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Oberlehrer an der Sonntagsschule in St. Georg – Besuchsverein

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Er wird am 24. Juni 1832 Oberlehrer an der von Oncken und Rautenberg initiierten Sonntagsschule in der Evangelischen Vorstadt-Kirchengemeinde St. Georg (sieh oben!) für verwahrloste Proletarierkinder, die ohne Erziehung und Unterricht, ohne elterliche Betreuung und Liebe auf den Plätzen und Straßen der großen Hafenstadt herumstrolchten.

Die öffentlichen Schulen Hamburgs standen nur der Jugend aus den bürgerlichen und wohlhabenden Kreisen offen; um die unübersehbare Schar der vernachlässigten Arbeiterkinder kümmerte sich niemand. Diese Sonntagsschule, die nach englischem Vorbild Kinder aus den Armenvierteln und Elendsquartieren an einem Tage in der Woche sammelte und betreute, war eine epochemachende, soziale Tat. In einem der ersten Jahresberichte Rautenbergs heißt es: „Eltern, welche mit der stumpfen Unempfindlichkeit ihre Kinder ohne allen Unterricht den Grenzen der Kindheit rasch hatten entgegenwachsen sehen, schlugen in sich und brachten sie zu uns her. Vernachlässigte, herangewachsene Kinder wurden ohne alle elterliche Anfassung über ihren Zustand unruhig und von innen gedrängt, nach Unterweisung zu fragen. Solche Weckung musste mit desto größerer Freude von uns wahrgenommen werden, und desto stärkere Hoffnungen bei uns entzünden, da sie keineswegs die Frucht einer Sonntagsschulmission, sondern einer freien Erscheinung war, welche die ins Leben tretende neue Anstalt ungezwungen begleitete.“

Hier war nun der rechte Platz für den jungen Kandidaten Wichern, seine brennende Sorge und Liebe einzusetzen für die bedrohten, verlassenen und gefährdeten Kinder seiner Vaterstadt, und das Amt eines Oberlehrers an dieser Schule zu übernehmen. Die Anstalt wuchs unter Wicherns Mitarbeit, ja Führung zu neuer Blüte; er gab ihr das Gesicht einer Musterschule, nach der alle späteren Sonntagsschulen sich im Blick auf Lehrplan, Klassen- und Familieneinteilung, Helferstab und Verbindung mit den Eltern ausrichteten. Vor allem trat Wichern auch dem Besuchsverein bei, den Rautenberg aus den Helfern der Sonntagsschule gebildet hatte mit dem Auftrag, die Elternhäuser der Sonntagsschulkinder regelmäßig zu besuchen, und mit den Vätern und Müttern, die oft in bitterem Elend, oft auch selbst in hoffnungsloser Verwahrlosung lebten, Kontakt zu suchen.

„Was hält uns, dass wir nicht zutreten und anfassen? Was hindert uns, hinzugehen in die Hütten des Unheils, den Jammer mit eigenen Augen zu sehen, und die armen Leute zu bitten und zu vermahnen, dass sie sich selbst, dass sie mindestens doch ihre unglücklichen Kinder retten lassen aus den Stricken des Todes“

Immer wieder hatte Rautenberg die Jahresversammlung des Sonntagsschulvereins wahrgenommen, um in der ihm eigenen Anschaulichkeit der Sprache die Not und Ausmaße der Verwahrlosung zu schildern. „Bibel, Kirche, Abendmahl, Sonntag, Gebet, Schule, Kinderzucht – ja, wer kann an dergleichen noch denken, wenn man abends nicht weiß, womit man morgens den Hunger stillen soll, den man sich schläft – Das ganze sittliche Leben der Leute schlägt sich nun nieder in die Leidenschaft des Magens, und ihr ganzer Himmel schrumpft zusammen in eine Semmel… Alle höhern geselligen Bande haben sie zerrissen oder fahren lassen. Für sie gibt’s keinerlei Ordnung mehr, nur Auflösung, Anarchie und Verwirrung… Vom Greise bis zum Kinde, das am Boden kriecht, geht jedes seinen eigenen Weg nach des bösen Herzens ‚Lust, – nur eine gemeinsame Aufgabe haben sie noch, nämlich so viel an jedem ist, Brot oder Geld herbeizuschaffen, und so viel Liebe noch, dass eins dem andern von seinem Vorrat abgibt, – und das Gegebene mit Flüchen würzt! Genug, sie führen ein Leben, wie die Raben auf unsern Türmen, die wir morgens auf den Raub hinausziehen und abends mehr oder minder gesättigt zurückkehren sehen. Sie halten Nomaden-Campagne mitten in unsern Gassen, und ihr Aufenthalt ist ein schauriges Zigeuner-Bivouac mitten in einer christlichen Stadt… O, fürwahr, Freunde, wenn der Geist christlicher Gemeinschaft und Zucht nicht besondere starke Dämme gegen diesen reißend wachsenden Strom des Unheils aufführt, so mögen wir zehn Schulen in jeder Gasse errichten, – ein großer Teil des aufkeimenden Geschlechts wird doch nicht viel besser sein, als wäre er aus den Hottentotten eingewandert.“

