Читать книгу Iska - Die Flucht - Jürgen Ruhr - Страница 8
III. Der Mord
ОглавлениеLangsam gingen sie nebeneinander auf das Dorf zu, jeder trug stolz einen Korb voller Früchte, und je näher sie den wenigen Hütten kamen, desto einsilbiger wurde Iska. Aber auch Wiborg schien in Gedanken versunken. Das ganze Dorf würde über sie lachen und sie könnten schon zufrieden sein, wenn es bei den Prügeln bliebe, die ihnen ihr Vater mit Sicherheit verabreichen dürfte. Mit Schrecken dachte Wiborg daran, was Elfrun dann über ihn denken würde. Wieso musste er auch seiner Schwester dieses dumme Versprechen geben? Und bekäme er nach dieser Angelegenheit überhaupt noch eine Chance mit Elfrun zusammenzukommen? Das hässlichste und dümmste Mädchen im Dorf würden sie für ihn zur Strafe, dass er seine Schwester so verunstaltet hatte, aussuchen. Wiborg begann leise die Götter um Gnade anzuflehen. Gnade für sich und seine Schwester.
Nach einem kurzen Fußmarsch ließen sie den Wald hinter sich und spazierten jetzt über eine Wiese, die von einem kleinen Hügel zu der Ansammlung von Hütten führte. Von hier aus überblickten sie einen Großteil der Felder und das an einem Waldrand gelegene Dorf.
Um einen kleinen Platz gruppierten sich weitläufig Hütten, die sowohl den Menschen, als auch den Tieren ein Zuhause waren. Aus einer dieser Hütten stieg leichter Rauch zum Himmel auf. Mittlerweile zählte das Dorf sieben dieser Behausungen. Geplant war der Bau einer weiteren direkt am Waldrand. Es sollte zunächst nur eine kleine Hütte werden und nur wenige Bäume würden dafür weichen müssen. Guntram und Iska würden dort ihr Heim finden. Der Platz war vom Dorfältesten und ihrem Vater schon bezeichnet worden. Alle Männer des Dorfes würden mit anfassen und in kürzester Zeit die Hütte bauen. Alles war geplant, alles stand fest. Nie und nimmer verzichtete Guntram auf die Hochzeit! Welch eine dumme Idee von Iska. Er betrachtete seine Schwester von der Seite. Selbst mit diesen kurzen, franseligen Haaren war sie noch wunderhübsch. Guntram wäre nie und nimmer der Narr, der auf diese Frau verzichten würde!
Plötzlich schaute Wiborg auf. Zunächst mutete es an wie eine dunkle Rauchwolke zwischen den Bäumen, dann erkannte er, dass auf der gegenüberliegenden Dorfseite Reiter auf einem Weg aus dem Wald preschten. Hochgewirbelter Staub ließ die Männer verschwommen erscheinen. Es handelte sich um geordnete Zweierreihen und unschwer erkannte der Junge, dass es römische Soldaten waren. Wiborg gab seiner Schwester einen Stoß. „Schau!“
Iska sah angestrengt zu der Stelle, die ihr Bruder ihr mit ausgestrecktem Arm zeigte. „Was ist das?“
„Das sind römische Soldaten. Sie kommen in diesem Jahr sehr früh in unser Dorf. Normalerweise ist noch ein wenig Zeit, bis die Römer ihren Tribut fordern. Sonst kommen sie doch immer nach dem vollen Mond, bevor er wieder schwindet, in unser Dorf. Diese hier sind zu früh. Was das wohl zu bedeuten hat?“ Wiborg klang besorgt. Dieser Besuch der Soldaten machte keinen Sinn und er konnte sich deren Verhalten nicht erklären.
