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V. Die Flucht

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Mutlos schaute das Mädchen erneut nach oben. Ein leichter Wind kam auf und plötzlich sah sie durch die Öffnung das Licht des Mondes. Nur ein schwacher Schein, aber war dies vielleicht ein Zeichen Odins? Sollte dieses Licht ihr die Richtung deuten? ‚Flieh, Iska, flieh‘, schien es zu sagen. Der Wind flaute wieder ab und Blätter verdeckten erneut den Mond.

Langsam richtete sie sich auf. Der Baum war eng und jemand, der nicht so schlank war wie sie, würde darin stecken bleiben. Vorsichtig kletterte sie aus ihrem Versteck. Hier oben in der Baumkrone ließ sich die nähere Umgegend gut einsehen. Wie ein Tier, das gejagt wird, sicherte sie in alle Richtungen. Wieder auf dem festen Boden, ging Iska in die Hocke und lauschte angestrengt. Bis auf ein leises Rauschen des Windes konnte sie nichts vernehmen. Fast lautlos bewegte sie sich fort. Hinter jedem Baum konnte ein römischer Soldat lauern und ihr Herz pochte vor Angst. Die Richtung stand nun fest: es war der Mond, der ihr mit seinem fahlen Licht beschied, hier entlang zu gehen. Iska stellte fest, dass der Weg in dieser Richtung sie geradewegs in das Dorf führen würde. Dorthin könnte sie aber auf gar keinen Fall zurückkehren. Sie müsste also erneut einen Bogen um die Hütten schlagen. Danach kam der kleine Wald und dahinter lag Sumpfland, das von den Menschen stets gemieden wurde. Zu groß war die Gefahr, dort im Morast stecken zu bleiben und elendig zu ertrinken oder zu ersticken.

Wollte ihr Odin diesen Weg zeigen? Durch den Sumpf hindurch? Aber was erwartete sie dahinter? Iska kannte einige Wege in dem morastigen Gebiet, die halbwegs sicher waren, doch niemals hatte sie es komplett durchquert. Nahm der Sumpf überhaupt ein Ende?

Mittlerweile lag das Dorf fast hinter ihr, auch wenn sie einen großen Bogen darum machen musste und sehr vorsichtig war. Sie achtete immer darauf, genügend Abstand zu den Hütten zu halten, kam aber trotzdem recht gut voran. Die ersten Büsche als Vorboten des nahen Waldes gaben ihr Schutz, nahmen aber auch die Sicht. Iska wurde noch vorsichtiger. Streiften die römischen Soldaten hier herum oder hatten die sich zur Ruhe begeben? Immer wieder verharrte sie und lauschte angestrengt. Vor jedem Schritt den Boden absuchend, um auch ja nicht auf einen morschen Ast zu treten, schlich Iska langsam vor. In der Ferne heulte ein Wolf und bei dem Gedanken an die Gefahr, die von diesen Tieren ausging, musste das Mädchen erschauern. Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken herunter. Erneut blieb sie stehen.

Da, ein Geräusch! Iska war der festen Überzeugung, ein Geräusch zu hören. Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse. Aber so sehr sie ihre Augen auch anstrengte, es war nichts zu sehen. Eine Wolke verdunkelte den Mond, es wurde stockfinster.

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren Mund und jemand riss sie unsanft zu Boden. Fast bekam sie keine Luft mehr, so fest wurde ihr Mund verschlossen. Iska wollte sich wehren, doch wer auch immer sie festhielt, war kräftiger und gewandter als sie. ‚Ein geübter Krieger‘, ging es ihr durch den Kopf, ‚das sind die römischen Soldaten. Es ist alles vorbei, sie haben dich doch noch gefangen. So schnell endet also deine Flucht!‘

Schwer lastete ein Knie auf ihrem Brustkorb. Allmählich gab sie ihre Gegenwehr auf. Gegen die schwer bewaffneten Römer hatte sie keine Chance.

„Wehr dich nicht und sei ruhig! Gib keinen Ton von dir, wenn ich meine Hand fortnehme, sonst muss ich dich töten!“ Der römische Soldat redete sie in ihrer Sprache an. Iska konnte jedes Wort verstehen.