Immer kehrt dieser Gedanke wieder in einer Anschaulichkeit der Sprache und in einer Eindringlichkeit, die sich dem Hörer tief einprägen muss: „Was tun wir, um der himmelschreienden Verwahrlosung und dem zunehmenden Heidentum mitten in unserer so genannten christlichen Stadt zu wehren?“ Man dürfe sich damit nicht begnügen, die Kinder an den Sonntagen zwei Stunden zum Unterricht zusammenzurufen. Sollte die Arbeit an den Kindern Erfolg haben, so müsse man auch ihre Eltern gewinnen. Und nun klingt auf einer Jahresversammlung der St. Georger Sonntagsschule am 8. März 1830, fünf Jahre nach ihrer Begründung zum ersten Mal der Gedanke an, dass in der christlichen Stadt Hamburg eine innere Mission notwendig sei, um dem mehr als heidnischen Elend dieser Stadt zu wehren. „Können wir denn nicht helfen? Was hält uns, dass wir nicht zutreten und anfassen? Was hindert uns, gleich unsern Brüdern in London, Glasgow, New York und mehreren großen Städten Englands und Nordamerikas, Missionare zu werden für das mehr als heidnische Elend in unsern Mauern?

Was hindert uns, hineinzugehen in die Hütten des Unheils, an welche wir hier gedenken, den Jammer mit eignen Augen zu sehen und die armen Leute zu bitten und zu ermahnen, dass sie sich selbst, dass sie mindestens doch ihre unglücklichen Kinder retten lassen aus den Stricken des Todes?...


Kinderreiche Familien in Hamburgs Elendsvierteln

Wäre denn nicht manchen unter uns, die von der Liebe Christi zu den armen Brüdern durchdrungen sind, so viel Zeit gelassen, solch Amt der Barmherzigkeit auszurichten? Und wäre es denn so schwer, dafür einen förmlichen „Besuch-Verein“ zu bilden, damit dies schöne Liebeswerk nach einer gemeinsamen Ordnung ins Leben träte?“

In seinen Notizbüchern und in einem umfangreichen Manuskript „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ hat der junge Wichern viel von der schreienden Armut und der trostlosen sittlichen Verwahrlosung festgehalten, die ihm auf seinen Besuchen im ‚Gängeviertel’ Hamburgs entgegentraten. Er fertigt Protokolle an, wobei er in Kontenbüchern auch die familiären und gesundheitlichen Zustände der Kinder vermerkt. Diese Aufzeichnungen suchen an Schärfe der Beobachtung und an der Hingabe am Einzelfall ihresgleichen. Hier findet man eine interessante Parallele zu dem Bild, das etwas später Friedrich Engels von der Lage der arbeitenden Klasse in England entwirft.


in Hamburgs ‚Gängeviertel’