Auch Iska machte sich jetzt Gedanken. „Vielleicht greifen sie das Dorf an?“ Sie war entsetzt, aber Wiborg konnte sie beruhigen: „Nein, dafür sind es zu wenige. Außerdem halten sie keine Waffen in Händen! Das kann ich ganz genau erkennen. Komm, beeilen wir uns. Ich bin neugierig, warum die Soldaten alle dort unten sind.“
Schon wollte Wiborg losrennen, als Iska ihn zurückhielt. „Sollten wir uns nicht lieber verstecken? So wie ich es sonst auch mache, wenn die Römer in unser Dorf kommen?“ Wiborg schüttelte den Kopf. „Du kannst dich ja verstecken. Aber ich glaube, dass diesmal kaum Zeit geblieben ist, die Frauen und Kinder im Dorf zum Versteck zu führen. Geh zurück in den Wald und warte dort, bis ich dich hole!“
Iska krallte sich in die Schulter ihres Bruders. „Nein, Wiborg. Ich gehe mit dir. Wenn alle Männer und Frauen des Dorfes dort sind, möchte ich mich nicht feige verstecken.“
Beide rannten über die Wiese zu den Hütten hinunter. Mittlerweile erreichten die Soldaten den Platz in der Mitte des Dorfes. Die Männer saßen in einem Halbkreis hinter einem einzelnen Reiter auf ihren Pferden. Gegenüber den Soldaten und links und rechts zu den Seiten fanden sich allmählich die Dorfbewohner ein. Nach und nach wurden es immer mehr und es schien, als käme das ganze Dorf jetzt hier zusammen. Schwer atmend erreichten Wiborg und Iska den Rand des Platzes. Das Mädchen, das jetzt wie ein Junge aussah, schaute mit großen Augen auf die prächtig gekleideten römischen Soldaten. Bisher waren die Frauen und Kinder immer rechtzeitig in ein Versteck gebracht worden, wenn die Römer in das Dorf kamen. Trotz aller Friedensbeteuerungen von Seiten der Römer trauten die Männer des Dorfes den Fremden nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben betrachtete Iska jetzt die stolzen Reiter mit ihren prächtigen Waffen und den in der Mitte des Halbkreises mit hocherhobenem Kopf auf seinem Pferd sitzenden einzelnen Römer. Seine Kleidung erschien dem Mädchen noch prächtiger und wertvoller als die der anderen. Der Mann war nicht so schlank und drahtig wie die Soldaten hinter ihm, sondern verfügte über eine enorme Leibesfülle. In dem schwammigen Gesicht saßen viel zu kleine Augen, die er jetzt halb zusammenkniff. Mit grimmigem Blick beobachtete er seine Umgebung. Jeder der Soldaten trug einen metallenen Brustpanzer, Helm, ein Schwert und einen Dolch am Gürtel. Unruhig scharrten die Pferde mit den Hufen. Es waren prächtige, große Tiere, wohlgenährt und voller Kraft. So etwas hatte Iska noch nicht gesehen und fasziniert schaute sie von einem Soldaten zum anderen. Thoralf, der Dorfälteste lehrte sie hin und wieder ein wenig zählen und rechnen, es war eines ihrer Geheimnisse, und im Stillen zählte Iska nun die Reiter. Dabei benutzte sie ihre Finger, wie Thoralf es ihr gezeigt hatte. Fünf waren an jeder Hand und Iska stellte fest, dass sie vier Hände haben müsste, wenn jeweils ein Finger für einen Soldaten stehen sollte. Den Anführer vorne noch nicht einmal mitgezählt.
Im Dorf herrschte Stille, keiner der Dorfbewohner sagte etwas. Lediglich das Schnauben und Scharren der römischen Pferde war zu vernehmen.
Jetzt trat der Dorfälteste vor den Mann, der von seinem Pferd auf den alten Dorfbewohner herabsah. Thoralf sagte etwas in der fremden Sprache der Römer und ein Grinsen erschien auf dem Gesicht des Reiters. Iska verfügte trotz ihrer sechzehn Jahre schon über genug Menschenkenntnis, um zu erkennen, dass es kein fröhliches Lächeln war, was der Mann jetzt zeigte. Es erschien ihr ausgesprochen bösartig. In ihrer Magengrube machte sich ein flaues Gefühl breit. Dass diese Römer nichts Gutes im Schilde führten, war offensichtlich.