„Hast du meine Worte verstanden?“ Iska versuchte zu nicken. Langsam zog der Soldat seine Hand fort. Der Druck des Knies auf ihrer Brust verringerte sich. „Wer bist du?“

Iska fragte sich, warum der Römer so leise zu ihr sprach und seine Kameraden noch nicht bei ihnen waren. Doch auch sie flüsterte, als sie ihm antwortete. „Mein Name ist Is...“ Iska hielt mitten im Wort inne. Fast wäre ihr ein böser Fehler passiert, denn immer noch wollte sie als Junge gelten. Niemand sollte erfahren, dass sie ein Mädchen war! Was würden die Römer alles mit ihr anfangen, wenn die ihr wahres Geschlecht herausbekommen würden!

„Wiborg. Mein Name ist Wiborg und ich bin aus dem Dorf Voghat.“ In der Eile war Iska kein besserer Name, als der ihres Bruders, eingefallen.

Die Wolke gab den Mond inzwischen wieder frei und neugierig betrachtete Iska den immer noch auf ihr knienden Mann. Nein, das war kein Römer. Er war eher so gekleidet wie die Leute ihres Dorfes.

Aber auch er betrachtete sie neugierig. „Du bist nicht Wiborg aus Voghat! Du lügst. Sprich die Wahrheit, sonst töte ich dich!“

„Wieso soll ich nicht Wiborg sein? Du kennst mich doch gar nicht.“

Jetzt verstärkte sich der Druck auf ihre Brust wieder. „Aber ich kenne Wiborg aus Voghat. Und du bist es nicht!“

Iska überlegte. Bei all den Ängsten und trotz ihrer Verwirrung arbeitete ihr Verstand messerscharf. Dies war niemand aus ihrem Dorf und auch niemand aus der Gegend, sonst würde sie ihn kennen. Was hatte Wiborg ihr noch von einem Mann aus dem Land jenseits des Rhenus erzählt? Dieser hier könnte der Krieger sein. Wie war noch sein Name? „Du bist Sigmar!“

Iska hatte nicht mit der durchschlagenden Wirkung ihrer Eröffnung gerechnet. Der Druck des Knies wich von ihrer Brust und der Mann sah sie verwundert an. „Du kennst mich?“

„Nein, aber mein Bruder hat mir von dir erzählt!“

„Dein Bruder? Wer ist das denn nun wieder?“

„Wiborg ist mein Bruder.“

Der Fremde schüttelte den Kopf. „Du lügst erneut. Wiborg hat keinen Bruder, das hat er mir selbst erzählt. Junge, eine Lüge noch und mein Schwert wird dich durchbohren!“

Iska erschrak, denn Sigmar zog plötzlich sein Schwert und bedrohte sie. Abwehrend streckte sie die Hände von sich. „Lass mich erklären.“ Iska sprach leise und hastig. Nach und nach erzählte sie dem Fremden ihre Geschichte, von ihrem Gespräch mit Wiborg und von dem, was im Dorf geschehen war.

Endlich steckte Sigmar sein Schwert wieder in die Scheide. „Euer Dorf wurde von den Römern niedergebrannt. Soweit ich herausfinden konnte, stehen nur noch zwei Hütten. In der einen haust der Präfekt und in der anderen seine Soldaten. Im Morgengrauen erwarten sie eine Meute Bluthunde und weitere Soldaten. Du hast wirklich einen römischen Soldaten erstochen? Du, die kleine Schwester von Wiborg?“ Der Ton des Mannes wurde versöhnlicher, ja fast schon ehrfurchtsvoll.

Iska nickte ernst. „So klein bin ich nicht mehr. Ich bin eine Frau!“

Sigmar musste lachen. Sofort rief er sich wieder zur Ordnung. Mit einem Blick auf ihre Haare und ihre Kleidung warf er ein: „Du siehst aber nicht gerade wie eine Frau aus, kleine Iska.“ Dann nahm er Iska an der Hand und zog sie in den Wald. „Ich war gerade auf dem Weg zurück über den Rhenus. Meine Aufgabe hier ist jetzt erfüllt. Und wenn die römischen Soldaten ihre Bluthunde laufen lassen, kann ihnen niemand entkommen. Haben die Tiere erst einmal die Witterung aufgenommen, so jagen sie ihre Beute unerbittlich. Das wäre auch mein Tod. Deswegen ist die sofortige Flucht unausbleiblich.“

Plötzlich überkam Iska die Angst, in Kürze wieder allein zu sein. „Zurück über den Fluss? Wie weit ist es denn bis dorthin? Und woher weißt du das alles?“

