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XII. Die weise Frau

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Iska erwachte, als draußen Hufgetrappel erklang. ‚Römer‘, schoss es ihr durch den Kopf. Nach Luft schnappend sprang sie auf und wollte aus der Hütte laufen. Jahrelange Angst und Reflexe gewannen die Überhand. Eine Hand stoppte sie. „Iska! Was ist los? Keine Angst. Es droht keine Gefahr.“ Wibke hielt sie fest. Dann wanderte ihr Blick an Iska herab. „Wenn du so aus der Hütte trittst, Mädchen, dann kannst du wirklich in Gefahr gelangen. Die Reiter, die du gehörst hast, sind unsere Krieger und wenn du so zwischen sie trittst, kann niemand selbst für den Besterzogenen garantieren!“

Iska blickte jetzt ebenfalls an sich herab. Sie war splitternackt und keck standen ihre kleinen Brüste vor. Iska und Wibke sahen sich an. Dann begannen beide zu lachen. Rasch zog sich Iska hinter ihren Vorhang zurück und warf das einfache Kleid über.

„Wenn bei uns im Dorf Reiter auftauchten, dann waren es die Römer. Die Frauen und Kinder mussten sich dann immer verstecken!“ Iska fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes Haar. „Pferde bedeuteten bei uns immer Gefahr.“

Wibke stellte ihr eine Schüssel mit lauwarmem Brei hin. „Wie gesagt, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das sind einige unserer Krieger, die von der Jagd zurückgekehrt sind. Unser Dorfältester wird heute, nachdem Sunna ihren höchsten Punkt überschritten hat, eine Versammlung abhalten.“ Wibke schaute auf Iska. „Das wird nicht mehr lange dauern, du hast bald die Hälfte des Tages verschlafen. Und auch du sollst bei der Versammlung zugegen sein, da Baldram dich dem Dorf vorstellen wird.“

Iska genoss den Brei und zwischen zwei Löffeln schaute sie Wibke fragend an. „Wie wird es mit mir weitergehen? Wo ist Sigmar?“

„Baldram hat eine Entscheidung getroffen. Aber alles hängt von der weisen Yelva ab und dem was die Götter ihr sagen. Du wirst über die Pläne während der Versammlung mehr erfahren. Bis dahin iss, reinige dich und wenn du bereit bist, führe ich dich zu Yelva. Dort triffst du auch auf Sigmar.“

Wibke reinigte einige Gefäße und stellte sie beiseite. Die Tür der Hütte stand jetzt weit offen und etwas Licht fiel durch die Öffnung. Klare, warme Luft drang in den Raum. Iska schob die Schüssel von sich. Sie war bis auf den Grund leergegessen. Wibke nahm das Gefäß und reinigte es mit frischem Wasser. „Was machst du da, Wibke?“ Iska blickte neugierig auf Wibke und die Dinge, die sie tat. Warum wusch die Frau die Schüssel mit Wasser aus?

„Das hat uns unser Medicus beigebracht. Du musst wissen, wir haben einen echten römischen Medicus in unserem Dorf.“

„Ja, Sigmar hat mir davon erzählt. Ihr habt hier so viel, das ich nicht einmal kenne.“

„Der Medicus hat uns gezeigt, dass die Gefäße regelmäßig gereinigt werden müssen. Das soll Krankheiten verhindern. Eigentlich hat niemand so recht daran geglaubt. Niemand ist den Reden des Medicus gefolgt, bis die Götter der alten Yelva eines Tages ein Zeichen geschickt haben. Die Götter sagten, dass sie es als Dienst an ihnen ansehen würden, wenn wir reinlicher würden. So reinigen wir halt unsere Essgefäße Ja, sogar unsere Körper müssen wir regelmäßig reinigen. Der Medicus sprach davon, dass bei solcherlei Reinigung Flöhe und Läuse und anderes Ungeziefer weniger zur Plage würde. Meiner Meinung nach hat er sogar Recht!“ Wibke machte eine kurze Pause und schaute schmunzelnd durch die Türöffnung. „Auf jeden Fall stinkt Alrik nicht mehr so wie früher.“ Wieder mussten beide Frauen lachen.

