Читать книгу Iska - Die Flucht - Jürgen Ruhr - Страница 6
I. Das Geheimnis
ОглавлениеSo lagen sie dort eine ganze Weile, schon nachdem sie sich lange beruhigt hatten, und schauten in den blauen Himmel. Hin und wieder verdunkelte eine weiße Wolke ein wenig die Sonne und wenn Iska jetzt nicht plötzlich aufgesprungen wäre, hätte der Schlaf zumindest Wiborg übermannt. „Was ist jetzt los? Warum springst du auf?“, murmelte er träge und ein wenig mürrisch. Seine Gedanken wanderten eben noch durch ihr kleines Dorf und verweilten bei einem Mädchen namens Elfrun. Und dieser Name passte auch wirklich zu ihr. Immer wenn Wiborg an sie dachte, wurde ihm ganz warm ums Herz. Und jetzt störte seine kleine Schwester schon wieder seine Träume ...
„Hast du vergessen, was du mir versprochen hast?“
Wiborg wurde ernst. Was seine Schwester da plante, und was er im hitzigen Eifer eines Spieles so voreilig versprochen hatte, war kein Spaß mehr. „Iska, was du da tun willst, ist dumm. Du wirst deiner Heirat mit Guntram nicht entgehen. Im Gegenteil. Vater wird sehr böse werden und du beziehst wieder einmal Prügel!“
Darin war Iska ganz groß: Es schien ihre Bestimmung zu sein, gegen Regeln und Gebote ihres Vaters zu verstoßen. Regelmäßig war er dadurch gezwungen, sie zu verprügeln. Allerdings blieb die Frage offen, wer dabei mehr Schmerz verspürte, sie oder ihr Vater. Iska verzog trotzig den Mund. „Ich will Guntram nicht heiraten. Ich liebe ihn nicht.“
„Liebe, Liebe. Man heiratet nicht aus Liebe. Wo hast du denn solch einen Unsinn her? - Liebe!“ Wiborg schüttelte den Kopf. Dabei dachte er erneut an Elfrun. Empfand er da etwa so etwas wie Liebe? Noch war das Mädchen niemandem versprochen.
Iska sah ihren Bruder ernst an: „Du hörst dich genauso an wie Vater. Aber ich will Guntram einfach nicht. Er ist widerlich und grob - und dumm“, fügte sie nach kurzer Überlegung hinzu.
Wiborg erkannte, dass es mit der Ruhe nun endgültig vorbei war. Unwillig stand er auf, trat zu Iska und sah ihr direkt ins Gesicht. „Iska, wo hast du so wirres Zeug her? Guntram ist nicht dumm.“
„Guntram ist dumm!“ Iska verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ist er nicht“, konterte ihr Bruder.
Iska schüttelte den Kopf. „Das sagst du nur, weil ihr Freunde seid!“
Wiborg ballte die Hände zu Fäusten. Seine Schwester unterschied sich so sehr von den anderen Frauen und Mädchen im Dorf ... Immer wollte sie alles ganz genau wissen. Immer musste sie so viele Fragen stellen. Fragen, auf die kaum jemand eine Antwort fand. Wiborg öffnete die rechte Faust und hob fragend die Hand. „Warum soll Guntram dumm sein? Iska, bist du schlau? Und woran willst du dumm und schlau erkennen?“
Iska schaute erst zu Boden, dann auf den kleinen Gegenstand in ihrer Hand. „Nun, ich, ich ...“
„Aha, du? Ja, du bist also schlau?“
„Nun, Thoralf hat gesagt ...“
Wiborg schaute seine Schwester unverwandt an: „Thoralf hat gesagt! Thoralf ist ein alter Mann, der selbst noch einmal gerne eine junge Frau nehmen würde. Willst du etwa Thoralf heiraten?“
Iska schüttelte ernst den Kopf. „Nein, Thoralf meinte nur, ich sei nicht dumm und ich könnte Lesen und Schreiben und die Sprache der Römer lernen und ich könn...“
Wiborg fiel ihr in den Redefluss: „Iska, das sind doch Hirngespinste. Wir sind einfache Bauern und was dir Thoralf da an Flausen in den Kopf setzt, das ist dumm. Wozu soll das denn alles gut sein? Kannst du besser das Feld bestellen oder Schafe hüten, wenn du die Sprache der Römer sprichst? Oder kannst du besser Kinder bekommen und aufziehen oder das Essen für deinen Mann zubereiten oder ...“