„Du stellst eine Menge Fragen, kleine Iska. Nun, wie dir der geschwätzige Wiborg ja erzählt hat, bin ich hier, um einiges in Erfahrung zu bringen. Dazu gehört auch, dass ich die Römer beobachte und belausche.“

Iska unterbrach Sigmar mit einem Schmollen: „Wiborg ist nicht geschwätzig!“

Der lachte kurz und freudlos auf: „Nein, bestimmt nicht, wenn er jedem unsere Geheimnisse verrät!“

„Ich bin nicht jeder. Außerdem habe ich ihm keine Wahl gelassen. Und ... und dein Geheimnis ist bei mir gut verwahrt. Ich werde dich bestimmt nicht verraten. Die Römer jagen mir ja selbst hinterher!“

Sigmar nahm erneut Iskas Hand: „Ja, das glaube ich dir. Aber du kennst die Römer nicht. Sie haben Methoden, ihre Gefangenen zum Sprechen zu bringen. Also höre: Bis zum Fluss sind es vielleicht zwei Tagesmärsche zu Fuß. Es kann aber auch länger dauern, denn wenn ich auf römische Soldaten stoße, werde ich sie umgehen müssen. Außerdem sind die Stellen, an denen man durch den Wall der Römer schlüpfen kann, rar gesät und es ist immer gefährlich den Wall zu kreuzen. Und dann ist da noch das Sumpfgebiet vor uns. Das muss ich umgehen!“

Iska dachte kurz nach, dann sah sie Sigmar bittend an: „Nimm mich mit. Ich kann mit dir Schritt halten. Außerdem kenne ich sichere Wege durch den Sumpf, oder zumindest bis zur Hälfte. Ich werde keine Last für dich sein.“

Sigmar blickte Iska ernst an. „Ich hätte dich auf jeden Fall mitgenommen, denn wenn du hierbleibst, ist das dein sicherer Tod. Aber wir müssen uns sputen, denn bis zum Anbruch des neuen Tages dauert es nicht mehr lange. Und wir müssen vorsichtig und leise sein, da hier überall die römischen Soldaten lauern. Ich weiß mich zwar zu wehren,“ dabei klopfte Sigmar auf sein Schwert, „aber gegen eine Überzahl an Soldaten komme ich auch nicht an!“

Auf leisen Sohlen durchquerten sie den Wald. Iska, die hier aufgewachsen war, staunte immer wieder über die guten Ortskenntnisse des Fremden. Einmal siegte ihre Neugier und sie wandte sich an Sigmar: „Du kennst dich gut aus, hier in unseren Wäldern. Erkläre mir, wieso!“

Sigmar schmunzelte. „Mein Volk schickt mich schon lange Jahre als Kundschafter in diesen Teil eures Landes. Ich erkunde hier die Verhältnisse, die Landschaften, wie eure Leute den Römern gegenüberstehen und wie die Römer sich verhalten. Ich bin natürlich nicht der Einzige, der so etwas tut. Jeder von uns hat ein bestimmtes Gebiet, über das er Wissen sammelt. Wir tragen alles zusammen und die Ältesten und unsere Kriegsfürsten schaffen daraus ein Gesamtbild.“

Iska erschrak. Der Gedanke jahrelang ausgespäht worden zu sein, machte ihr Angst. „Wollt ihr uns überfallen, wollt ihr Krieg führen?“

„Nein, Iska, die Zeit der Stammeskämpfe wie es früher einmal war, sollte vorbei sein. Arminius der Cherusker, Sohn von Sigimer hat uns schon vor vielen, vielen Jahren gezeigt, zu welchen Dingen wir fähig sein können, wenn wir uns nicht ständig selbst bekämpfen. Eines Tages werden wir alle gemeinsam die Römer aus unserem Land jagen!“

Iska machte große Augen. Obwohl sie sich auf der Flucht befanden und nur flüsternd miteinander sprachen, faszinierte sie dieses Thema. Das war Wissen, über das offensichtlich nicht einmal Thoralf verfügte. „Arminius? War er ein Krieger?“

Sigmar nickte: „Ein großer Krieger. Es ist bald so lange her, wie zwei Menschenleben lang sind, da schlug Arminius der Cherusker die Römer in einer großen, alles vernichtenden Schlacht; weit jenseits des Rhenus. Aber lass uns weitergehen, sonst erwischen uns die römischen Soldaten doch noch! Sollte sich später die Zeit finden, werde ich dir mehr von ihm erzählen.“