Dieser von Rautenberg schon 1830, als Wichern noch in Göttingen studierte, begründete, und von dem jungen Wichern geführte Besuchsverein, stößt hinein in die entlegendsten Hinterhöfe der Armut und des Elends, in die dunkelsten Schlupfwinkel leiblicher und seelischer Verwahrlosung, in einen bisher nicht für möglich gehaltenen, von einem wohlbehüteten und wohlsituierten Bürgertum bisher nicht gekannten Abgrund sozialer Verlorenheit und menschlicher Verkommenheit. In einem späteren Bericht ist zu lesen: „Das ganze sittliche Leben der Leute schlägt sich nieder in die Leidenschaft des Magens, und ihr ganzer Himmel schrumpft zusammen in eine Semmel. Die rohe Befriedigung der niedersten Bedürfnisse ist’s allein, was sie noch suchen. Alles andere haben sie aufgegeben. Für sie gibt’s keinerlei Ordnung mehr in der Welt, nur Auflösung, Anarchie und Verwirrung. Innerhalb ihrer Kreise zerstören sie alle Ordnung völlig und am letzten Scheit lodert das Gesetzbuch häuslicher Zucht und Sitte auf. Vom Greise bis zum Kinde, das am Boden kriecht, geht jeder seinen eigenen Weg nach des bösen Herzens Lust. Genug, sie führen ein Leben, wie die Raben auf unseren Türmen.“ Wichern zog selbst durch die Elendsquartiere und Lasterhöhlen, und sah in die tiefsten Tiefen der Not und des Unglaubens hinein. Er gewann Eindrücke von der Verelendung und Gefährdung, Abstumpfung und Verbitterung der breiten Masse, die ihn nicht mehr losließen und für die Zukunft seinen Weg und sein Werk bestimmten und prägten.

Da ist das berüchtigte Gängeviertel in Hamburg, eine dunkle Ecke, ein muffiges Hinterhaus. „Durch den lichtlosen Flur muss man sich nach der Tür tasten. Hinter der Tür: nur trübes Licht im dunklen Raum. Schnapsflaschen auf schmutzigem Tisch. Und ein Geruch von Verwesung und Moder. Kartenspielende Männer. Eine Frau rekelt sich winselnd auf der wackligen Bettstelle, wirr hängen ihr die öligen Haare ungemacht um den Kopf. „Du versoffenes Aas!“ schimpft einer der Männer, dem selbst der Trunk und das Laster im Gesicht geschrieben stehen. I n einer Ecke ein Knäuel sich balgender Kinder. Gezänk um eine Kruste Brot. In den Augen der offene Hunger. Auf dem Tisch der Schnaps. Nur fluchende Männer und ein heulendes, betrunkenes Weib, das den Namen „Mutter“ kaum noch verdient. „Guten Tag – wir kommen von der Sonntagsschule – wir möchten Ihre Kinder abholen!“ Spottende Flüche und höhnisches Gelächter -- und dann die Antwort von einem der Männer: „Meinetwegen – Ihr könnt sie haben – alle! Haut ab – dann sind sie aus dem Wege.“ Und einer der Schnapsbrüder schreit: „Ihr könnt sie behalten – umsonst – Ihr könnt sie geschenkt bekommen.“ Beklommen trippeln die Kinder an der Seite des fremden freundlichen Mannes – es ist der junge Wichern – zur „Sonntagsschule“. Dort werden sie gewaschen und gespeist und lernen singen, beten, auch schreiben, rechnen und lesen, und lernen fröhlich und dankbar sein.

Freilich, viele Bemühungen, leiblich und geistlich zu helfen, sind oft wie Tropfen auf heißem Stein, und helfende Hände werden von den Verständnislosen in Verbitterung und mit Hohn zurückgewiesen: „Baut diesen Versunkenen die schönsten Schulen vor die Tür, ihre Kinder werden den Weg darüber hin durch Fenster oder Ziegel finden. Bauet sie mit derselben ein; sie werden euch die Kinder mit List und Gewalt entführen. O fürwahr, Freunde, wenn der Geist christlicher Gemeinschaft und Zucht nicht besondere starke Dämme gegen diesen reißend wachsenden Strom des Unheils aufführt, so mögen wir zehn Schulen in jeder Gasse errichten – ein großer Teil des aufkeimenden Geschlechts wird doch nicht viel besser werden.“

So war die Einrichtung der Sonntagsschule – das erkannte Wichern sehr klar – für die gefährdete Jugend zunächst nur eine halbe Hilfe. Was war damit schon viel getan, wenn man die Kinder nur am Sonntag für kurze Stunden aus den Gassen und Gossen herausholte, und wenn man sie dann die ganze Woche über wieder in den Schmutz und das Laster ihrer Umwelt zurückschickte.