„Euer Medicus scheint ein gebildeter Mann zu sein.“

„Oh, ja. Er war lange Zeit bei den Römern und die sollen das benutzte, schmutzige Wasser sogar in Kanälen unter der Erde in die Flüsse leiten. Man kann es kaum glauben und bevor ich so etwas nicht mit eigenen Augen erblickt habe, halte ich es für ein wenig Aufschneiderei des Mannes. Er hatte viele Ideen und Pläne und selbst unserem Baldram wurde es dann zuviel. Seitdem schweigt der Medicus.“

„Ist denn niemals von euch jemand bei den Römern gewesen und hat das alles überprüft und nachgeschaut, ob euer Medicus wirklich die Wahrheit sagt?“

„Nein. Und dafür gibt es auch keine Veranlassung. Die Römer sind unsere Feinde und wir werden die Götter nicht erzürnen, indem wir ihre Lebensweise übernehmen. Wie wird Ziu, unser Kriegsgott, reagieren, wenn wir Römlinge werden?“

Wibke redete sich jetzt in Rage. Trotzig stampfte sie mit einem Fuß auf dem Lehmboden auf.

Trotzdem wagte Iska eine heikle Frage: „Und wie ist es mit eurer Pferdezucht, von der mir Sigmar berichtet hat? Ihr züchtet Pferde für den Ritt und bildet sie für den Kampf aus, genauso, wie es die Römer tun.“

„Nun, ja, wir machen es nicht genauso wie die Römer. Wir machen es anders. Aber lassen wir es dabei bewenden, Iska. Es wird Zeit, dass wir zu Yelva aufbrechen.“ Wibke schaute Iska nicht an, sondern ging, ohne sich noch einmal umzublicken, rasch aus der Hütte. Iska bereitete es Mühe ihr zu folgen und Schritt zu halten.

Bis zu der kleinen Unterkunft der weisen Frau des Dorfes mussten sie nicht weit gehen. Iska schaute sich ein wenig um, während sie hinter Wibke herstapfte. Jetzt erschien ihr das Dorf noch geschäftiger als gestern. Vor dem Pferdestall standen einige junge Männer, alle mit langen Haaren und vollen Bärten, die lachten und feixten. Auf die beiden Frauen achtete niemand. Ein paar Hühner flohen gackernd, als sie ihren Weg kreuzten und einige kleine Kinder, Jungen und Mädchen, spielten an einer Hausecke mit abgerundeten Steinchen. Jüngere und ältere Frauen gingen mit Körben oder Gefäßen geschäftig hin und her und einige schauten neugierig auf Iska oder grüßten Wibke respektvoll. Wibke grüßte freundlich zurück und Iska tat es ihr gleich.

Dann standen sie vor der Hütte, aus der leichter Rauch in den klaren Himmel aufstieg. Wibke erhob die Hand, um an die niedrige Tür zu klopfen, als von drinnen eine Stimme erklang: „Kommt herein.“ Wibke öffnete die knarrende Tür und schob Iska zuerst in die Hütte. Leichter Rauch beherrschte den Raum und erschwerte das Atmen. Es roch nicht nur nach reinem verbranntem Holz, Iska konnte einen fremdartigen Geruch in dem Rauch ausmachen. Ein kleines Feuer in der Mitte des Raumes war das einzige Licht und auch wenn der Rauch nicht gewesen wäre, so hätte Iska kaum etwas erkannt. Am Feuer saß die alte Yelva und ihre Stimme klang rau: „Schließe die Tür! Ich habe euch schon erwartet. Ihr seid zu guter Stunde erschienen, denn es braucht noch einige Zeit, bis Sigmar auch hier sein wird. So habe ich Gelegenheit, ein paar Worte mit dir alleine zu wechseln, Iska.“ Den letzten Satz richtete sie an Wibke und die neigte ihr Haupt und verließ ohne ein Wort zu verlieren die Hütte. Sorgfältig schloss sie die Tür hinter sich. Iska tränten die Augen ein wenig. Der Rauch zog nur allmählich durch die Wände und das Dach ab.