Schweigend stapften sie weiter durch das Gehölz und vermieden dabei möglichst, Geräusche zu machen. Hin und wieder drangen aus der Ferne Stimmen der Römer, die wohl die Wälder durchstreiften, zu ihnen. Aber nie bestand wirkliche Gefahr entdeckt zu werden. Als sie endlich das Sumpfgebiet erreichten, wandte sich Sigmar wieder an Iska: „Du kennst wirklich einen Weg hier hindurch? Wir können viel Zeit sparen und schneller vorankommen, wenn wir das Gebiet durchqueren, anstatt es zu umgehen.“

Iska nickte. „Ich war schon häufig hier. Aber ich kenne die Wege nur bis zu einem bestimmten Punkt, ich bin niemals ganz hindurch gegangen. Lass es uns versuchen.“

Sigmar nahm ihre Hand und sah sie sinnend an. „Ich befürchte, dass wir auch keine andere Wahl haben, wenn wir den Römern entkommen wollen.“

Eigentlich sah das vor ihnen liegende Sumpfgebiet kaum anders aus als der übrige Wald. Die Bäume standen dicht an dicht und manchmal fanden sich freie Flächen dazwischen, auf denen hohes Gras wuchs. Hier und dort verdeckten dichte Büsche die Sicht und an zahlreichen Stellen reckten sich Schilfpflanzen dem Himmel entgegen. Lediglich vor sich hin modernde Pfützen ließen auf den hohen Wassergehalt des Bodens schließen. Die Gefahr im Morast zu versinken wurde um so größer, desto unauffälliger und unscheinbarer der Boden vor ihnen lag. Aber hier kannte Iska sich noch aus. Wie oft schnitten sie hier Schilf oder sammelten vermodertes Holz. „Hier lang.“ Iska übernahm die Führung und hieß Sigmar direkt hinter ihr zu bleiben. „Hier ist es noch ungefährlich, man wird sich nur nasse Füße holen.“ Dabei warf sie bewundernde Blicke auf Sigmars festes Schuhwerk. Ihre Füße waren über und über mit Schmutz und Blut bedeckt. Der untere Saum der Beinkleider strotzte vor Dreck und kleine Risse und Löcher zeugten von ihrer Flucht vor den Soldaten. Als sie an einem klaren Bach vorbeikamen, stieg sie kurzerhand hinein und wusch ihre Füße sauber.

Sigmar beobachtete sie dabei. „In unserem Dorf werde ich dafür sorgen, dass auch du festes Schuhwerk bekommst.“

„Solches, wie du es trägst?“ Iska kicherte leise.

„Mal sehen. Aber komm, wir müssen weiter. Es ist keine Zeit für einen längeren Aufenthalt.“ Rasch tranken sie noch von dem klaren Wasser und setzten dann ihre Wanderung fort.

Allmählich wichen die Schatten der Nacht und wie auf ein geheimes Zeichen setzte der Gesang der Vögel ein. Der Wald rings um sie herum füllte sich mit Leben. Kleine Eichhörnchen huschten Bäume herunter und andere wieder hoch und Frösche begannen den Tag mit einem fröhlichen Konzert. Plötzlich merkte Iska wie hungrig sie war. Sie sah Sigmar an: „Hast du etwas zu essen?“

„Ein wenig. Schau hier, das ist alles was ich noch habe.“ Er kramte etwas Brot und getrocknetes Fleisch hervor. „Das muss uns momentan reichen!“ Sie teilten sich das karge Mahl.

Sigmar deutete auf einen Hasen, der in aller Ruhe über eine kleine Lichtung hoppelte. „Leider bleibt uns keine Zeit, etwas zu jagen. Sollten wir Glück haben, so können wir unterwegs Beeren und Wurzeln sammeln. Und kurz bevor wir den Grenzwall der Römer überqueren, kann ich in einem kleinen Dorf vielleicht etwas zu essen erstehen. Schau, Iska, ich habe hier einige römische Münzen.“

Interessiert schaute Iska sich die fremden runden Münzen an. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Was ist das?“

„Das sind römische Sesterzen. Hier siehst du den Kopf auf dieser Seite?“ Iska nahm das kleine Geldstück zwischen die Finger und drehte es hin und her. Als sie nickte, sprach Sigmar weiter: „Das stellt einen römischen Kaiser dar.“

Entfernt jaulten einige Hunde auf. Rasch nahm der junge Mann das Geldstück wieder an sich und steckte es ein. „Wir müssen weiter, Iska. Sie kommen mit den Hunden! Die Tiere werden schnell unsere Fährte aufnehmen.“ Eilig setzten beide ihren Weg fort.

