Читать книгу Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit - Jürgen Ruszkowski - Страница 9
Der junge Wichern
ОглавлениеNachfolgende Formulierungen stammen teilweise von Dr. theol. Reinhard Freese, Manfred Schick, aber auch aus anderen Quellen, etwa von Erich Beyreuther, Dr. Hans Luckey, 1949 von Ruth Färber ausgewählte und zusammengestellte Texte, aus der Verteilschrift ‚Der Rauhhäusler Bote’ 1954 oder Wikipedia.
„Ich bin in Hamburg 1808 den 21. April geboren, von guten und liebevollen Eltern, die mich hegten und pflegten, so lange sie konnten; durch die Taufe ließen mich meine Eltern in Gottes Verzeichnis der Christen (da heißt der mit dem heiligen Geist gesalbten) einschreiben Dafür sei Ihnen Dank hier und dort ewig.“ – so lesen wir es im Tagebuch des 18jährigen Johann Hinrich.
Wicherns Vaer
Wicherns Mutter
Johann Hinrich Wichern wurde also am 21. April 1808 als ältestes von acht Kindern des gleichnamigen Vaters Johann Hinrich Wichern geboren und am 15. Mai 1808 auf dessen Namen getauft.
Wichern stammt aus einer Aufsteigerfamilie. Der Großvater väterlicherseits, Nachkomme armer hannoverscher Leineweber, 1770 in die Stadt gekommen, ist noch ungelernter Arbeiter; der Vater arbeitet sich vom Mietkutscher und Schreiber zum kaiserlichen Notar (dazu bedurfte es damals in Hamburg noch keines akademischen Studiums) und durch eisernes autodidaktisches Sprachen-Studium, er beherrschte schließlich zehn Sprachen, zum vereidigten Übersetzer hoch.
Taufregister von St. Michaelis
Doch die Wirren der Napoleonischen Kriege und die Kontinentalsperre vereiteln einen finanziellen Lebenserfolg. Die Mutter, Caroline Maria Elisabeth geb. Wittstock, eine Hamburgerin, stammte mütterlicherseits aus einem verarmten holländischen Adelsgeschlecht und wird als energisch, praktisch und fromm beschrieben. Sie hatte von Jugend auf schwer arbeiten müssen; noch im hohen Alter hat sie im Rauhen Haus Gemüse geputzt und Kartoffeln geschält.
Wichern besucht eine Privatschule, in der nach der Pädagogik Pestalozzis unterrichtet wird. 1818 wechselt er auf das Johanneum, ein bereits lang bestehendes Gymnasium, das im 16. Jahrhundert von Johannes Bugenhagen, dem Mitstreiter Martin Luthers und Reformator Norddeutschlands, gegründet worden war. Der älteste Sohn, Johann Hinrich, soll studieren. Es ist darum ein furchtbarer Schlag, als der Vater, der sangesfrohe, bildungsbegeisterte, der Romantik zugetane, herzensfromme Vater im Jahre 1823 an Schwindsucht stirbt, als der Sohn 15 Jahre alt ist. Die Tagebucheinträge des jungen Johann Hinrich verraten die tiefe Erschütterung, die noch jahrelang nachklingt. Langsam, aber unaufhaltsam verarmt die achtköpfige Familie. So tapfer Johann Hinrich Wichern für die Mutter und die sechs jüngeren Geschwister durch Privatstunden und Klavierunterricht zum Unterhalt beiträgt, der vorzeitige Abgang von der vorletzten Klasse des berühmten Gymnasiums, des Johanneums, lässt sich nicht vermeiden.
Im Johanneum
Der Sohn verlässt 1823 die Schule kurz vor dem Abschluss, um die Familie mit zu ernähren, und wird Erziehungsgehilfe. Aber der junge Wichern hat schon den zähen Fleiß, der Kennzeichen seines ganzen Lebens ist. Doch in diesem äußeren, bedrängten Rahmen vollzieht sich eine reiche innere Entwicklung.
