Читать книгу Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit - Jürgen Ruszkowski - Страница 12
Wicherns Theologiestudium
ОглавлениеDank seines Fleißes und dank großzügiger Mentoren aus „erweckten“ gut gestellten Hamburger Familien, an vorderster Stelle Senator Martin Hieronymus Hudtwalcker und Professor Hartmann, die vom jungen Wichern viel für eine Neubelebung der Hamburger Kirche erwarten – und einer jährliche Rente durch Amalie Sieveking,
kann er sich die Voraussetzungen und ein Stipendium für das Theologiestudium zunächst für drei Semester in Göttingen und später in Berlin sichern, wo er mit allen Strömungen der damaligen Theologie in Berührung kommt.
Er schreibt in sein Tagebuch: Wenn man das Studium beginnt, stehen Gemüt und Verstand noch neben- und oft gegeneinander, und beide fordern ihr Recht. Je mehr sie zur Kraft kommen, umso gewaltiger wird das Ringen von beiden, und erst wenn sie versöhnt sind und zwischen ihnen kein Misston ist, steht der Theologe mit freiem Atem da.
Schon oft habe ich während meiner Studien die Erfahrung gemacht, dass nur das mutig erfasste Leben des Geistes vor vernichtenden Zweifeln zu schützen imstande ist, und wie der auf Erlebung begründete und durch Gebet befestigte Glaube mächtiger ist, als dass eine Waffe der Wissenschaft ihn niederreißen könnte.
In Göttingen beeinflusst ihn besonders Professor Lücke, für den ihm bereits in Hamburg von Neander ein Empfehlungsschreiben mitgegeben worden war.
Nach dem Tode des Lehrers Professor Lücke Schreibt er: Ich habe ihm als meinem Lehrer viel zu danken, namentlich zweierlei: das gewissenhafte Forschen in der Schrift, das Wirken und Halten aufs Wort, nicht im Allgemeinen, sondern besonders wie es geschrieben steht, und dann die innere Freiheit im Urteil über verschiedene voneinander abweichende theologische, dem Glauben ergebene Richtungen.
Das Alte Testament war mir lange ein verschlossenes Buch; es fehlte mir die Freiheit des Geistes, es unbefangen zu lesen. Befangen und engbrüstig hatte mich das Lesen mancher Bücher gemacht, die gewiss nicht allein historischen Wert haben, jedoch einem, der mit Unterwerfung und dem tiefen Bewusstsein seines Nichtwissens in religiösen Dingen und ohne eine klare Erkenntnis in Sachen des Christentums herantritt, die erste Stufe in einem Keller der Angst werden können, deren Wesen nicht das Christentum ausmacht. Man gewinnt aus diesen Büchern Ansichten, durch welche man die Schrift passieren lässt, denen man die Schrift unterwirft, statt es umgekehrt zu machen. Man scheide Historisches, Dogmatisches und Prophetisches – und lerne, dass das Alte Testament ein Buch des Ahnens und der Sehnsucht ist, in welchem durch Nacht die Sonne hindurchzubrechen strebt.
Die Bibel als Quelle. – Christliche Liebe im Dienst an der Welt.
Wichern schreibt: Aber gerade dieses Bewusstsein, dass es Aufgabe des Lebens ist, die Gebote der Schrift mit dem ganzen inneren Leben vermittels aller sich darbietenden Hilfe in Einklang zu bringen, tritt mir auf diesem neuen Lebensabschnitt in Hinsicht der Art, wie die Aufgabe zu lösen, mit neuer Kraft vor die Seele. Das wissenschaftliche Leben soll in steter Wechselwirkung mit dem sittlichen stehen, und für den Suchenden erweitern sich die Anforderungen beider täglich.
Auch hier habe ich schon oft den Widerspruch gegen den Satz, dass das Leben in einer höheren Ordnung der Dinge nicht durch Berechnung des Verstandes als vielmehr durch inneres Erfahren und Wahrnehmen des gläubigen Herzens erkannt werde, erfahren. Dergleichen. kann aber den inneren Gehalt des Glaubens nur immer noch mehr bewähren und führt nur noch tiefer in die Seele die Überzeugung hinein, dass ein Verstehen des Christentums nicht möglich ist, ohne das Leben in demselben, und dass dieses jenem vorangeht, so dass beide, Leben und Erkennen, in Wechselwirkung treten, sich gegenseitig bedingen und begründen und immer tiefer die Wurzel des neuen Lebens schlagen, welches geheim und verborgen im Ursprung zu einem schattigen Baum wird, unter dem der Christ willig alles zum Opfer bringt, was dem Heiligen widerstrebt.'