Der Römer antwortete dem Dorfältesten. Dabei sprach er laut und mit barscher Stimme. Nachdem seine kurze Rede endete, machte er eine herrische Handbewegung hin zu Thoralf. Der Dorfälteste drehte sich um und wandte sich an die Dorfbewohner. Langsam und deutlich, so dass jedermann ihn gut verstehen konnte, sprach er zu ihnen: „Leute des Dorfes. Ich soll euch übersetzen, was der römische Herr sagt, da ich die Sprache der Römer leidlich verstehe und auch sprechen kann. Die Reiter sind vor der eigentlichen Zeit, da wir ihnen Tribut zu zollen haben, in unser Dorf gekommen und ich fragte nach dem Grund.“
Thoralf wandte sich wieder an den Anführer der Soldaten. Der sprach jetzt etwas leiser zu dem Dorfältesten, aber dafür um so eindringlicher. Iska spitzte die Ohren, konnte den fremden Worten aber keinen Sinn abgewinnen.
Thoralf drehte sich erneut um: „Dieser Römer ist der neue Präfekt der römischen Stadt Novaesium, die nicht allzu weit entfernt von unserem kleinen Dorf in der Nähe des Flusses Rhenus liegt.“ Er hielt kurz inne, wie um sich zu erinnern. „Sein Name ist Gaius Quintus Vulturius.“ Thoralf wollte sich gerade wieder zu dem Römer wenden, als dieser sprach. Wieder übersetzte der Dorfälteste: „Der gnädige Kaiser Hadrianus hat seinen treuen Diener Gaius Quintus Vulturius in einer weisen und weitsichtigen Entscheidung als praefectus castrorum in unser Land geschickt.“ Thoralf machte eine kurze Pause und lauschte erneut den Worten des Präfekten. „Gaius Quintus Vulturius erwartet von den auf römischem Gebiet siedelnden Germanenstämmen ...“
Iska stupste ihren Bruder an. Flüsternd fragte sie ihn: „Siedelnde Germanenstämme?“
„Leise, Iska. Damit meint er uns. Unseren Stamm, unser Volk!“
„... und Verbundenheit. Der Schutz, den die Römer gewähren, kommt allen Menschen hier gleich zuteil. Aber die von euch geleisteten Abgaben waren bisher zu gering. Die römischen Schutztruppen wollen versorgt sein. Daher verfüge ich, Gaius Quintus Vulturius, dass eure Abgaben ab sofort um die Hälfte der bisherigen Zahlungen erhöht werden.“
Ein Raunen ging durch die Dorfbewohner. Einzelne missmutige Rufe wurden laut. „Thoralf, erkläre dem Römer, dass wir selbst kaum noch etwas für uns haben. Wir können keine zusätzlichen Abgaben leisten!“
Iska erkannte in dem Sprecher ihren Vater. Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Der Dorfälteste wandte sich dem Römer zu und übersetzte. Iska sah, wie sich das Gesicht des Präfekten vor Zorn verzerrte. Er warf dem Dorfältesten ein paar Worte hin und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, zu übersetzen. Schon sprach Thoralf wieder zu den Dorfbewohnern: „Die Höhe der Abgaben steht unumstößlich fest. Wir müssen Rom unseren Tribut zollen. Wenn wir das nicht können, so sagt der Präfekt, dann sind wir nicht des Schutzes der Römer wert und dürfen nicht länger auf römischem Boden siedeln.“
Iskas Vater löste sich aus der Gruppe der Dorfbewohner und trat vor Thoralf hin: „Thoralf, dies war und ist unser Boden, Land der Ubier! Schon unsere Vorfahren haben hier gelebt. Viele viele Generationen. Lange bevor die Römer überhaupt unser Land überfielen. Wir können und wollen keine höheren Abgaben leisten. Selbst wenn wir dem Römer unsere letzten Vorräte und Tiere geben würden, beschützt er uns dann vor dem Winter? Kaum einer von uns könnte überleben. Uns fehlen das Korn und das Vieh. Wir müssten elendig verhungern. Schon jetzt wird es für uns schwer genug den kommenden Winter zu überstehen. Hat nicht der bisherige Präfekt enorm hohe Tributzahlungen gefordert? Und ist nicht letzten Winter, vor unseren Augen, die weise Gefion verhungert und niemand konnte ihr helfen? Und das, obwohl wir alle an Nahrung sparten und selber kaum überlebten?“