Jetzt war es Iska, die ihrem Bruder ins Wort fiel. „Ich könnte in eine der Römersiedlungen gehen. Thoralf sagt, die Siedlungen sind so groß, dass sehr viele Menschen darin Platz finden. Und man kann dort arbeiten und bekommt dann immer genügend zu essen und eine eigene Hütte, die man nicht mit der Familie und dem Vieh teilen muss! Und die Römer nennen die Hütte Haus un...“
„Noch niemals ist jemand von uns in eine Römersiedlung gegangen!“ Wiborg wurde plötzlich sehr verschlossen und abweisend, ja beinahe wütend. „Die Römer sind schlechte Menschen, die von dem Wenigen was wir haben, immer einen großen Teil verlangen, so dass für uns kaum etwas zum Leben bleibt. Danach solltest du den Dorfältesten einmal fragen. Oder frage Vater!“
Iska, die mittlerweile vor ihrem Bruder stand, stampfte trotzig mit dem rechten Fuß auf: „Thoralf sagt, die Römer geben uns Schutz. Dafür müssen wir sie entlohnen.“ Sie schaute herunter auf ihre nackten Füße, die sich braun von der Sonne auf dem grünen Gras abmalten. „Thoralf meint, wenn wir mit den Römern mehr Handel treiben würden und weniger feindlich zu ihnen wären, dann ...“
Wiborg nahm die Hand seiner Schwester und drückte sie fest. In dieser Beziehung gingen ihre Meinungen stark auseinander. Wollte oder konnte seine Schwester nicht verstehen, was durch die Römer mit ihnen geschah? Gut, sie kannten kein anderes Leben - aber jenseits des großen Flusses wohnten noch freie Menschen. Freie Germanen, die ihre eigenen Regeln und Gesetze besaßen. Denen kein Römer das Handeln vorschrieb und denen kein Römer die Nahrung nahm.
„Iska, schau mich an. Die Römer haben unser Land überfallen und wir müssen für sie arbeiten. Diese Soldaten verlangen einen großen Teil unserer Ernten. So bleibt kaum etwas für uns und im Winter haben wir nie genug zu essen. Du redest von Sicherheit, von Schutz - pah, in früheren Zeiten haben wir uns selbst verteidigt. Wir waren Kämpfer und unsere Brüder jenseits des großen Flusses, den die Römer Rhenus nennen, sind es immer noch. Dort herrscht Freiheit und kein Römer wagt es seinen Fuß dorthin zu setzen - und wenn doch, so werden sie glorreich zurückgeschlagen.“
Auf Iskas Gesicht spiegelte sich Entsetzen. Schaudernd entzog sie ihrem Bruder die Hand. „Wiborg - du sprichst wie ein Krieger. Wir sind zivilisierte Menschen, wir leben unter römischem Schutz. Auch wenn wir einen Teil unserer Ernte - wie du sagst - abgeben, so ist es doch besser, als immer kämpfen zu müssen. Und zu sterben“, fügte sie noch hinzu und schüttelte sich bei dem Gedanken an den Tod.
Wiborg beruhigte sich allmählich wieder etwas. Er musste einfach akzeptieren, dass seine Schwester in dieser Beziehung völlig andere Vorstellungen hegte als er. Trotzdem durfte er nicht aufgeben, sie von der Wahrheit zu überzeugen. Zu klein war Iskas Welt, als dass sie die Zusammenhänge erkennen könnte. Im Stillen musste Wiborg zugeben, dass seine eigene Welt ja auch nicht viel größer war. Zärtlich legte er eine Hand auf die Schulter seiner Schwester. „Iska, der Dorfälteste Thoralf ist ein alter Mann. Sicher mag er sich mit den Römern arrangieren und mit ihnen auskommen - und unser Dorf respektiert seine Entscheidung und die des Dorfrates - aber es gibt auch andere Stimmen!“
„Andere Stimmen? Wer, Wiborg, wer spricht so?“
Wiborg schaute verlegen zu Seite. „Das kann ich dir nicht sagen. Es ist ja auch nicht so wichtig. Schau, dort am Waldrand - ein Reh.“ Und wirklich schien sein Ablenkungsmanöver Wirkung zu zeigen, denn Iska betrachtete fasziniert das Tier, das friedlich und ohne sich durch die Menschen stören zu lassen, am Waldrand graste. Beide betrachteten es eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.