Aus einem Brief an die Mutter: Denn wer auf Erden Gott vertraut, der ist so weit nicht vom Himmel, als manche wohl denken; dann ist die Erde kein Jammertal, „das Reich Gottes ist mitten in Euch“ spricht der Herr der Geister und das Irdische ist himmlisch geworden, wenn unser Wandel schon hier ein Wandel im Himmel ist. Freude, Freude und immer wieder Freude ist für den in dieser Welt, der die Freude annimmt mit Glauben, die die Liebeshand des Vaters uns darbietet, und wo Freude ist, da ist auch Friede, und dieser Friede ist aus Gott, und wer von Gott geboren ist, hat alle diese himmlischen Güter in der Liebe. Denn die Liebe ist das Band, das alle umfasst und inwendig im Gemüte an Gott bindet und an die Brüder.
Denn wo der Glaube ist, da wird aus ihm die Liebe geboren, wie der Strahl aus der Sonne, wie die Wärme aus dem Feuer.
Denn Wer in der Tat sich anderen entzieht, hat noch immer nicht erkannt, was die große, heilige Bedeutung des. Christenglaubens sei.
Gegen die damalige idealistische Ethik: Andererseits sucht man das Wesen der Religion in dem, was durch sie erst geheiligt werden soll, der Sittlichkeit, verkennend, dass die Tat doch ein zur Tat Treibendes erfordert. Hier fehlt das Element der Religion, ohne welches schöne und beglückende Taten nicht geübt werden können.
Leben ist diese stille, heimliche Liebe zu Gott, Gott sieht sie, wie sie Gott sieht, Er gibt sie, wie wir sie erbitten, erflehen. Er treibt uns, dass wir um sie bitten, um ihretwillen uns zu Ihm wenden, wo kein Endlicher. es sieht. Liebe ist ein verborgenes Gebet und durch Gebet empfangenes, inwendiges Gut.
Wir sind zu Herren der Natur und aller Geschöpfe verordnet, darum ist es Aufgabe und Pflicht, sich dienstbar zu machen alles, was zu unserem Dienst verordnet ist; nur dass wir uns nicht dienen lassen, ohne selber Diener zu sein, nicht Gehorsam fordern ohne selbst Gehorsam zu leisten; denn wer nicht Diener Gottes ist und Sein Schüler sein Leben lang, wird nicht leben im Leben, sondern sterben, da er lebt.
In einem Brief aus Göttingen berichtet der Student, wie ihn der Anblick der in Ketten arbeitenden Gefangenen erschüttert habe. Kaum ist er in Berlin, da meldet er sich zur Mitarbeit bei dem menschenfreundlichen Arzt Dr. Julius, der für christliche Gefängnisreform eintritt. Der junge Studiosus spricht schon in dieser Zeit von dem Ziel, „den Gefangenen hinter Kerkermauern das rettende und tröstende Evangelium zu bringen“.
Auf dem Weg von Göttingen nach Berlin besucht er in den letzten Märztagen des Jahres 1830 das Hallesche Waisenhaus.
Dieser Besuch beeindruckt ihn ungemein. „Ihr wisst“, schreibt er an Mutter und Geschwister, „August Hermann Francke begann dies Werk mit wenigen Guldenstücken; der Lohn und Segen aber seines Glaubens ruht in jenen 500 Kindern, die daselbst jahrein, jahraus durch Unterricht, Kleider, Speise und Wohnung noch immer der Liebe des Vaters Francke inne werden.“
Und dann kommt der ersehnte Augenblick, da er Berlin, die Hauptstadt Preußens kennenlernt. Das Erlebnis dieser Stadt will ihn zunächst überwältigen. „Die Größe und Pracht Berlins macht einen fast stutzig; Palast und Palast, lange breite Straßen, glänzendes Militär, die prachtvollsten Equipagen, große Gebäude, in denen Kunst und Wissenschaft gepflegt und gefördert werden; zu alledem das Bewusstsein, an einem Orte zu wohnen, an welchem die größten Männer unserer Zeit leben und wirken.“ Aber es vergeht keine Woche, da gesteht er, dass er sich von der Größe und Pracht der königlichen Hauptstadt habe überraschen und überrumpeln lassen. „Der Bewunderungstaumel hat schon aufgehört… hinter glänzendem Schein versteckt sich hier bittere Armut und tiefe Sittenverderbnis…“ Das hindert ihn nicht, im Laufe der drei Semester, die er in Berlin studiert, diese Stadt lieb zu gewinnen. Aber das weniger um ihrer architektonischen Schönheit willen, die er kennen und verehren lernt. Wenn er im Spätsommer 1831 nach Hamburg zurückkehrt, wird er über dieselbe Stadt schreiben: „Berlin ist mir durch ihre Freundschaft und große Liebe solcher Männer unauslöschlich in die Seele gezeichnet, und Ihr werdet noch oft genug hören, dass ich es rühme und preise als die beste Stadt – nach unserm Hamburg.