Wieder sprach die Alte: „Nun, kleine Iska, deine Geschichte ist mir bekannt. Setz dich da ans Feuer. Ja, mir gegenüber und schau mich an! Baldram, einer unserer Stammesältesten und Herrscher über den Stamm der Sugambrer, hat mir die Pläne, die er mit dir und seinem Sohn Sigmar hat, mitgeteilt. Die Götter werden eine Entscheidung treffen, die Zeit ist günstig. Auch sind mir Sigmars Gedanken und Pläne bekannt.“ Yelva schob sich etwas näher an das Feuer und saß Iska jetzt genau gegenüber. Nur die Flammen trennten sie. „Schau mir in die Augen und reiche mir deine Hände.“

Iska tat wie ihr geheißen. Die Alte blickte sie aus erstaunlich hellen und klarsichtigen Augen an. Tief drang sie mit ihrem Blick in Iska ein. „Du kommst vom Volke der Ubier. Ihr seid Freunde Roms und lebt unter ihrem Schutz. Aber euer Leben ist von Armut und Angst geprägt. Die Römer beuten euch aus, sie nehmen nur und sie geben nicht. Euer Volk hat sich verkauft. Einige - eure Fürsten und die besten Krieger - führen in den Diensten der Römer ein gutes Leben, aber ihr, die Bauern, siecht dahin.“

Iska wusste nichts zu antworten. Das war keine Frage, die die alte Frau ihr da stellte. Aber so war ihr das Leben in dem Dorf jenseits des Limes nicht erschienen. Sie kannte es nicht anders und vermutlich musste das Leben so sein. Die Götter hatten ihnen ihr Schicksal auferlegt und ihr Dorf durfte in Frieden und Armut unter dem Schutz der Römer leben. Alles änderte sich erst, als der neue Präfekt in ihrem Dorf erschienen war.

Yelvas Frage holte das junge Mädchen wieder in die Wirklichkeit zurück: „Antworte mir ehrlich, Iska: liebst du Sigmar?“

Iska war verwirrt. Sie erwartete von der alten Frau viele Fragen, aber diese nicht. Und nicht so direkt. Liebte sie Sigmar? Er war derjenige, der ihr in der Not Schutz und Hilfe gegeben hatte. Iska dachte an seinen starken Körper und den kräftigen ... Sie verscheuchte die Gedanken an den unbekleideten Sigmar. Aber Liebe? In ihrem bisherigen Leben gab es dieses Wort für sie nicht. Sicher, in ihren Träumen sah sie sich von einem Prinzen an den Königshof geholt. Wie sie es aus den wenigen Geschichten, die ihre Mutter einst erzählte, kannte. War Sigmar der Prinz, Sohn eines der mächtigen Könige in Germanien? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß es nicht. Sigmar ist stark, Sigmar ist ein guter Mann. Aber ich kenne ihn noch nicht allzu lange. Ich weiß keine Antwort auf deine Frage!“

Yelva nickt. „Ich sehe meine Ahnungen bestätigt und danke dir für die ehrliche Antwort. Wir werden jetzt auf Sigmar warten, der in kurzer Zeit an meine Tür klopfen wird.“ Kaum waren die Worte von der weisen Yelva ausgesprochen worden, als es energisch an der Tür pochte.

Auf ihre Aufforderung hin, trat Sigmar in den Raum. Da sich die Tür nun öffnete, konnte Iska für einen Moment ihre Umgebung in hellem Sonnenlicht sehen. Überall an den Wänden der kleinen Hütte hingen Büschel von Kräutern. Unbekannte Zeichen bedeckten die Wände über und über. An einer Seite stand ein kleines Tischchen und darauf entdeckte Iska ihr unbekannte Gefäße, durch die sie überraschenderweise sogar hindurch gucken konnte. Schon schloss Sigmar die Tür wieder hinter sich und das Innere der Hütte versank erneut in der dämmerigen Dunkelheit.

Sigmar benötigte einen Moment, um seine Augen an das fehlende Licht zu gewöhnen. Yelva hieß ihn sich neben Iska zu setzen. Dann sah die alte Frau beide schweigend an. Iska und Sigmar erwiderten ihren Blick und nach einer geraumen Weile begann Yelva zu sprechen: „Der Grund, der euch zu mir geführt hat, der euch meinen Rat suchen lässt, ist mir bekannt. Ich werde die Götter befragen, ob sie eure Pläne gutheißen. Reicht mir eure Hände.“

Yelva streckte ihre Arme links und rechts des Feuers aus, so dass sie von jedem der beiden jungen Menschen eine Hand fassen konnte. „Fasst euch ebenfalls an den Händen!“ Sie bildeten jetzt einen geschlossenen Kreis um das Feuer herum. Iska warf Sigmar aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Der schien es aber nicht zu bemerken und konzentrierte sich nur auf das leise knisternde Feuer. Yelva murmelte nun etwas Unverständliches vor sich hin, wobei sie leise in einem auf- und abschwellenden Singsang sprach. Iska konzentrierte sich jetzt ebenfalls auf die kleinen Flammen in ihrer Mitte. Der Singsang der weisen Frau wirkte einschläfernd und Iska bereitete es etwas Mühe, ihre Augen offen zu halten.