„Gerwolf, du hast weise gesprochen,“ Der Dorfälteste schaute Iskas Vater fest an, „aber das ist kein Argument bei den Verhandlungen mit dem Präfekten. Sieh dir den Mann an, seht euch alle den Römer an,“ Thoralf breitete die Arme aus, „sieht dieser Römer aus, als würde er Nachsicht üben?“ Während Thoralf noch zu den Dorfbewohnern sprach, stiegen fünf der Soldaten auf einen Wink ihres Anführers von den Pferden. Wie zufällig lagen ihre Hände über den Griffen der Schwerter. Wieder sprach der Präfekt und wieder musste der Dorfälteste übersetzen: „Rom fordert seinen Tribut. Jetzt. Seid ihr nicht bereit dem Caesar des römischen Reiches und damit auch eurem Herrn das Seinige zu geben, so sehe ich mich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen! Ich verlange von euch auf der Stelle die Zahlung von fünftausend Denarii.“
Als Thoralf dies übersetzte, ging ein ungläubiges Raunen durch die Menge. Iska vernahm Wortfetzen, aus denen sie die immer gleiche Frage heraushörte: ‚Wie viel ist das, fünftausend Denarii?‘ Gerade wollte sie die gleiche Frage Wiborg stellen, als Thoralf rasch zu dem Präfekten sprach: „Herr, ich glaube, Ihr seid nicht richtig informiert über unser armes Dorf. Wir verfügen über kein Gold oder Silber oder gar römische Münzen. Bisher haben wir unseren Tribut in Weizen und Tieren gezahlt und euer Vorgänger war stets zufrieden mit unseren Zahlungen. Wie sollten wir armen Bauern zu Münzen kommen, kann doch kaum einer von uns lesen oder schreiben, noch Eure Sprache sprechen? Ich bitte euch, seht von solch unerfüllbaren Forderungen ab!“
Der Präfekt wurde während der Rede des Dorfältesten immer ungehaltener. Mit hochrotem Kopf rief er seinen Soldaten einige Anweisungen zu. Weitere fünf Männer sprangen von ihren Pferden. Wie auf ein geheimes Kommando zogen alle Soldaten gleichzeitig ihre Schwerter. Diejenigen, die noch auf ihren Pferden saßen, lenkten diese jetzt um die Dorfbewohner herum, so dass sie alle von einem lockeren Ring berittener Soldaten umgeben waren. Der Anführer erhob wieder das Wort und seine Stimme klang jetzt schrill und bösartig.
Thoralf übersetzte erneut: „Ihr verweigert Rom das, was Rom zusteht! Meine Soldaten werden jetzt die Hütten und Ställe durchsuchen. Schenkt mir Glauben, wenn ich euch sage, dass Rom auch von euch den zustehenden Tribut erhalten wird!“ Noch während der Dorfälteste die Worte übersetzte, gab der Präfekt seinen Leuten ein Zeichen. Die zehn Soldaten, die zuvor von ihren Pferden gestiegen waren, schwärmten in die Hütten. Keiner der Dorfbewohner wagte es, sich zu rühren. Alsbald kehrten die Männer zu ihrem Anführer zurück. Es war offensichtlich, dass ihm die Soldaten berichten mussten, weder Geld noch Gold oder Edelmetalle gefunden zu haben. Der Präfekt ließ sein Pferd vor Wut vor- und zurücktänzeln, dann wechselte er einige Worte mit einem der Soldaten. Wieder verteilten sich die Männer. Diesmal gingen sie aber durch die Reihen der Dorfbewohner. Rasch war zu erkennen, dass sie dabei alle jungen Männer des Dorfes in der Mitte vor dem Präfekten zusammentrieben. Ängstlich warf Iska ihrem Bruder einen Blick zu, sah sich und ihn aber auch schon kurz darauf von kräftigen Soldatenhänden gepackt und zu den anderen gezogen. Unsanft wurden sie zu Boden gestoßen.
