen nicht zuletzt auf der Doppelgesichtigkeit der Unternehmen. So galt es Coenraad van Beuningen, einem Direktor der niederländischen Verenigden Oostindischen Compagnie (VOC), als „allgemeines und in gewissem Sinne wahres Wort, dass die Niederländische Ostindische Kompanie nicht nur eine Handelsgesellschaft, sondern auch eine Kompanie der Herrschaftsausübung ist.“1 Eben dieser Charakter veranlasste den Historiker Reinout Vos, die VOC als „Gentle Janus“, als doppelgesichtige Erscheinung, zu personifizieren.2 Mehr noch als das Machtinstrument beeindruckt die ökonomische Institution die Geschichtswissenschaftler. Altmeister Charles R. Boxer sah in der VOC „eine kolossale Organisation, vergleichbar mit einer modernen multinationalen Firma“, die in der Lage war, „das Beste beider Welten in Krieg und Frieden“ für sich zu nutzen.3 Den kommerziellen Erfolg des englischen Konkurrenten East India Company (EIC) führte der indische Historiker Kirti N. Chaudhuri auf ein System der Entscheidungsfindung zurück, das die „logische Anwendung theoretischer Prinzipien auf die Lösung unternehmerischer Probleme“ zum Grundsatz gemacht hatte.4 Der dänische Wirtschaftshistoriker Niels Steensgaard brachte es schließlich auf den Punkt: „Ohne Zweifel repräsentieren die Kompanien das Beispiel einer institutionellen Innovation oder, wenn man so will, einen Fall von Fortschritt im Sinne einer Institution, die es ermöglichte, Güter mit möglichst ökonomischem Einsatz knapper Ressourcen zu beschaffen.“5 Der seit dem Mittelalter bestehende Ostindienhandel – man denke nur an Marco Polo – war stets ein Abenteuer; daran hatte sich auch in der Frühen Neuzeit nichts geändert. Die große Innovation der Ostindien-Kompanien bestand gerade darin, das Abenteuerliche an diesem Fernhandel zu reduzieren, wenngleich es im vorindustriellen Zeitalter nicht gänzlich zu beseitigen war.
Unter diesen Leitgedanken wurden 1602 in den Niederlanden mehrere kleinere Handelsgesellschaften zur VOC zusammengeführt, die in den beiden folgenden Jahrhunderten vor allem im Malaiischen Archipel, auf Ceylon und dem indischen Subkontinent, aber auch im Persischen Golf, auf der Arabischen Halbinsel, auf Taiwan (Formosa), am Kap der Guten Hoffnung und in den Häfen von Kanton und Nagasaki aktiv war. Erst 1799 wurde sie nach jahrelanger Krise endgültig zahlungsunfähig und musste aufgelöst werden.
Bereits seit 1600 bestand die britische EIC, die sich, als ihre niederländische Konkurrenz längst Geschichte war, kontinuierlich zur indischen Kolonialagentur weiterentwickelte, bis sie Mitte des 19. Jahrhunderts von staatlichen Verwaltungsstrukturen abgelöst wurde. Daneben war die EIC in ganz Südostasien und zunehmend in China aktiv.
Die beiden Großkompanien prägten das zeitgenössische wie das moderne Bild der ostindischen Kompanien, waren jedoch nicht die einzigen Vertreter ihrer Art. Den Dänen gelang die Festsetzung in Indien und vorübergehend in der malaiischen Inselwelt; die französische Compagnie des Indes war in Indien und Südostasien aktiv. Auch Schweden und Belgier waren bemüht, sich mit Hilfe der „institutionellen Innovation“ ein Stück vom großen Kuchen des Asienhandels zu sichern. Solche recht erfolgreichen Bestrebungen wie auch einige vergebliche Versuche veranschaulichen die hohe Attraktivität der Organisationsform „Ostindien-Kompanie“ in der Frühen Neuzeit. Mit ihr gewann der Globalisierungsprozess eine Qualität, die erstmals eine solche Bezeichnung überhaupt rechtfertigte. Die Verknüpfung von europäischen und asiatischen Märkten in einem bis dahin nicht bekannten Ausmaße bedeutete einen Schub für die weltwirtschaftliche Entwicklung, wie er durch ältere Expansionsformen, sei es die spanische Konquista in Amerika oder der portugiesische Estado da India in Asien, noch nicht erreicht worden war.
Eine Darstellung, die der Geschichte des Phänomens in seiner ganzen Komplexität gerecht werden will, braucht die Frühphase der Globalisierung als wesentlichen Bezugspunkt, darf jedoch nicht auf der globalen Ebene stehen bleiben. Die Akteure dieses Buches bewegten sich ebenso in der asiatischen wie in der europäischen Welt. Entsprechend sind Kenntnisse der Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in den asiatischen Operationsgebieten ebenso unverzichtbar wie Informationen über die Bedingungen in den europäischen Herkunftsländern. Das folgende Kapitel geht daher auf die Welt des asiatischen Handels ein, ehe die Ostindien-Kompanien in einer systematischen Darstellung als spezifischer Unternehmenstypus vorgestellt werden. Da sie je nach Nation unterschiedliche Ausprägungen aufwiesen, folgt die Darstellung der wichtigsten Einzelkompanien – jeweils eingebettet in die asiatischen wie europäischen Rahmenbedingungen, unter denen sie agieren mussten und ihren Erfolg entfalten konnten. Nicht nur den runden Abschluss eines Überblicks, sondern einen zentralen Aspekt für die gesamthistorische Einordnung stellen schließlich die Reaktionen in der asiatischen Welt dar.
Das Zeitalter der Globalisierung begann, so viel Einigkeit kann unter Historikern mittlerweile vorausgesetzt werden, spätestens in der Frühen Neuzeit. Verbindungen, die bereits seit der Antike oder dem Mittelalter bestanden, gewannen durch die Europäische Expansion eine neue Dynamik, wodurch die erste Phase der Globalisierung eingeläutet wurde.6 Geprägt wurde diese von den Ostindien-Kompanien, die so zu den ersten Agenten der Globalisierung wurden. In diesem Sinne zeigt auch der vorliegende Band ein doppeltes Gesicht: einerseits als Baustein der Globalisierungsgeschichte, andererseits als Beitrag zu einem nicht-eurozentrischem Geschichtsverständnis.