„Bis hier bin ich schon gegangen, aber nicht weiter.“ Die beiden jungen Leute standen am Rand einer kleinen Lichtung. Auf dem letzten Stück waren sie nur schwer vorangekommen, da der Weg durch den Sumpf immer schmaler und unüberschaubarer wurde. Hohe Brennnesseln, dichtes Schilf und andere große Pflanzen erschwerten das Hindurchkommen und so manches Mal musste Sigmar ihren Weg mit dem Schwert frei schlagen. Ein Fehltritt konnte hier schon den Tod bedeuten. Dazu kam erschwerend hinzu, dass sie ein ständiges Ziel gefräßiger Mücken wurden.

„Die Lichtung ist sicher, aber wie es dann weitergeht kann ich nicht sagen.“ Iska blickte verzweifelt um sich. Immer noch verfolgte sie das Jaulen der Hunde. Auch wenn die Geräusche sich eher zu entfernen schienen, als dass sie näherkamen, so blieb doch die ständige Gefahr hinter ihnen.

Sigmar schob Iska sanft zur Seite. „Lass mich vorangehen, ich kann mit meinem Schwert prüfen, wie sicher der Weg vor uns ist. Hier nimm du diesen Stock. Damit kannst du den Boden prüfen, wenn du nicht gerade direkt hinter mir gehst.“ Er reichte Iska einen kräftigen Stock, den er schon eine Weile mit sich herumtrug. Vorsichtig überquerten sie die Lichtung. „Hier scheint eine gute Stelle zu sein!“ Sigmar prüfte die Festigkeit des Bodens, indem er mit seinem Schwert alle paar Schritte hineinstach. Plötzlich steckte das Schwert bis zur Hälfte im Morast. „Hier geht es nicht weiter, der Boden ist zu weich.“ Sigmar versuchte es an einer anderen Stelle. Wieder versank das Schwert. Überall, wo er auch hinstach, war der Boden zu weich und würde sie nicht tragen. Ratlos schaute er Iska an. „Wir müssen zurück. Hier kommen wir nicht weiter. Ich finde einfach keinen Weg durch den Sumpf.“

„Und die Römer? Denen laufen wir dann doch geradewegs in die Arme.“

Sigmar überlegte. Vorwärts ging es nicht und zurück würden sie auch nicht können. Suchend schaute er sich um. Plötzlich kam ihm eine Idee: „Iska, hilf mir. Siehst du den umgestürzten Baum? Er kann noch nicht lange dort liegen, denn seine Äste sind noch nicht vermodert und die Blätter noch grün. Hier nimm mein Messer und trenne so viele Äste wie möglich vom Stamm. Dann lass uns die Zweige hier auf den Boden legen.“

Beide machten sich an die Arbeit. Der Baum lag direkt an dem Pfad, auf dem sie sich befanden. Trotzdem musste jeder Schritt wohl überlegt sein. Die Grenze zwischen festem Boden und Sumpf konnten sie nicht genau bestimmen und es kam mehr als einmal vor, dass Iskas nackte Zehen im Morast versanken.

Es dauerte eine geraume Weile, das Gekläff der Hunde näherte sich inzwischen wieder sehr stark, dann endlich lagen genügend Äste, Zweige und Blätter über der morastigen Stelle. Vorsichtig stellte Sigmar sich an den Rand und schob seine Füße Stück für Stück weiter vor. Langsam sanken die Äste im Boden ein, aber gerade als Sigmars Füße im Schlamm verschwanden, schienen sie ihn zu tragen. Vorsichtig schob er sich weiter. Schon verschwand der halbe Unterschenkel im Morast und gerade als Iska ihn zur Umkehr bewegen wollte, winkte er ihr aufgeregt zu: „Hier ist der Boden wieder fest. Iska, komm vorsichtig zu mir herüber! Bleibe aber in der Mitte der Äste.“

Noch einmal stieß er sein Schwert in den Boden und nickte zufrieden. „Der Boden ist wirklich etwas fester, komm schnell!“ Iska tat wie ihr geheißen. Mit einem satten Schmatzen verschwanden ihre Füße im Morast. Aber sie sank nicht weiter ein und vorsichtig setzte sie ebenfalls Fuß vor Fuß, immer in der Angst, noch weiter einzusinken.