Wenn man diesen jungen Menschenkindern wirklich helfen wollte, war ein dauerndes Herauslösen aus dem verderblichen Einfluss und ein Verpflanzen in einen neuen Mutterboden dringend von Nöten. So reifte denn bei Wichern und bei seinen Freunden und Mitarbeitern der Plan, nach dem Beispiel des Grafen von der Recke in Düsseltal, und eines Johannes Falk in Weimar, und nach dem Vorbild des Halle’schen Waisenhauses, zur Gründung eines Rettungshauses aufzurufen. Ihm schwebte eine freundliche Heimstatt vor, in der die verlorenen und verirrten Kinder zu kleinen Familiengruppen zusammengefasst, wieder Elternliebe und Heimatgefühl erfahren dürfen, und in Geborgenheit und Nestwärme, aber auch in Ordnung und Pflichterfüllung Vertrauen zu sich selbst und zu den andern finden, und wie Kinder fromm und fröhlich sein können.

In einem Brief schildert Wichern seine Hoffnungen und Pläne: „Ich denke an eine kleine christliche Kolonie, wo Haus an Haus steht, und die Häuser unter Hilfe von Knaben aufgebaut werden; und soll sich die Anstalt zu einem Mittelpunkt eines christlichen Lebens bilden, von welchem aus unser Volk im tiefsten Grunde erfasst und aus seinem Sumpf heraus in die neue Welt Gottes hineingestellt wird. Wer ein solches Kind jemals gesehen, der würde die Angst und Tiefe des Bedürfnisses in den Seelen dieser Kinder begreifen, und könnte dem heiligen Triebe, zu retten nicht widerstehen. Wer wollte nicht teilhaben am Werk der Rettung, wer nicht helfen, Hütten der schützenden, bessernden, der Leben bringenden Liebe zu bauen.“ Wichern wirbt und wartet und bittet.

Wichern erkennt die Aussichtslosigkeit, sittlich bedrohten Kindern in der Sonntagsschule durchgreifend zu helfen, wenn sie im Bannkreis ihrer zerrütteten Familie bleiben. Was hatte er denn gesehen? In einer Lumpensammlerfamilie schliefen vier Personen auf einem Strohsack unter einer Decke. Viele Kinder liefen fast nackt herum. Knaben banden ihre zerlumpten Sachen mit Bindfäden zusammen. Ein sechzehnjähriges Mädchen hatte sich seit seinem fünften Lebensjahr ohne jede Aufsicht herumgetrieben. Kinder wuchsen ungetauft, unkonfirmiert und ohne Schulunterricht auf. Wenn junge Burschen mit jungen Mädchen zusammenliefen, dann unterblieb fast selbstverständlich die Trauung. Einen zwanzigjährigen jungen Mann fand Wichern mit einem sechzehnjährigen Mädchen und mit einer öffentlichen Dirne zusammen hausen. Kindesmisshandlungen fielen nicht auf. Einmal traf Wichern selbst die Kinder eines Trunkenboldes betrunken an. Furchtbare Frauenschicksale entrollten sich vor seinen Augen.