Doch Wiborg freute sich zu früh und rechnete nicht mit der Hartnäckigkeit seiner Schwester. Die wandte sich abrupt wieder zu ihm um: „Gibt es jemanden in unserem Dorf, der solche Zwietracht sät?“
„Nein, Iska, lass es gut sein. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen.“ Das sollte beschwichtigend klingen, erreichte bei seiner Schwester aber nur das Gegenteil. Jetzt war sie erst recht hellhörig geworden. Wiborg stellte sich auf einen längeren Disput ein.
„Gefahr? Wiborg du bringst uns alle in Gefahr! Sprich endlich, wer dir solche Dinge erzählt!“ Auffordernd sah sie ihren Bruder an und der ahnte, dass er zumindest um ein Teilgeständnis nicht herumkommen würde. Vor allem dann, wenn er verhindern wollte, dass ihr Vater oder der Dorfälteste von diesem Gespräch erfahren sollten. Im Stillen verfluchte der Junge sich für seine Geschwätzigkeit. Wieso hatte er nicht einfach seine Worte im Griff halten können? Dann atmete er tief durch: „Also, Iska, du musst mir versprechen, dass das, was ich dir sage, unser Geheimnis bleibt. Es besteht keine Gefahr, bestimmt nicht. Versprichst du mir, mit niemandem darüber ein Wort zu wechseln?“
Iska sah ihren Bruder ernst an, überlegte kurz und nickte dann. „Gut, ich verspreche es. Ich werde keinem Menschen ein Wort darüber erzählen.“
Doch das genügte Wiborg noch nicht: „Du musst es schwören - bei Donar!“
Iska warf jetzt zweifelnd einen Blick auf ihren Bruder: „Bei Donar? Muss das sein? Du übertreibst, Wiborg.“
„Wenn du nicht schwörst, erzähle ich dir garnichts! Dann bleibt es für ewig mein Geheimnis. Was auch besser so wäre“, fügte er leise hinzu.
Iska gab sich geschlagen. In dieser Beziehung konnte Wiborg eisern bleiben: Wenn sie nicht den gewünschten Schwur sprach, bekäme sie nicht ein einziges Wort seines Geheimnisses zu hören. Und was änderte denn schon so ein blöder Schwur? Sie wollte die Geschichte ja ohnehin niemandem erzählen. „Also gut, ich schwöre.“
„Du musst richtig schwören. Sage: Ich schwöre bei Donar, niemandem ein Wort von unserem Geheimnis zu berichten; ich schwöre bei Donar und wenn ich meinen Schwur breche, so soll mich Hödur in die dunkle Welt der Verdammnis tragen. Also, Iska, sprich diese Worte!“ Wiborg hob die rechte Hand und Iska tat es ihm nach. Feierlich sprach sie dann den geforderten Schwur und sah ihren Bruder dabei unverwandt an. Jetzt ergriff auch sie der Ernst der Situation.
Wiborg schien endlich zufrieden. Zustimmend nickte er. Jetzt war er bereit, sein Geheimnis preis zu geben. Bevor er sprach, sah Wiborg sich noch einmal um. Nein, sie waren allein auf der Lichtung. Was er jetzt zu sagen hatte, war ja auch nicht für fremde Ohren bestimmt. Eigentlich nicht einmal für Iskas Ohren. Einzig das Reh am Waldrand schaute ihnen kauend zu. „So, Iska, dieser Schwur wird uns beide nun ein Leben lang binden. Brich ihn nie, unter keinen Umständen, denn Hödur wird nicht nur dich, sondern auch mich strafen.“ Iska nickte mit ernster Miene, während sie den Arm sinken ließ.
„Dann sollst du nun mein Geheimnis erfahren!“ Wiborg sprach jetzt mit leiser Stimme und wieder einmal fiel Iska auf, dass ihr Bruder zum Mann wurde, dass er herangereift und kein Kind mehr war. So wie sie allmählich zur Frau wurde.
