Читать книгу Iska - Die Flucht - Jürgen Ruhr - Страница 12
VII. Der römische Soldat
ОглавлениеAn diesem neuen Tag kamen sie gut voran. Sigmar kannte das Gebiet und führte sie auf fast unsichtbaren Wegen durch Wald und Wiesen. Ihre Kleidung trocknete schnell und an einem kleinen Bach stillten sie ihren Durst. Dann reinigten sie sich so gut wie möglich und Iska fand schließlich sogar einige Beeren, mit denen sie ihren schlimmsten Hunger stillen konnten. Sigmar bedauerte, dass sie so wenig Zeit hatten und kein Feuer entfachen durften, sonst wäre es ihm möglich gewesen, Hasen zu jagen oder Fische zu fangen. So aber mussten die Beeren zunächst genügen.
„Wenn Sunna den größten Teil ihrer Fahrt hinter sich hat, werden wir den Rhenus erreichen. Nach dessen Überquerung sind wir einigermaßen in Sicherheit. Und dann dauert es auch nicht mehr lange und wir werden mein Dorf erreichen.“ Sigmar erzählte Iska immer wieder kleine Geschichten von den Menschen auf der anderen Seite des Flusses, von seinem Dorf, seinen Freunden und den Aufgaben, die man ihnen übertragen hatte.
„Schwierig könnte es sein, den Grenzwall der Römer zu überwinden“, sprach Sigmar schließlich seine Gedanken aus, „denn sie werden dich weiterhin suchen und vermutlich sehr wachsam sein. Auch müssen wir bald etwas Vernünftiges in den Magen bekommen. Brot, etwas gemahlenes Korn oder vielleicht sogar Fleisch. Ich weiß nur nicht, ob wir, oder ich, in das Dorf nahe dem Grenzwall gehen können.“
Iska nickte. Sie war sich der Gefahr bewusst, in der sie ständig schwebten. Überall konnten sie auf Reiter der Römer treffen und die Wege, über die eine Flucht möglich sein würde, wären bestimmt bewacht. Die Römer waren mächtig und um ihnen zu entkommen, bedürfte es schon einer gehörigen Portion Schutz durch die Götter. Sigmar sprach leise und lauschte zwischendurch immer wieder konzentriert. „Erreichen wir erst einmal den Fluss, liegen die größten Strapazen hinter uns. Allerdings werden wir den Rhenus nur während der Dunkelheit überqueren können.“
Plötzlich zog er das Mädchen leise zu Boden. „Römer“, flüsterte der junge Krieger. Iska stellte sich geschickt an. Sie ließ sich direkt flach auf den Bauch fallen und rollte neben Sigmar in Deckung. Das hatten sie jetzt schon einige Male geübt und Sigmar brauchte ihr keinerlei Anweisungen mehr zu geben. Vorsichtig spähte er über einen niedrigen Busch.
Das Gelände bestand hier aus einzelnen Bäumen und Büschen, die weit auseinander standen. Iska erkannte, dass viele der Bäume abgeholzt worden waren. Vermutlich musste das von Sigmar beschriebene Dorf in der Nähe sein. „Es ist nur ein einzelner Mann!“, flüsterte er.
Iska versuchte aus ihrer Deckung heraus etwas zu erkennen. Doch so sehr sie sich anstrengte, wirklich sehen konnte sie nichts. „Was macht ein einzelner Römer hier?“
Sigmar grinste: „Er scheint sich zu erleichtern. Auch die Römer kommen um ihre menschlichen Bedürfnisse nicht herum.“ Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um. Dann sprang er plötzlich auf und ließ die verblüffte Iska allein zurück. Während des Laufens zog er sein Schwert. Fast lautlos stürmte er auf den Soldaten zu, der mit dem Rücken zu ihm dahockte. In der einen Hand hielt der Mann sein römisches Kurzschwert, in der anderen einen Stock, auf den er sich stützte. Sigmar war schon ziemlich nahe, als der Römer doch etwas gehört haben musste. Blitzschnell, Sigmar hätte einem Mann in dieser Stellung und während einer solchen Beschäftigung das nicht zugetraut, sprang der Soldat auf, wirbelte herum und stand Sigmar mit erhobenem Schwert gegenüber.