Durch diese Arbeit lernt Wichern die schreiende Armut, die Wohnungsnot, die geistige und sittliche Verwahrlosung in Hamburg kennen. Hier tut sich für Wichern eine entsetzliche, kaum beschreibbare und ihm bis dahin völlig unbekannte Elendswelt auf, und er gewinnt Einblick in sie auf seinen Wegen in die Hütten der Armut, in die Kellerwohnungen und die Hinterhäuser, wie sie außer in Hamburg wohl damals kaum zu gewinnen war. Er sieht das Kinderelend jener Zeit, da die Kinder von früh auf zum Broterwerb der Eltern beitragen mussten. Sie gingen in Fabriken, boten Grünwaren und Früchte an, Schwefelhölzer und Zigarren, Kalender und viele andere Dinge. Die Schule konnten sie nicht besuchen, weil sie keine Zeit dazu hatten, keine Schuhe an den Füßen und nur notdürftige Kleidung auf dem Leib. Einen dieser Jungen, den Wichern als „Findling“ irgendwo aufgelesen hatte, wird er ein Jahr darauf als ersten Zögling mitnehmen in das neu zu gründende Rettungsdorf in Horn. Wichern fand diesen Jungen in der Wohnung und in den Händen eines ‚Trunkenboldes’. „Der 16jährige Knabe war fast so tierisch roh, wie man uns die in den Wäldern der Ardennen früher eingefangenen Kinder geschildert hat. In dem armen Jungen hatte sich kaum die erste Regung des Schamgefühls entwickelt, und sein Sprachschatz bestand aus sehr wenigen, seltsam gestalteten Wörtern. Über seine uns lange dunkel gebliebene Abkunft hat uns erst ein schmutziges Papier belehrt, welches sich in der Rocktasche des bald danach verstorbenen sauberen Pflegevaters vorfand. Er gehört zu den unglücklichen Kindern sträflicher Verbindung, welche von ihren verbrecherischen Eltern schon gleich nach der Geburt, mit einem dürftigen Reisepfennige versehen, auf die Wanderschaft geschickt, das heißt samt einer geringen Mitgift für immer armen Leuten übergeben werden, welche des blanken Sümmchens froh, ohne Zaudern allerlei Verpflichtungen unterschreiben, die sie so wenig kennen als zu halten imstande sind. Die Eltern hatten sich von ihren Pflichten auf rechtliche Weise losgekauft und bekümmern sich um ihr Fleisch und Blut nicht mehr!“ Auch der trunkene Pflegevater hatte sich um ihn nicht weiter gekümmert – nun ist er einer der Schutzbefohlenen des Besuchsvereins, eines der vielen Kinder, die den Männern und Frauen, die dies Elend erlebten, den Gedanken nahelegt, solch gefährdeten Kinder aus einer verwahrlosten Umgebung heraus zu hohlen, um ihnen eine liebeerfüllte und sie behütende Heimat zu geben.

Mit den Mentoren seiner Studienzeit wird so der Gedanke einer Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder entwickelt. So fügt sich ein Glied zum anderen, und am Ende bietet sich der Plan zur Gründung eines Kinderrettungsdorfes ganz von selbst.

Im Kreise dieses Männlichen Besuchsvereins sitzen die jungen Leute an einem Oktoberabend 1832 wieder beisammen. Es ist im Haus des Schullehrers Hoffmann, und es sind dabei einige schlichte Handwerker, einige junge Theologen, ein Oberpostsekretär und ein Kondukteur, junge Männer aus verschiedenen Volks- und Bildungsschichten, aber eins in der Liebe zu ihrem Herrn und eins unter seinem Gebot: „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“ Auf der Suche nach einem helfenden Ausweg aus dem bedrückenden Kinderelend wird in dieser Stunde zum ersten Mal der Gedanke laut, es müsse auch in Hamburg eine Anstalt geben, in der Eltern, die es nicht selbst vermöchten, ihren Kindern eine christliche Erziehung zuteil werden zu lassen, geholfen werden könne. Was es im Württembergischen Korntal gäbe, im Schloss Beuggen in Baden, in Düsselthal am Rhein, das müsse auch in Hamburg gegründet werden. Da hat wohl der Graf Adelbert v. der Recke Pate gestanden, der schon 1826 mit dem Lehrer Pluns in brieflicher Verbindungstand. Schon Martin Luther hatte seinem Vater in einem Brief darüber geklagt, dass man keine Stiftung habe, „worin man die jungen Knaben in guten Ordnung hielte, dass sie nicht irre liefen, damit ihre Jugend im Zaum gehalten würde“. Und während sie so sitzen und sprechen, wächst aus dem Fragen und Suchen ein Plan und ein Ziel: Wir gründen auch in Hamburg ein Rettungshaus. Aber Wichern fährt dann in seiner Erzählung fort: „Hätten wir unsere Unwürdigkeit und unser Unvermögen angesehen, so hätten wir das Vorhaben weit hinter uns werfen müssen; denn wie wir vor Gott keines Dinges rühmen konnten, so waren wir auch vor Menschen nichts. Wir alle waren nicht bloß Männer, die selber nicht mehr hatten, als was sie für sich und ihre eigenen Familien bedurften, also für fremde Kinder keine Häuser bauen konnten, sondern waren auch der großen Menge unbekannt und überdies Neulinge, ein öffentliches Werk zu übernehmen. Aber je mehr wir solches Unvermögen aller Art an uns selber kannten, desto lebendiger und getroster mussten wir auf Den bauen, dem alles Vermögen innewohnt und der Sein Wort und Seine Verheißungen uns nicht vergebens gegeben haben will. In diesem Geiste schieden wir an jenem 8, Oktober voneinander, jeder mit dem Versprechen gegen den andern, die hochwichtige Sache vor dem Herrn zu erwägen. Dabei wurde aus dem Munde eines Handwerksgesellen, der unser Genosse war, die Hoffnung laut, dass der Herr auch ein Zeichen Seines Wohlgefallens zur Ermutigung unsers Glaubens geben könne.“ Und begegneten sich die Freunde in den folgenden Wochen, so fragten sie wohl einander: „Betest du fleißig, dass der Herr uns Seinen Willen und Seine Wege zeige?“