Plötzlich erschien mitten in dem Feuer das Gesicht ihres Bruders. Dann ein Bild, das sie und ihren Bruder auf der Wiese zeigte. Es war ihr als schwebe sie über der Erde und betrachte fremde Menschen. Sie erkannte, wie sie ihrem Bruder das gefundene Medaillon zeigte. Dann wechselte die Szene plötzlich und sie sah sich in ihr Dorf versetzt. Wieder betrachtete sie die Menschen von oben. Aber noch bevor sie den Tod ihres Vaters erneut mit ansehen musste, wechselte das Bild in den Flammen wieder. Deutlich erschien das Gesicht ihres Bruders im flackernden Schein und obwohl kein Wort über seine Lippen kam, drangen die Worte ‚Iska hilf mir, Iska hilf mir‘ immer wieder in ihr Bewusstsein Iska starrte aus großen Augen in das Feuer.

Doch plötzlich verschwand das Bild vor ihren Augen und sie konnte Yelvas Worte vernehmen: „Sigmar und Iska. Ich werde jetzt die Götter befragen.“ Iska stellte fest, dass sie schon längst ihre Hände voneinander gelöst hatten und Yelva hielt nun einen kleinen Weidenkorb, gefüllt mit verschiedensten Knochen, in Händen. Mit Schwung ließ Yelva die Knochen in das Feuer fallen, worauf sich eine Stichflamme bis zur Decke der Hütte erhob. Erschreckt schaute Iska auf die Flamme. Bei solch einem hochschlagenden Feuer würde die Hütte in kürzester Zeit in Brand geraten. Doch nichts geschah. Die Flamme fiel in sich zusammen und das kleine Feuer erlosch komplett. Bis auf ein grünliches Leuchten, der zwischen den schwelenden Holzscheiten liegenden Knochen, war es dunkel. Yelva begann jetzt wieder mit ihrem Singsang. Iska konnte lediglich die Namen der verschiedenen Götter daraus heraushören. Die weise Frau begann, die immer noch schimmernden Knochen einzusammeln und vor sich in einer bestimmten Reihenfolge hinzulegen. Nachdem sie den letzten Knochen fortgelegt hatte, verschwand das merkwürdige Leuchten und ganz allmählich zügelten die Flammen des Feuers wieder auf. Starker Geruch nach verbrannten Kräutern durchzog die Hütte.

Yelva hob zu sprechen an: „Die Götter haben gesprochen. Sigmar und Iska. Die Götter haben ihre Meinung kundgetan. Sigmar und Iska. Respektiert die Meinung der Götter.“ Nach diesen Worten sammelte sie die Knochen wieder in das Körbchen und wandte sich erneut den beiden zu: „Die Götter wünschen euch Glück. Die Götter haben euer Schicksal schon längst entschieden!“ Yelva ergriff beide Hände Iskas: „Die Götter haben ihre Pläne schon in die Tat umgesetzt, Iska. Du trägst ein Kind unter deinem Herzen. Das Kind Sigmars.“

Iska traf es wie ein Schlag. Ihr schwindelte. Sie war doch erst vor einigen Tagen mit Sigmar zusammengetroffen und nun ... Sigmar musste sie stützen, sonst wäre Iska neben ihm auf den Boden gesunken.

Yelva sprach nun weiter und ihre Stimme klang sanft und liebevoll: „Ihr werdet in angemessener Frist heiraten. Die Götter haben es so entschieden! Aber Sigmar, sei auf der Hut. Du wirst es mit Iska nicht leicht haben. Iska trägt das Naturell in sich, das auch Wibke auszeichnet.“ Yelva atmete tief ein. „Geht jetzt! Mehr gibt es hier nicht zu sagen. Geht zu der Versammlung Baldrams und fügt euch den Plänen der Götter. Ich bin erschöpft und brauche jetzt Ruhe. Geht!“

Iska - Die Flucht

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