Den berühmten Johann August Wilhelm Neander, einen getauften Juden, den bedeutendsten Kirchenhistoriker seiner Zeit, hatte er schon in Hamburg im Hause des Senators und Großkaufmanns Hudtwalcker kennengelernt. Neander hatte wie Wichern das Johanneum in Hamburg besucht. Neander empfing ihn nun hier in Berlin mit offenen Armen. Zwischen dem berühmten Professor und dem unbekannten jungen Studenten bahnt sich bald eine herzliche Freundschaft an. Wichern schreibt an seine Mutter: „So gewaltig und groß Neander sonst dasteht, so kindlich milde und voll herzlicher Liebe ist er im vertrauten Gespräch; es ist, wie wenn man mit der Mutter oder einem lieben leiblichen Bruder spräche.“ In den kirchengeschichtlichen Vorlesungen Neanders wird das große Bilderbuch der Christenheit vor ihm aufgeschlagen als eine Beispielsammlung christlichen Lebens. Neander sucht in der Geschichte des Christentums die Äußerungen und Ausdrucksformen des gläubigen Lebens auf, die Praktizierung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen.
Wichern erfährt die Spannung zwischen der historisch-kritischen Arbeit an der Bibel, die mit der Aufklärung ihren Siegeszug durch das Abendland angetreten hatte, und der pietistischen Erweckungsfrömmigkeit, in der er aufgewachsen war, ohne in seinem Glaubens- und Gebetsleben dadurch angefochten zu werden. Neben Neander wirkt in Berlin Friedrich Schleiermacher, der große Theologe, dessen ‚Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern’ ein erster tief gegründeter Versuch waren, den draußen Stehenden die christliche Wahrheit überzeugend nahezubringen.
Diese Lehrer weiten Wicherns Blick zu einer Gesamtschau des Christentums. Sie lehren ihn die „Theologie der Romantik“, die den einzelnen mit seiner individuellen Veranlagung lebendig einfügt in die tragenden Gemeinschaften von Familie, Volk und Kirche. Doch nicht minder berühmt war Schleiermacher um seiner großen und edlen Predigtkunst willen. Zur Zeit der französischen Fremdherrschaft war er, der Schwager Ernst Moritz Arndts, von der Kanzel der Dreifaltigkeitskirche herab ein treuer und unerschrockener Mahner und Tröster seines Volkes gewesen. Es entspricht dem Ruf und der Bedeutung dieses Mannes, wenn Wichern am zweiten Sonntag seines Berliner Aufenthaltes den Gottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche besucht, in der Schleiermacher predigt.
An dem unmittelbaren Eindruck dieses Erlebnisses lässt er seine Mutter teilnehmen, indem er ihr sehr ausführlich schreibt: „Doch Ihr müsstet die Predigt gehört haben und mehreres von dem großen Manne hören, und Ihr würdet, wenn Ihr alles an ihm zusammennehmt, ihn mehr lieben als bewundern. Denn nur mit Ehrfurcht kann man sich vor solchen Männern fühlen, die Gott und der Herr der Kirche sich zu auserlesenen Rüstzeugen ersehen hat.“
Unter Kanzel und Katheder von Schleiermache lernt er Glauben und Handeln des Christen durchdenken. Schleiermachers Betonung des Familiengedankens und Neanders Betonung des allgemeinen Priestertums im Sinne der lutherischen Reformation gewinnen auf Wichern bleibenden Einfluss, doch sind seine Lehrer nur Anreger. Wichern hat alles eigenständig umgeprägt. Sehr genau studiert er Luther und den deutschen Mystiker, Philosophen und Theosophen Jakob Böhme.