Die nächste Zusammenkunft war für den November vorgesehen, aber schon nach zwei Wochen trug sich etwas zu, was die Freunde als Gottes Einverständnis mit ihrem Plan und als „Handgeld“ deuten durften. Am Vormittag des 25. Oktober war bei dem Oberpostsekretär Hachtmann ein Mann erschienen und hatte ihn gebeten, einen Betrag von 300 Mark als „Reumiete“ anzunehmen. Er brächte das Geld ihm, weil er ja so viel von Armen wisse. Die Verwendung des Geldes überlasse er ihm, aber am liebsten möchte er die Summe für eine erst zu gründende Stiftung verwandt sehen. „Das war“, so fährt Wichern fort, „ein Handgeld vom Herrn. Unvergesslich bleibt mir die späte nächtliche Stunde, in welcher der teure Empfänger mich aufsuchte, voll Lobes und Dankes für dies ermutigende Zeugnis göttlicher Hilfe.“

Nun war es damals in Hamburg Brauch, dass der Empfang solcher Spende für öffentliche Zwecke auch öffentlich bescheinigt wurde, und solche Bescheinigung musste geschehen durch einen Mann, dessen Name Ansehen und Gewicht hatte. Als solchen baten die Freunde Senator Hudtwalcker um diesen Dienst, und so wurde zum ersten Mal der Plan des Rettungshauses öffentlich bekannt – schon wenige Wochen, nachdem er im Kreis des Männlichen Besuchsvereins laut geworden war. Nur muss um der Wahrheit willen hier gesagt werden, dass dieser Plan in dem Herzen des jungen Wichern schon lange vorher lebendig war, ja dass er ihn so stark innerlich bewegte, dass er „halbe Nächte darum in seinem Bett durchwachte“.

Zum andern traf es sich, dass Senator Hudtwalcker Verwalter des Testaments eines Quartiermannes, A. W. Gehrken, war, in dem der Erblasser für verschiedene christliche Zwecke, unter anderem für ein künftiges Rettungshaus, mehrere Tausende eingesetzt hatte.


Dadurch, dass Hudtwalcker von der Absicht der Freunde hörte und ihrem Freundeskreis beitrat, erhielt der Plan der unvermögenden Männer greifbare Gestalt, denn es eröffnete sich ihnen die Aussicht auf ein Vermächtnis von 15.800 Mark.

Aber er macht ihnen auch klar, dass sie nicht als Besuchshelferkreis ihren Plan verwirklichen können. Sie müssen nach geltendem Anstaltsrecht die Gründung durch ihn vorbereiten lassen.

„Am 12. November“, so lesen wir, „versammelte sich unser kleiner Besuchsverein wieder. Wir waren jetzt, die wir vor damals vier Wochen noch nichts gehabt hatten als das Gebet, die Verheißung und den Glauben an dieselbe – schon, wir konnten es selbst kaum glauben, in den Besitz von 7.000 Reichstalern Geldes gekommen. Wer anders hatte den reichen Tisch gedeckt als der himmlische Stifter des Hauses! Er wollte uns verstehen lehren, wer da sind ‚die Armen, aber die doch viele reich machen, die nichts innehaben, und doch alles haben’. Unsere Herzen waren Altäre voll des Lobes und Dankes.“