„Von Zeit zu Zeit streifen Männer von der anderen Seite des Flusses Rhenus durch unsere Wälder. Sie erkunden regelmäßig, wie wir leben und beobachten die Römer. Einmal bin ich durch Zufall auf einen von ihnen gestoßen und es war die Fügung der Götter, dass er mich nicht sofort umbrachte. Aber er war verletzt als ich ihn fand und ich konnte ihm helfen. Aus Dankbarkeit erzählte er mir von sich und unseren Brüdern und den Römern. Wir haben uns regelrecht angefreundet und alle paar Monde treffen wir uns erneut. Sein Name ist Sigmar. Das ist alles.“
Wiborg beendete hier seine Erzählung. Natürlich war das nicht alles, Iska brauchte ja nicht die volle Wahrheit zu erfahren. Deshalb schaute er seiner Schwester nun auch nicht ins Gesicht, sondern zu Boden.
Aber Iska kannte ihren Bruder und obwohl sie erst sechzehn Jahre alt war, entwickelte sie doch schon ein feines Gespür für Menschen. „Wiborg - schau mich an. Das war doch noch nicht alles?“
Wiborg schaute auf. „Doch, doch wirklich, mehr gibt es nicht zu berichten.“
„Wiborg - ich sehe mich nicht an unseren Schwur gebunden, wenn du mich belügst.“
Ihr Bruder wurde rot. „Nun, ja, hmm. Es gibt noch ein Geheimnis, aber ...“
Durch die ganze Heimlichtuerei wurde seine Schwester allerdings nur noch neugieriger. Jetzt bedrängte sie ihn: „Aber? Nun erzähle schon.“
„Sie werden mich töten, wenn ich darüber spreche! Ich habe versprochen, es niemandem zu erzählen.“
Iska nahm Wiborgs Hand und sah ihn fest an: „Aber sie werden niemals erfahren, dass du mit mir darüber gesprochen hast, Wiborg. Denk an unseren Schwur. Ich erzähle unser Geheimnis bestimmt keiner Menschenseele. Das habe ich doch bei Donar geschworen. Und dazu gehört auch, dass du mir die volle Wahrheit sagst!“
Wiborg gab sich geschlagen. Jetzt war er an einem Punkt angelangt, da er nicht mehr zurückkonnte. Wieder einmal schalt er sich dafür, überhaupt etwas angedeutet zu haben. Dann begann der Junge zu erzählen; zunächst stockend, nach und nach aber immer flüssiger: „Ja, also: Im Wald nahe unserem Dorf am kleinen Bach gibt es eine Lichtung auf der drei Bäume stehen, die sich zueinander neigen. Du kennst diese Stelle.“ Iska nickte bejahend. „Zwischen zwei Bäumen, genau in der Mitte, befindet sich eine Grube, die mit Baumstämmen, Erde, Laub und Sträuchern verschlossen ist.“
Iska schaute ihren Bruder fragend an: „Ja - und?“
Wiborg druckste ein wenig herum, sah aber ein, dass er jetzt alles erzählen musste. „In dieser Grube befinden sich Waffen und Schilde. Waffen der Römer und Waffen unserer germanischen Brüder. Und nicht nur Messer, wie wir sie tragen. Nein, Schwerter und Dolche, Schilde und Helme, aber natürlich auch Messer und Pfeile für Bögen. Teilweise Beutestücke von den Römern und teilweise Waffen, die über den Rhenus gebracht wurden. So und das ist nun wirklich alles!“
Iska sah ihren Bruder ernst an: „Du hast doch mit diesen Waffen nichts zu tun - oder?“
„Nein, bestimmt nicht. Ich weiß das nur von Erzählungen!“
Iska überlegte. Ihr Bruder sagte ihr die Wahrheit, soviel war gewiss. Bestimmt aber auch nicht die ganze Wahrheit. Dafür kannte sie Wiborg zu gut. Aber sie sah ein, dass es auch keinen Sinn machte, jetzt noch weiter in ihn zu dringen. Sie schaute zum Himmel. Sunna mit ihrem Sonnenwagen war mittlerweile ein ganzes Stück weitergewandert und bald würde es Zeit sein, heimzukehren. Wollte sie ihr eigentliches Vorhaben noch ausführen, so wurde es dafür langsam Zeit. Wieder überlegte sie, wie Wiborg am einfachsten zu überzeugen sei. Auf keinen Fall wollte sie Guntram heiraten, egal was sie dafür auch alles noch anstellen musste.