Es blieb beiden nicht viel Zeit nachzudenken und Sigmar eröffnete den Kampf, indem mit seinem Schwert waagerecht auf den Kopf des Römers einschlug. Der parierte den Schlag und versetzte dem jungen Mann mit seinem Stock einen Hieb auf den linken Oberarm, so dass der schmerzvoll aufschrie. Der Römer sah sich im Vorteil, deutete einen Ausfallschritt an und stieß mit seinem Schwert zu. Sigmar, der ebenfalls zu einem Schwertstich ausholte, konnte den Angriff in letzter Sekunde abwehren und bekam einen weiteren Stockhieb zu spüren. Eine blutige Schramme zog sich quer durch sein Gesicht. Der Römer war kampferprobt, das zeigte sich bei seiner nächsten Aktion, denn, anstatt einen erneuten, geraden Hieb anzuwenden, wirbelte er herum und drehte sich so, dass sein Schwert den Rücken Sigmars treffen musste. Sigmar war nur den Bruchteil einer Sekunde über die Aktion des Römers verwirrt, sah den Schlag aus den Augenwinkeln kommen und ließ sich zu Boden fallen. Das Kurzschwert zischte über ihn hinweg. Der Römer, der sein gesamtes Gewicht in diesen Schlag gelegt hatte, drehte sich weiter und hätte fast seinen Halt verloren. Sigmar rollte am Boden herum, sich durchaus bewusst, in der schlechteren Lage zu sein, und bekam die Beine des Soldaten zu fassen. Mit einem Ruck, in den er seine ganzen Kräfte legte, zog er den Römer von den Beinen. Der schlug der Länge nach mit Bauch und Gesicht auf dem Boden auf. Als der Soldat fiel, stand Sigmar schon wieder auf den Beinen und wollte sich direkt auf den Mann stürzen. Der aber bewegte sich nicht mehr. Verwirrt hielt Sigmar inne. Langsam und vorsichtig näherte er sich dem Römer. Dann stieß er ihn mit einem Fuß an. Nichts, der Mann rührte sich nicht. Immer noch vorsichtig, drehte Sigmar den römischen Soldaten mit einem Fuß um. Der musste nur darauf gewartet haben, denn plötzlich zuckte sein Schwert hoch und hätte Sigmar nicht instinktiv reagiert, wäre die Spitze durch seine Genitalien in den Körper gedrungen. So verfehlte ihn der Streich um Haaresbreite. Sigmar wich zurück, machte einen kurzen Schritt zur Seite und stieß dem Römer sein Schwert in die Kehle. Dann sackte er erschöpft auf die Knie.
„Was hast du dir dabei denn gedacht?“ Sigmar kniete immer noch neben dem toten Soldaten, als Iska ihn an den Haaren herumriss und mitten ins Gesicht schlug. „Bist du von allen Göttern verlassen? Er hätte dich töten können! Er hat dich fast getötet!“ Schluchzend fiel sie Sigmar in die Arme. Der streichelte ihr beschwichtigend über das Haar. „Es war ein Fehler. Ja. Ich habe nicht damit gerechnet, dass der Mann so schnell reagieren würde. Bei allen Göttern, das nächste Mal werde ich besser acht geben - das schwöre ich dir, Iska.“
„Warum musstest du ihn töten? Nenne mir einen vernünftigen Grund dafür!“
Sigmar kramte in den Sachen des Römers. „Das hier!“ Er hielt ein kleines Säckchen mit Münzen und ein weiteres mit Brot und Fleisch hoch.
„Sigmar, du handelst wie ein gemeiner Räuber.“ Iska wandte sich schaudernd ab. „Seid ihr so? Gemeine Räuber und Strauchdiebe? Du hättest den Römer auch von hinten erstochen, stimmt‘s?“
Verschämt schaute Sigmar zu Boden. „Ich habe nicht nachgedacht. Wir sind mit den Römern im Krieg, und ...“ Das klang ziemlich lahm und Sigmar merkte, dass er einen Fehler begangen hatte. Ja, seinen Freunden und Kameraden gegenüber könnte er damit prahlen, einen Römer getötet zu haben, aber Iska sah das offensichtlich etwas anders. Sigmar startete einen weiteren Versuch: „Du hast auch einen Römer umgebracht, die ...“
Sie ließ ihn nicht ausreden: „Ja, nachdem der Soldat meinen unbewaffneten Vater hinterrücks ermordete.“ Bei dem Gedanken an das im Dorf Geschehene fing Iska an zu schluchzen. Dann wischte sie entschlossen die Tränen fort. „Sei‘s drum! Geschehen ist geschehen! Wir werden den Soldaten durch unser Jammern nicht mehr zum Leben erwecken. Lass uns lieber nachschauen, ob er etwas für uns Nützliches bei sich trägt!“ Schon durchsuchte Iska die Taschen des Toten.
