Читать книгу Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit - Jürgen Ruszkowski - Страница 7
Wicherns Zeit
ОглавлениеManfred Schick berichtet 1981 in „Weltweite Hilfe“
(Hessen-Nassau):
Die Französische Revolution, im ausgehenden 18. Jahrhundert als das Fanal der Neuzeit schlechthin aufleuchtend, bringt das vorrevolutionäre Staatensystem Europas unter Napoleons Feldzügen zum Einsturz. Hamburg, die Geburts- und Heimatstadt Wicherns, steht unter französischer Besatzung, als Wichern geboren wird. Der Gedanke der Volkssouveränität und der Verfassung, die den staatlichen Gewalten ihre Aufgaben und Kompetenzen zuweist und sie begrenzt, bestimmt die politische Diskussion des Jahrhunderts. Die Tradition gottverordneter Obrigkeit ist zerbrochen, auch wenn für den Rest des Jahrhunderts nur in Frankreich die Staatsform der Republik besteht. Das Bürgertum, der dritte Stand nach Adel und Geistlichkeit, wird die gesellschaftstragende Schicht des Jahrhunderts.
Dieses Bürgertum wird auch der Initiator einer nicht minder eingreifenden Veränderung. Ein neuer und anderer Geist wirtschaftlichen Denkens und Handelns erwacht.
Hochkomplizierte technische Spielereien und Erfindungen gab es schon lange, aber niemand kam auf den Gedanken, diese Spielereien industriell zu nutzen. Aber über die Hintertreppen alchimistischer Versuche zur Goldherstellung und den Umweg absolutistischer Manufakturen zur Porzellanherstellung als einem unfreiwilligen Nebeneffekt alchimistischer Versuche entsteht ein Fabrikanten- und Fabrikarbeiterstand.
Die Erfindung der Dampfmaschine und der Lokomotive, des mechanischen Webstuhls u. ä. sind Ergebnis und Anreger solcher Entwicklung zugleich. Die industrielle Revolution geht mit der politischen Hand in Hand. Fabriken entstehen. Entwicklungen, die uns heute in der Dritten Welt so unverständlich erscheinen, prägen das Bild der Zeit damals: Die Städte mit ihren entstehenden Slums, ihrer Entwurzelung aus allen bergenden Gemeinschaften, sind ganz offensichtlich für Millionen Menschen immer noch attraktiver als die Unfreiheit der ländlichen Agrargesellschaft mit ihren ausgesprochenen und unausgesprochenen Verboten: z. B. dem Verbot zu heiraten, überhaupt und wen und wann man will, dem Verbot, den Beruf seiner Wahl zu lernen und auszuüben, den Beschränkungen des Eigentums- und Besitzerwerbs usw. Am schlimmsten trifft diese Veränderung den Handwerkerstand; vor allem der kleine, arme, aber sozial integrierte Handwerker ist plötzlich der Konkurrenz industrieller Produktion nicht mehr gewachsen. Dass er Fabrikarbeiter werden muss, ist vielleicht weniger ein wirtschaftlicher Niedergang als ein sozialer Abstieg. Andere des gleichen gesellschaftlichen Standes springen auf den fahrenden Wagen auf; die großen Firmenvermögen des 19. Jahrhunderts, die Krupps, die Thyssens usw. entstehen aus vergleichsweise kleinen Anfängen. Die soziale Frage im Besonderen wird aber erst das Problem des letzten Drittels dieses Jahrhunderts werden.
Parallel dazu entstehen die Nationalstaaten. Deutschland bleibt in diesem Punkt hinter der allgemeinen Entwicklung zurück. Während rundum das Gestaltungsprinzip der neuen staatlichen Ordnung der nationale Gedanke ist, bleibt Deutschland in dynastische Einheiten geteilt, und die Nationwerdung von 1870 - 1871, die Wichern noch erlebt, ist im Grunde auch nur eine Teillösung. Trotzdem mischen sich in die nationalen Töne der Kirche dann sehr schnell nationalistische. Die Kirchen beider Konfessionen sind über diese Entwicklung eher irritiert. Die wissenschaftliche Theologie zieht zwar mit dem modernen Denken mit (Hegel, Schleiermacher, die Entwicklung der wissenschaftlichen Exegese u. s. f.). Gegen den militanten Atheismus, wie er als Unterströmung der französischen Revolution das Jahrhundert durchweht, entsteht eine starke Erweckungsbewegung, die aber nur die zweie oder gar dritte Garnitur der wissenschaftlichen Theologie erfasst. Der Kampf zwischen Altgläubigen und Freisinnigen bestimmt die innerkirchliche Diskussion für den Rest des Jahrhunderts; d. h. dass es kaum zur Diskussion zwischen beiden kommt, lähmt das kirchliche Leben und zieht auch dem Wirken der Inneren Mission unnötige Grenzen, weil die Initiatoren der Inneren Mission in der Mehrheit zur altgläubigen Schar gerechnet werden.
Aber soweit auch die Theologie auf die Strömungen der Zeit eingeht, die kirchliche Organisation bleibt stehen. Die im Zeitalter der Reformation mehr aus Verlegenheit entstandene Koppelung von Thron und Altar im Landesherrlichen Summepiskopat konnte dem neuen Geist im Staatsdenken nicht mehr gerecht werden, wurde aber umso verbissener verteidigt. Erstaunlicherweise hatten die Konservativen für das Unzeitgemäße der kirchlichen Organisation ein besseres Gespür als die Freisinnig-Fortschrittlichen. Dass die Innere Mission sich organisatorisch neben der verfassten Staatskirche konstituierte, ist ein Ergebnis dieser im Wesentlichen erst mit der Revolution von 1918 gelösten Problematik der kircheneigenen Organisation.
Mehr als einige Aspekte dieses bewegten und bewegenden Jahrhunderts, das erst in seinem letzten Drittel, das aber nicht mehr die Zeit Wicherns ist, wieder etwas zur Ruhe kommt, kann ich nicht aufzeigen, aber auf diesem Hintergrund muss man Wicherns Leben sehen.