Am Tage darauf besuchte Johann Hinrich Wichern, wohl auf Veranlassung von Senator Hudtwalcker, den Syndikus Sieveking auf seinem Landsitz in Hamm vor den Toren Hamburgs. Die Eltern (der Vater war Kaufmann in Hamburg) der Frau Syndika, Caroline Henriette, einer geborenen de Chapeaurouge, hatten, einst von Pestalozzi angeregt, in ihrem Hammer Parkgelände ein Haus errichtet, in dem arme Kinder erzogen und für den Handwerkerberuf vorbereitet wurden. Das gut gemeinte Unernehmen machte aber sowohl den Gründern wie auch ihren Kindern und Erben aus mancherlei Gründen wenig Freude. Schließlich mussten sie sich entschließen, es aufzugeben, und just an diesem 13. November, als Wichern den Senatssyndikus besuchte, hatte am Vormittag der letzte Junge das Haus verlassen.

Es war eine schicksalhafte Begegnung, als die beiden Männer sich zum ersten Mal die Hand reichten. Der ältere von beiden, Karl Sieveking, gehörte einer alten Hamburger Patrizierfamilie an und war der Vetter von Amalie Sieveking, die, als 1831 in Hamburg die Cholera ausbrach, freiwillig in den Armenhäusern als Krankenpflegerin gearbeitet hatte und als Mitbegründerin der organisierten Diakonie in Deutschland gilt.

Schon in jungen Jahren war Karl Sieveking Gesandter in Brasilien gewesen, hatte seine Vaterstadt beim Frankfurter Bundestag vertreten und diente ihr nun als Senatssyndikus. Sein jüngerer Bruder war Friedrich Sieveking, ein von den Hamburgern hoch verehrter Bürgermeister. Auch der hoch gebildete und feinsinnige Syndikus war „einer von denen, die mit Jesus waren“. Das verband beide Männer schnell und begründete eine Freundschaft, die durch 15 Jahre bis zum Tode des Syndikus beide tief beglückte.

Es bedurfte nicht vieler Worte, um Sieveking für den jungen Theologen und für seinen Plan zu gewinnen. Hier – das spürte er bald – konnte das in Vollmacht vollendet werden, was sein Schwiegervater de Chapeaurouge als Pestalozziverehrer für Hamburg gewollt und ersehnt hatte.

Aber Wichern begnügte sich nicht damit, die führenden Kreise seiner Vaterstadt für den Plan zu gewinnen, der vor seiner Seele stand. Mit einigen seiner Freunde gründete er den „Bergedorfer Boten“, eine Zeitung, die laufend auf die Notwendigkeit eines Rettungshauses hinweisen und dem Werk Freunde gewinnen sollte. Schon, als die erste Nummer im Januar 1833 erschienen war, liefen die ersten Spenden ein. Eine mütterliche Freundin Wicherns schenkte 100 Mark. Christlich gesinnte Hausmädchen hatten sich zusammengetan, ihr Scherflein beizutragen. Ein Schumachergeselle brachte dem jungen Kandidaten seinen ganzen Spartopf mit Silber und Gold, seine lange gesammelten Sparpfennige, für das zu gründende Liebeswerk. Und ähnliche Gaben folgten als Zeichen dafür, dass vieler Fürbitte und Hilfe mit ihnen ging.

Am 4. Februar war Wichern wieder bei dem Syndikus Sieveking, um den gemeinsamen Plan mit ihm zu besprechen. Im Verlauf des Gespräches holte der Syndikus eine Mappe mit Karten, auf der die Sievekingschen Ländereien eingezeichnet waren, darunter auch ein Acker Landes an der Wandsbeker Heerstraße, wo eine Windmühle die Aussicht nach allen Himmelsgegenden beherrschte. Diesen Acker wollte er als Grundstück für den Rettungshausplan zur Verfügung stellen. In höchster Freude eilte Wichern nach Hamburg zurück, rief trotz der späten Abendstunde seine Freunde zusammen und überlegte mit ihnen, wie diese Gabe aufs zweckmäßigste genutzt werden könnte.