Endlich konnte sie Sigmars ausgestreckte Hand ergreifen. Aufatmend fiel sie auf den feuchten aber festen Boden. Doch Sigmar zog sie wieder hoch: „Keine Zeit zum Ausruhen. Du musst mir noch einmal helfen. Wir müssen die Zweige und Blätter wieder herausziehen. Das wird die Römer hoffentlich ein wenig aufhalten.“ Gemeinsam zogen sie die Äste auf ihre Seite. Zäh klebte der Morast an den Blättern und es war ein schweres Stück Arbeit, alles an Land zu ziehen. Dadurch verloren sie viel Zeit und das Gekläff der Hunde näherte sich unaufhörlich.

Iska sah Sigmar erschöpft an und Angst schwang in ihrer Stimme mit: „Die Hunde kommen näher. Reicht es denn noch nicht, haben wir nicht genug Äste entfernt?“

Sigmar schüttelte den Kopf, nahm sich aber keine Zeit die Arbeit zu unterbrechen. „Nur die hier noch. Gleich haben wir es geschafft!“

Endlich lagen die meisten der Äste am Rand des schmalen Weges, teilweise im Morast und teilweise hinter Büschen. Sollten die Römer ihnen folgen wollen, so müssten die erst einmal selber Äste und Blätter sammeln. Sigmar machte sich aber keine Illusionen, dass die Römer dadurch lange aufgehalten würden. Beide setzten ihren mühevollen Weg fort. Bei aller Eile vergaß der junge Krieger aber nicht, ständig die Festigkeit des Bodens zu prüfen. Einfacher wurde es immerhin dadurch, dass sich hier ein kleiner Pfad abzeichnete, der wohl von Jägern oder Beerensammlern hin und wieder genutzt wurde. Sie kamen jetzt schneller voran.

Plötzlich blieb Sigmar stehen. „Iska, hörst du das?“

Iska lauschte, konnte aber außer dem Gezwitscher der Vögel und gelegentlichen Geräuschen, wie sie der Wind in den Bäumen verursachte, nichts vernehmen. „Was soll ich hören? Nein, ich höre nichts.“

„Genau das meine ich. Das Kläffen der Hunde scheint verklungen zu sein!“

Iska nickte zustimmend. „Ist das ein gutes Zeichen? Ob wir sie abgehängt haben?“

„Bestimmt nicht, aber vielleicht haben wir einen kleinen Vorsprung gewonnen. Außerdem rechne ich damit, dass die Römer berittene Truppen um den Sumpf herumschicken. Zu Pferd dürften sie schon längst vor uns sein und auf uns warten!“

Iska erschrak. Was Sigmar da sagte, würde vermutlich stimmen. Bestimmt warteten zahlreiche Soldaten vor dem Wald schon auf sie. Deswegen wurden sie vielleicht auch nicht mehr von den Hunden verfolgt. Dann blieb ihr Herz fast stehen. „Und wenn sie die Hunde um den Sumpf herumführen und von vorne kommen? Oder von beiden Seiten. Oh, Sigmar, wir sind verloren!“ Schluchzend setzte Iska sich auf den Boden. Die Anstrengung, die Angst und die augenscheinliche Ausweglosigkeit ihrer Flucht forderten jetzt ihren Tribut.

Sigmar legte ihr eine Hand auf den Kopf. „Iska, es wird ein wenig dauern, bis die Römer die Hunde um den Sumpf herumgebracht haben. Da sind wir längst in Sicherheit.“

Das stimmte so zwar sicherlich nicht, aber Sigmar erreichte sein Ziel und Iska beruhigte sich etwas.

„Wenn wir erst einmal aus diesem Sumpf heraus sind, was ja nicht mehr allzu lange dauern kann, dann wenden wir uns nach Süden und weichen somit den Soldaten aus. Dadurch wird unser Weg zwar länger, aber wir laufen den Römern nicht direkt in die Arme.“ Sigmar zog die immer noch leise schluchzende Iska wieder auf die Beine. Dann legte er beide Arme fest um das zitternde Mädchen. Sanft strich er ihr über die kurzen Haare. „Beruhige dich“, sprach er leise auf Iska ein, „wir werden das schaffen. Die Götter sind mit uns.“ Allmählich beruhigte das Mädchen sich wieder. Mit dem Ärmel wischte sie schließlich entschlossen die Tränen fort. Hand in Hand setzten sie erneut ihren Weg fort.