Sigmar erhob sich und zeigte auf die Füße des Soldaten. „Nimm seine Schuhe. Diese genagelten Sohlen lassen sich ausgezeichnet tragen. Und auch wenn er viel größere Füße als du hat, besser als ganz ohne Schuhe umherzuwandern ist es allemal. Und nimm sein Schwert, so bist du ebenfalls bewaffnet!“ Beide durchsuchten sie jetzt den Mann und nahmen alles Nützliche an sich. Das Mädchen steckte auch den Dolch des Soldaten ein.
„Ob er ein Pferd mit sich führte?“ Iska sprach mehr zu sich selbst, aber Sigmar hörte die Worte. „Wir können kein Pferd gebrauchen. Auf einem Pferd sind wir von Weitem schon zu sehen. Außerdem könnte uns so ein Pferd durch Geräusche verraten. Und ... kannst du überhaupt reiten?“
Iska schüttelte den Kopf: „Nein, warum auch? Aber lass uns trotzdem nachschauen, vielleicht ist es ja irgendwo angebunden!“
Vorsichtig und leise durchsuchten beide das Gelände. Plötzlich zog Sigmar Iska wieder zu Boden. „Schau mal, dort.“
Iska spähte angestrengt in die gezeigte Richtung. Fast hätte sie vor Schreck aufgeschrien. Ein Trupp von bestimmt zwei Händen voll römischer Soldaten lagerte dort um ein kleines Feuer herum. Sigmar bestätigte ihre Zählung: „Das sind neun Soldaten. Der zehnte liegt dort hinter uns im Gebüsch! Eine Patrouille.“ Sigmar sagte dies nicht ohne Bitterkeit in der Stimme, denn jetzt erkannte er, welch ein großer Fehler sein Angriff auf den Soldaten gewesen war. „Wir müssen zurück und den Römer verschwinden lassen und alle Kampfspuren beseitigen, bevor sie auf die Suche nach ihrem Kameraden gehen! Viel Zeit wird uns nicht bleiben, bis sie den Mann vermissen werden.“
Iska schaute Sigmar ruhig an. „Du hast einen großen Fehler begangen, Sigmar, als du den Römer getötet hast!“
„Ja. Das ist mir bewusst. Ich hätte daran denken sollen, dass ein einzelner Soldat nicht allein durch die Wälder streift ...“ Sigmar klang jetzt ziemlich zerknirscht. Leise machten sie sich wieder auf den Weg zu dem Soldaten zurück.
„Nimm seine Füße, Iska.“ Iska staunte, wie schwer der tote Mann war. Unter Aufbietung aller ihrer Kräfte schleppten sie den leblosen Körper bis zu einem dichten Busch, ein ganzes Stück weit weg vom Kampfplatz. „Lass ihn uns hier verstecken und mit Ästen und Blättern zudecken. Um ein Loch zu graben, haben wir keine Zeit.“
Iska nickte und half Sigmar den Körper unter Laub und Blättern verschwinden zu lassen. Dazu sammelten sie nur das auf, was am Boden lag. Endlich erinnerte nur noch ein unscheinbarer Laubhügel unter einem dichten Busch an den Toten. Nur durch Zufall würde man den Soldaten hier finden. Schwitzend und schwer atmend ruhten sie sich kurz aus. Dann kehrten sie zum Kampfplatz zurück und Sigmar verwischte alle Spuren des Kampfes und ihrer Anwesenheit so gut es ging. Sorgsam darauf bedacht, keine neuen Spuren zu hinterlassen, entfernten sie sich endlich möglichst geräuschlos. In sicherer Entfernung zu dem kleinen Trupp Römer setzten sie ihren Weg fort.