Es ist immer wieder erstaunlich, einen wie schnellen Kontakt dieser junge Student mit den bedeutendsten Menschen seiner Zeit gefunden hat, sofern sie ihm innerlich gleich gestimmt waren – ja es ist geradezu ein auffallendes Wesensmerkmal dieses Mannes. Dies gütige Geschenk der Gnade soll in den Folgejahren viel beitragen zu den in die Breite und in die Tiefe gehenden Wirkungen des späteren Heroldes der Inneren Mission. Denn es sind in Berlin keineswegs nur berühmte akademische Lehrer, die ihn innerlich fördern; nicht minder schnell findet er den Zugang in die Häuser und Herzen so bedeutender Männer wie etwa des Geheimrates Semler oder des Barons Hans Ernst von Kottwitz. Der fromme Baron von Kottwitz, der geistige Mittelpunkt der christlich erweckten Kreise. In dessen „Freiwilliger Armenbeschäftigungsanstalt“ findet Wichern verwirklicht, was er als Ruf aus Gottes Wort zu vernehmen weiß: Hilfe und Rettung für alle Blenden und Armen. Ganz gewiss liegen in der Erweckungsbewegung jener Zeit Wurzeln und Quellen Wichernscher Glaubens- und Lebensentfaltung; freilich, nicht in eng-pietistischer Neigung, sich selbstzufrieden der Seligkeit zu freuen und der bösen Welt den Rücken zu kehren; „erweckt sein“ heißt für Wichern „gerufen sein“ zum Dienst an der Welt und die Kräfte des Evangeliums durch Wort und Werk in der Welt zu bezeugen.
Der junge Student, der aus einer Hamburger Kellerwohnung kommt, soll sich einst im Auftrag Gottes ohne Scheu und Gehemmtheit auf dem Parkett der Königsschlösser und der Ministerien bewegen können. Das will gelernt sein. Und so bedeutet es ihm nicht nur Freude, sondern auch Hilfe, dass er im Hause des Geheimen Oberfinanzrates Semler aus- und eingehen darf. Semler ist weltgewandt und in hohen Stellungen in Rom, Paris und Petersburg gewesen. Jetzt ist er am staatlichen Armenwesen sowie am Gefängniswesen lebendig und persönlich interessiert. Einen tiefen Eindruck macht auf Wichern auch die weitschauende Klugheit und Herzenswärme des Mannes und die schlichte Zurückhaltung der jungen Hausfrau, mit der sie still ohne Absicht die Gespräche wie den Geist des Hauses prägt. Hier lebt die gute Atmosphäre des besten Bürgertums aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, die erfüllt ist von einer vielgestaltigen Bildung und bereichert durch weitverzweigte Beziehungen. Aber der Grundton dieses vornehmen Hauses ist auf denselben Ton gestimmt, der in Wicherns schlichtem Elternhaus die Dominante darstellte: „O selig Haus, wo man dich aufgenommen, du wahrer Seelenfreund, Herr Jesus Christ!“
Von all den führenden Männern Berlins, die den jungen Wichern damals beeinflussten, hat wohl keiner auf ihn einen so tiefen Eindruck ausgeübt wie Baron von Kottwitz. Als junge, empfindsame und leicht aufgeschlossene Seele, die sich willig und freudig prägen lässt, als einer der vielen jungen Männer der christlichen Erweckungsbewegung kommt Wichern mit dem ehrwürdigen alten Baron in Berührung. Aber er bleibt nicht einer der Vielen. Es wird nur weniger Jahre bedürfen, dann wird das Saatkorn, das in dieser Berührung gelegt wurde, aufgehen und hundertfältige Frucht bringen.