Aber je mehr und je öfter sich die Freunde mit dem Plan befassten, umso mehr schienen ihre Hoffnungen dahin zu schmelzen. „Wie manche Stunde habe ich damals auf dem öden Felde zugebracht, es war aber alles wüst und leer. In wunderbar schönem Grunde senkte sich die Sonne so oft über Hamburg hier herunter und regte immer wieder meine Hoffnung an, die aber immer von neuem unerfüllt blieb.“ Alle Versuche, der der Nähe des Geländes ein Haus zu finden, das man mieten könne, schlugen fehl. Dazu kam plötzlich die Botschaft, dass die Verwandten des Erblassers die Gültigkeit des Testaments angegriffen hätten und dass für das Rettungshaus wahrscheinlich nichts oder nur sehr wenig übrigbleiben werde.

Einige glückliche Umstände bringen dann doch eine schnelle Verwirklichung des Plans. Der junge Wichern dringt darauf, dass die nächste Jahresversammlung des Sonntagsschulvereins am 25. Februar 1833 in aller Öffentlichkeit abgehalten werden soll. Im großen Tanzsaal des Schneideramtshauses in der Filterstraße strömen tatsächlich über 1.000 Personen zusammen. Es wird die erste große Gemeindeveranstaltung in der Geschichte der Hamburger Kirche überhaupt. Wichern hält den Hauptvortrag. Zum ersten Mal redet er vor einer großen Versammlung; zum ersten Mal erlebt eine Hörerschaft die bezwingende Kraft seiner Rede. Hier tritt der junge Wichern erstmalig als Mahner von prophetischer Eindringlichkeit auf, wie später so oft in seinem Leben, und ruft die Hamburger Bürgerschaft zur erbarmenden Hilfe für die von der bürgerlichen Gesellschaft im Stich gelassenen Proletarierfamilien auf. Viele Hamburger erfahren damals erst durch Wichern etwas von der unheimlichen Nachtseite ihrer stolzen und reichen Stadt. Noch über hundert Jahre später spürt man sie aus der Niederschrift. Er nimmt seine Hörer mit auf einen Gang durch die Hamburger Altstadt: „In einem Zimmer des alten Hauses wohnt ein wilder Mensch, ein Wall- oder Chausseearbeiter, ein entsetzlicher Trunkenbold; eine Kinderbettstelle, ein wenig anderes zerbrochenes Mobiliar und ekelhafter Schmutz füllen diese Behausung. Bis zum letzten Frühjahr hatte dieser Mensch einen Neffen bei sich, der seinen Vater und seine Mutter nie gesehen hat; derselbe ist 18 Jahre alt, sammelte bis vorigen Winter am Tage die Lumpen, aus denen er des Nachts Kopfkissen bereitete; Wäsche hatte er im letzten Winter nicht auf dem Leibe.“ Und Wichern schließt: „Wie? Sollten wir vergeblich harren? Sollte Hamburg, welches selbst Fremde nie vergeblich nach Hilfe rufen lässt nun den Schrei nicht vernehmen, den die unglücklichsten aller Kinder in den eigenen Mauern schreien? Gewiss, wer jemals ein armes kleines Kind gesehen, wie jenes eins war, das zu mir auf offener Straße herzulief und mit ausgestreckten Händen und bittenden Blicken weinend zu mir hinauf sich wand und – warum sollte ich es nicht erzählen? – mich küssen wollte und rief: ‚Komm mit! Komm mit! und siehe, wie es mir geht!’ – wer solch ein Kind jemals gesehen, der würde die Angst in den Seelen dieser Kinder begreifen und könnte dem heiligen Triebe zu retten nicht widerstehen. Im Geiste steht ein solches Kind mir hier zur Seite und sieht die Menge der Versammelten flehend an – wer wollte nicht helfen, Hütten der schützenden, der Leben bringenden Liebe zu bauen?“

Noch im spätem Alter sagte Wichern im Hinblick auf diese Versammlung: „Nur zweimal in meinem Leben habe ich das sichere, mich übermannende Bewusstsein davon gehabt, dass Gott mir im außerordentlichen Maße die volle Kraft des Wortes verlieh: das erste Mal bei jener Sonntagsschulfeier im Hamburger Schneideramtshause, das zweite Mal bei meiner Rede über die Innere Mission auf dem ersten Wittenberger Kirchentag“ (1848).


Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit

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