Wieder musste Thoralf die Worte des Präfekten übersetzen: „Dies ist der Tribut, den Rom nun von euch fordert! Jeder dieser jungen Männer, die Rom werden dienen dürfen, wird von mir großzügigerweise mit fünfhundert Denarii angerechnet. So wird Rom auch nur zehn eurer Kinder einfordern. Ich, Gaius Quintus Vulturius, von Caesars Gnaden Präfekt von Novaesium entscheide so!“
Arrius Lupus gab einem Soldaten erneut Anweisungen. Dann zeigte er auf einzelne Kinder, die von dem Soldaten zu den Dorfbewohnern zurückgeschickt wurden. Iska und ihr Bruder waren nicht dabei. Übrig blieben zehn der ältesten, kräftigsten und hübschesten Kinder des Dorfes. Erneut ging ein Stöhnen durch die Reihen der Dorfbewohner. Mutlos stand Thoralf vor dem Präfekten. Die Tränen in seinen Augen konnte er nicht unterdrücken.
Wieder musste er übersetzen: „Diese Kinder werden Rom dienen dürfen, sie werden als Sklaven dem glorreichen Caesar in meiner Stadt Novaesium dienen. Seid froh und dankbar, dass ich diese Lösung für euer Problem gefunden habe. Und seht zu, dass ihr die nächste Forderung Roms erfüllt! Sonst findet ihr euch alle noch als meine Sklaven wieder.“ Bei den letzten Worten lachte der Präfekt schallend und seine Soldaten fielen wiehernd in das Gelächter ein.
Gerwolf, Iskas und Wiborgs Vater, trat erneut zu Thoralf. Ein Soldat wollte ihn in die Reihen der Dorfbewohner zurückschicken, doch Gerwolf war ein großer und kräftiger Mann und er wischte die Hand des Soldaten wie nebenbei zur Seite. Bevor dieser sein Schwert ziehen konnte, stand Gerwolf schon vor Thoralf. Der Präfekt hieß seinen Soldaten zu warten. Neugierde war auf seinem Gesicht zu lesen. Gerwolf sprach so laut zu dem Dorfältesten, dass ein jeder ihn gut verstehen konnte: „Thoralf, sag dem Präfekten, dass er nicht einfach unsere Kinder mitnehmen kann. Sie sind unser Fleisch und Blut und wir sind keine Sklaven Roms, sondern wir leben unter römischem Schutz auf diesem Land. Die Forderungen, die er stellt, sind zu hoch und wir werden versuchen, sie das nächste Mal zu erfüllen. Aber er soll uns, um der Götter willen, unsere Kinder lassen, denn sonst nimmt er uns die Zukunft!“ Thoralf nickte, dann übersetzte er die Worte Gerwolfs.
Gespannt schauten alle Dorfbewohner auf den Präfekten, wie dieser wohl reagieren würde. Ein belustigtes Lächeln spielte um seine Lippen, ansonsten zeigte er keine Regung. Dann, als Thoralfs Rede endete, gab er dem Soldaten, der vorhin Gerwolf aufhalten wollte, einen Wink. Aus dem Augenwinkel erkannte Gerwolf, wie der Soldat mit erhobenem Schwert auf ihn zukam und er reagierte automatisch. Als der Soldat nahe genug heran war, drehte Gerwolf seinen Körper gerade so weit, dass er den Arm des Soldaten mit dem Schwert abwehren konnte. Mit der anderen Hand schlug er dem Römer ins Gesicht, so dass dieser einen weiten Satz nach hinten machte und auf dem Boden landete. In Sekundenschnelle färbte sich dessen Gesicht rot vom Blut, das aus der Nase quoll. Erstaunt blickte der Soldat auf den dastehenden Gerwolf. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht und schaute nun ebenso erstaunt auf seine feuchte Hand.
Keiner der Menschen achtete auf den Präfekten, der inzwischen einem anderen Soldaten ein Zeichen gab, worauf dieser Gerwolf mit gezücktem Schwert von hinten ansprang. Thoralf erkannte die Gefahr und stieß einen warnenden Schrei aus. Doch zu spät. Gerwolf wirbelte herum und noch in der Drehung trennte der Schlag des Soldaten seinen Kopf vom Rumpf. Blut spritzte und ein Schrei ging durch die Dorfbewohner. Aber noch immer wagte es niemand, sich zu rühren. Grinsend drehte der Soldat, der Gerwolf getötet hatte, sich um die eigene Achse, bereitete die Arme aus, wie ein Gladiator in der Arena, beifallheischend. Dann bückte er sich, um Gerwolfs Kopf aufzuheben.