„Da schau, Iska, ein Reh. Das heißt, wir haben das Sumpfgebiet fast verlassen.“ Sigmar zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Tier, das seelenruhig zwischen den Bäumen an einem Grasbüschel rupfte. Er sprach leise und sein Blick wanderte rastlos zwischen den Bäumen umher. „Lass uns noch ein Stück in dieser Richtung weitergehen und dann nach Süden einen Haken schlagen!“

Nachdem sie die Richtung geändert hatten, sah Iska Sigmar fragend an. „Sigmar, was ist Süden?“

„Du kennst nicht viel von der Welt, nicht wahr Iska? Habt ihr keine Lehrer in eurem Dorf, habt ihr niemanden, der euch die Zusammenhänge erklärt und euch unterrichtet?“

„Unser Dorfältester erzählte mir oft etwas über Römer und die Götter und so. Er meinte auch, ich könnte die Sprache der Fremden erlernen. Aber wir sind einfache Bauern und wichtig für uns ist das Korn auf den Feldern und die Gesundheit unserer Tiere.“

Iska vermeinte in den Worten ihren Bruder reden zu hören. Doch sie gab nur die Gesetzmäßigkeiten ihrer Dorfgemeinschaft wieder. Beide sprachen leise, fast flüsternd, miteinander und Sigmar lauschte ständig, ob er verdächtige Geräusche hören könnte. Aber alles schien ruhig zu sein und so blieb er plötzlich stehen, wandte sich an Iska, legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah ihr fest in die Augen: „Iska, in unseren Dörfern gibt es gelehrte Leute, die auf so mancher Reise viel gesehen und erfahren haben. Dieses Wissen geben sie an die Kinder des Dorfes weiter. So wie die Kinder und jungen Männer, und ja - auch die Frauen - die Kunst des Kampfes von klein auf lernen, so lernen sie auch andere Dinge. Und nicht nur die Sprache der Römer. Wir werden unser Dorf heil erreichen und ich verspreche dir, Iska, dass du von unseren gelehrten Männern ebenso unterrichtet wirst, wie die jungen Leute unseres Stammes.“

Dem Mädchen rieselte ein warmer Schauer den Rücken herunter. In ihrem Kopf schien sich plötzlich alles zu drehen. Waren es die Worte des jungen Kriegers, die sie so verwirrten, oder war es der Mann selbst? Iska wusste ihre Gefühle nicht zu deuten. Dann endete der magische Moment plötzlich und Sigmar nahm sie wieder an der Hand und zog sie weiter durch den Wald. Sunna hatte in ihrem Wagen schon ein erhebliches Stück Weges zurückgelegt, da tauchte plötzlich der Rand des Waldes vor ihnen auf. Sigmar ging in die Hocke und bedeutete Iska es ihm gleich zu tun. In gebückter Stellung schlichen sie vorwärts. Hinter einem Busch legte der Krieger sich flach auf den Boden und zog Iska neben sich. „Da, neben dem Baum dort hinten lagern römische Soldaten.“ Er hauchte die Worte direkt in Iskas Ohr. „Sei leise und achte darauf, ja kein Geräusch zu machen!“