Der in Schlesien beheimatete Baron Hans Ernst von Kottwitz, damals schon 73 Jahre alt, lebte seit 1807 in Berlin. Besonders in der theologischen Jugend war sein Einfluss groß. In einer Zeit, in der es noch keine Sozialversicherung des Staates und noch keine Erwerbslosenunterstützung gab, gründete er in Berlin seine „Freiwillige Beschäftigungsanstalt“. Hunderte von erwerbs- und brotlosen Arbeitern sammelte er in einer Kaserne, gab ihnen Unterkunft, Beschäftigung und Brot und lebte mit ihnen zusammen. Wie August Hermann Francke, hatte auch er nicht nur ein gläubiges Herz, sondern auch einen klaren Blick für die Nöte der Zeit und für ihre Bekämpfung. Es ist nicht verwunderlich, dass Wichern sich diesem Mann sofort anschloss. Als er ihm zum ersten Mal begegnete, der 23jährige dem 73jährigem, schreibt er in sein Tagebuch: „Mein Geburtstag ist heute recht geistiger Art und geistlich gefördert. Am Morgen besuchte ich den lieben Geheimen Finanzrat Semler, dessen Freundlichkeit mir wie immer so wohl tut; am Nachmittag wurde mir aber Großes zuteil durch den Besuch bei dem Vater Kotwitz. Er ist wie ein johanneischer Evangelist in seinem reichen, mit himmlischer Gnade und Freundlichkeit geschmückten Alter. O, du unvergleichlicher Mann, so demütig, dass du mich beschämst mit jedem Wort, so reich im Himmel, so voll Freude, deren heilige Schauer man dich durchbeben sieht. Mein Heiland, ach, lass mich auch so werden, so ergeben und Dir geweiht.“ Diese Tagebuchaufzeichnungen schließen mit den Worten: „Eins habe ich in dieser Zeit gelernt, dass das Leben schwer ist, ehe es leicht wird. Hilf mit, o Heiland!“
Goethe sagt in Wilhelm Meisters Wanderjahren: „Große Gedanken und ein reines Herz, das ist’s, was wir uns von Gott erbitten sollten.“ Vielleicht darf man für eines Menschen Wanderjahre dies Wort auch umwandeln und sagen: Große Vorbilder und ein reines Herz, das ist es, was wir uns von Gott erbitten sollten. Jedenfalls kann man es Wicherns Lebenswerk ablesen, was große Vorbilder einem reinen Herzen abgezwungen haben.
Also, nicht nur das theologische Denken oder die wissenschaftliche Arbeit sind Wicherns Feld in Berlin. Alles in ihm drängt zum Tun.
So eifrig er auch studiert, so fleißig und klug er auch ist, eines bezeugt und beweist er von den ersten Studienjahren an: Nicht allein auf das Wissen und nicht zuerst auf die Lehre kommt es an, sondern auf das Leben aus dem Glauben; es geht um das Tun, das aus brennendem Herzen bricht, es geht um die rettende Tat der Liebe. Mit Recht hat Theodor Heuß von Wichern gesagt: „Er hatte keine Zeit, ein großer Theologe zu werden, da es ihm eilte, ein guter Christ zu sein.“
In Berlin begegnet er auch dem jüdischen, später katholischen Arzt Nikolaus Heinrich Julius, der eine Arbeit über die Reformen im Gefängniswesen verfasst hatte. Unter den berühmten Predigern Berlins beeindruckte ihn vor allem Johannes Evangelista Goßner wegen der Entschiedenheit seiner Verkündigung.
Am Ende seiner Lehr- und Wanderjahre schreibt der junge Student in sein Tagebuch: „Bald soll ich heimkehren in die Heimat, zum Wirken und Werken berufen. Was soll mir bleiben aus all dem Reichtum und dem Gebiet des im Geist Erlebten, Gedachten, Empfundenen und Erfahrenen? Nenne ich es Sinn, Wesen, Heiliges, Leben, Liebe, was mir geworden ist? Liebe ist sein einziger Name, und wer wahrhafte Liebe gefunden hat, weiß auch, wann sie kommt. Ich meine aber Liebe aus Gott, die frei ist in ihm und uns frei macht durch sich selber. Darum ist es Aufgabe und Pflicht, sich dienstbar zu machen, was und soviel es zu unserem Dienst verordnet ist, nur dass wir uns nicht dienen lassen, ohne Diener zu sein, nicht Gehorsam fordern, ohne selbst Gehorsam zu leisten. Denn wer nicht Diener Gottes ist und sein Schüler sein Lebelang, wird nicht leben im Leben“.
Am 2. September 1831 kehrt der junge Wichern in seine Vaterstadt zurück. Er macht 1832 in Hamburg sein Examen als Kandidat der Theologie. Das bleibt sein geistlicher Rang bis zu seiner Berufung in den Preußischen Oberkirchenrat. Im Stil der Zeit, in der Kandidaten der Theologie lange auf ein Pfarramt warten mussten, wenn sie überhaupt eines bekamen, wendet sich Wichern der Erziehertätigkeit zu.