Doch plötzlich hielt der Soldat inne. Erst wurde sein Blick erstaunt, dann starr. Während er langsam vornüber zu Boden kippte und Gerwolfs Kopf unter sich begrub, wurde hinter ihm Iska erkennbar, das blutige Messer noch in der Hand haltend.
Niemand im Dorf bewegte sich. Es schien, als würden alle die Luft anhalten. Solch eine Tat, noch dazu von einem kleinen Mädchen, auch wenn es wie ein Junge aussah, hatte niemand erwartet. Es herrschte in diesem Moment Totenstille. Der erste, der sich wieder fasste, war Thoralf und er zischte Iska die Worte zu: „Flieh, Iska, flieh!“ Dann warf er sich dem heranpreschenden Präfekten entgegen. Der hielt sein Schwert hoch erhoben und zum Schlag bereit, wurde aber durch den im Weg stehenden Thoralf ein wenig aufgehalten.
Iska handelte wie im Traum. Das Messer glitt ihr aus der Hand, sie drehte sich um und rannte zwischen den Dorfbewohnern, die eine schmale Gasse bildeten, in Richtung Wald. Links und rechts standen Soldaten mit ihren Pferden, aber die Dorfbewohner behinderten sie durch die gebildete Gasse. Aus dem Augenwinkel sah Iska noch, wie der Präfekt den Dorfältesten einfach über den Haufen ritt und dann ohne Rücksicht auf etwaige Opfer hinter ihr her preschte. Iska konnte von Glück reden, dass sie durch das allgemeine Durcheinander ein wenig Zeit gewonnen hatte. Aber würde sie vor den Römern den Wald erreichen können?
Iska handelte instinktiv. Wie ein gejagtes Reh. Hören und Fühlen waren ausgeschaltet, die einzigen Geräusche, die sie vernahm, waren das Klopfen ihres Herzens und ihr Atem, der stoßweise ging. In ihrem Kopf wiederholte sich ständig die Szene, wie ihrem Vater der Kopf abgeschlagen wurde. Träumte sie? Konnte das alles Wirklichkeit sein? Ihr Vater? Einfach so ermordet? Ermordet wegen einer Frage, einem Einwurf, einer Bitte? Wieder und wieder sah sie den Kopf rollen, den Soldaten hämisch grinsen und triumphierend die Arme heben.
Iska war jung, durch die ständige harte Arbeit und viele Bewegung gut trainiert und gut im Laufen. Rasch näherte sie sich dem Waldrand, da erkannte sie aus den Augenwinkeln einen Pferdekopf neben sich auftauchen. Der Präfekt gelangte mit ihr auf gleiche Höhe und schon holte er zum Schlag mit dem Schwert aus. Instinktiv wollte Iska einen Haken schlagen, kam aber ins Straucheln und prallte gegen den Leib des Pferdes. Der Schwertstreich des Römers verfehlte sie nur knapp, dafür scheute das Pferd und tat einige Schritte zur Seite. Iska fing sich wieder und erreichte genau in diesem Moment den rettenden Wald. Hier standen die Bäume so dicht und die Büsche waren so zahlreich, dass an dieser Stelle kein Pferd hindurch kommen würde. Doch sicher vor den Verfolgern war sie noch lange nicht. Iska lief weiter. Sie spürte nicht, wie Äste ihr das Gesicht zerkratzten und sie spürte auch nicht, wie ihre Füße auf dem Waldboden blutig aufrissen. Sie wusste weder wohin sie rannte, noch ob Verfolger weiter hinter ihr waren.
Als sie laute Kommandos und Rufe in der ihr so unbekannten Sprache der Römer hinter sich vernahm, steigerte sie ihren Lauf noch einmal. Lieber vor Erschöpfung tot umfallen, als in die Hände der Römer zu gelangen.