Iska konnte die Männer nicht entdecken und angestrengt spähte sie in die angegebene Richtung. Leise drang das Wiehern eines Pferdes zu ihnen herüber. So sehr sie sich auch anstrengte, sehen konnte sie immer noch niemanden. Sigmar richtete sich etwas auf. „Es scheinen drei oder vier Soldaten zu sein. Ihre Pferde sind an einem Baum angebunden. Vermutlich wird es sich um eine Patrouille handeln, die den Wald abriegeln soll. Wie ich sagte, sind sie um den Sumpf herumgeritten und suchen dich jetzt auf dieser Seite.“ Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm fort von den Soldaten: „Wir müssen es etwas weiter in dieser Richtung versuchen.“ Ohne ein Geräusch zu verursachen, zogen sie sich wieder tiefer in den Wald zurück. Dann richtete Sigmar sich auf. „So, hier können sie uns bestimmt nicht sehen. Sei trotzdem leise und achte auf deine Schritte! Wenn du auf einen Ast trittst, könnten die Soldaten das hören. Die Männer reagieren bestimmt auf jedes fremde Geräusch.“ Vorsichtig bewegten sie sich parallel zum Waldrand von den Soldaten fort. Da sie darauf achteten, keine Geräusche zu machen, war das Vorankommen sehr beschwerlich. Immer wieder hielt Iska kurz vor dem Aufsetzen eines Fußes inne und trat dann an eine andere Stelle. Nach einer geraumen Weile änderte Sigmar wieder die Richtung und hielt erneut auf den Waldrand zu. „Ich hoffe nur, dass die Posten der Römer nicht so dicht stehen, dass wir hier am Waldrand wieder auf Wachen stoßen! Durch den Umweg, den wir wegen der Soldaten auf uns nehmen müssen, verlieren wir viel Zeit.“ Erneut krochen sie auf allen Vieren voran, immer Deckung hinter einem Strauch oder Baum suchend. Mittlerweile lag der Waldrand vor ihnen. Dahinter zeichnete sich eine Wiese mit hohem Gras ab. Sigmar lauschte. Kein Geräusch drang an ihre Ohren. Leise schob er sich Stück für Stück weiter und Iska folgte ihm. „Ich sehe und höre niemanden. Wir sollten dieser Richtung folgen. Das hohe Gras wird uns etwas Deckung geben, aber wir dürfen uns nicht aufrichten. Hörst du, Iska? Egal was ist, stehe auf garkeinen Fall auf. Bestimmt sind in der Nähe Posten, die das Gebiet überblicken können!“ Iska nickte. Langsam, Stück für Stück, ging es weiter. Immer wieder hielt Sigmar inne und lauschte angestrengt. In der Ferne war jetzt das Bellen von Hunden zu hören.

„Weiter.“

Plötzlich tauchte vor ihnen ein kleiner Bach auf. „Hier sind wir richtig.“ Anscheinend kannte Sigmar die Stelle. „Lass uns eine kurze Rast einlegen, Iska. Bis hierhin war es anstrengend genug. Trink etwas von dem Wasser, es ist sauber und rein, die Quelle ist nicht weit entfernt. Siehst du die Büsche auf der anderen Seite des Baches? Bis dahin werden wir uns noch auf unseren Bäuchen wie die Schlangen fortbewegen müssen, aber hinter den Büschen dürften wir einigermaßen in Sicherheit sein. Leider werden wir aber um ein Bad im Bach nicht herumkommen!“ Sigmar schöpfte etwas Wasser in seine Hände und trank langsam. „Es ist kühl und angenehm. Du solltest auch deine Füße etwas kühlen. Sie sind ganz blutig gelaufen!“

Iska hatte auf die Schmerzen in ihren Füßen kaum noch geachtet. Besonders, da sie bei der Kriecherei auf dem Boden jetzt nicht so sehr beansprucht wurden. Mit einem Mal merkte sie, wie müde und zerschunden ihr Körper war. Sunna würde bald den Himmel überquert haben und Iska sehnte sich nach Schlaf. Sigmar schien ihre Gedanken zu erraten: „Wir müssen weiter. An Schlaf oder eine längere Ruhepause ist noch nicht zu denken. Der Abstand zwischen den Soldaten und uns muss noch größer werden! Ich hoffe nur, dass sie die Hunde nach Einbruch der Dunkelheit nicht einsetzen, sondern bis morgen warten werden!“

Das Wasser des Baches war kalt und ihre Kleidung sog sich schnell damit voll. Iska nahm die Abkühlung dankbar entgegen, wurde doch ihre Müdigkeit ein wenig vertrieben. Auch taten ihre Füße jetzt nicht mehr ganz so weh. Endlich lagen sie schwer atmend hinter der Buschreihe. Sigmar sprach jetzt nicht mehr ganz so leise, aber immer noch gedämpft: „Das Gelände ist hier ein wenig angestiegen, wir sind quasi auf einem kleinen Hügel. Da vorne geht es wieder etwas abwärts und dort wird uns niemand von der anderen Seite her sehen können. Sollten keine Soldaten vor uns oder hier oben auf dem Hügel auftauchen, so sind wir einigermaßen sicher.“

Absichtlich verschwieg er Iska, dass inzwischen bestimmt alle Posten und Patrouillen in der Umgegend über die Flucht des Mädchens informiert sein dürften und sich der Jagd nach ihr anschlossen. Prüfend schaute er sich noch einmal um, dann bedeutete er Iska, dass es weiterging. Seufzend erhob sie sich und folgte Sigmar.

Iska - Die Flucht

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