Johann Hinrich Wichern ist durch und durch ein Kind der Romantik, einer kulturgeschichtlichen Epoche, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dauerte. Das merken wir besonders, wenn wir seine Tagebuchtexte lesen, die uns heute allerdings reichlich pathetisch scheinen.
Er beginnt, sein Tagebuch zu schreiben, in dem er auch einen Anfang seines geistlichen Lebens schildert (1824). Demnach hatte sein Konfirmandenunterricht ein Bekehrungserlebnis zur Folge: „Der Durchbruch geschah abends, als Gottes Geist mich anfing von neuem zu gebären. Das Licht des Evangelii erleuchtete auch für mich die Wissenschaften … ich habe Fortschritte in jeglichem gemacht.“
Es ist wunderbar, das der Mensch das, was ihm am allernächsten liegt, – und das ist er selbst – am leichtesten und liebsten übersieht. Wer dies bemerkt hat, soll und wird demnach kein Mittel unbenutzt lassen, seinen Blick auf sich, in sich zurückzuwenden.
Also der Mensch liebt die Täuschung und deswegen die Perspektive oder das Ferne und deswegen alle anderen Gegenstände – nur kennt er seinen inneren Menschen nicht. Will er den besehen, so muss er eine Brille aufsetzen; die hat er aber nicht, er muss sie annehmen, das macht ihm aber Mühe, und deswegen setzt er sie lieber nicht auf.'
Nach dem Tode seines Vaters: Jetzt erkenne ich, wie der Heimgang meines unvergesslichen Vaters mir zu großem inneren Segen geworden ist. Herr, wie sind Deine Wege und Gerichte unbegreiflich, 'hoch über den tausendsten Himmel erhaben. Hier heißt es recht: durchs Kreuz zur Freud’!
Beichtgebet: Liebreicher Vater, ich komme zu Dir als zu meinem Erbarmer und Erlöser, der Du mich allein ganz kennst, weil Du allein meine Schuld kennst. Du weißt, wie oft ich noch fleischlich und irdisch gesinnt bin, wie oft noch verwickelt in törichte Einbildungen, wie unachtsam ich das betrachte, was in mir ist, wie felsenhart mein Herz sich hält gegen Tränen der Reue und den Schmerz über meine Sünden; wie ungestüm ich bin in meinen Handlungen, wie leicht zum Zorn gebracht, wie gehör- und gefühllos gegen Dein heiliges Wort, wie schläfrig beim Gottesdienst und wachsam bei törichten Erzählungen, wie so reich an guten Vorsätzen und so bettelarm an guten Werken. Du weißt es, o Herr, am besten, wie oft ich mich auf Menschentrost verlasse, ihn suche und hoffe, während ich nur den besten und reichsten, den Du für mich bereit hältst, hätte annehmen sollen. Du kennst meinen Unglauben und meine geringe Andacht in Stunden, worin sie nicht fehlen dürften. Und dieses kann alles nicht geändert werden als durch Dich, o Herr, mein Gott! Erbarmer, erlöse mich vom Leibe dieses Todes um Deines Sohnes willen nach, Deiner Gnade. Doch; Dein Wille geschehe in alle Ewigkeit! Amen.
Ich habe überhaupt erst ein Fünkchen vom Christentum seit April und Mai, wo mein Konfirmationsunterricht bei Wolters begann. Ich hörte in dieser Zeit evangelisches Christentum bei dem lieben Pastor und glaubte historisch. Sache meines Gemütes war es nur selten und in vorübergehenden Augenblicken. Das Ganze war eine tiefe Dämmerung. Ich las die Bibel nicht und auch keine theologischen Schriften. Dabei pochte ich gewaltig auf über die Würde und Wahrheit der Bibel, lernte hundert und einige Sprüche, die ich größtenteils nicht verstand, wusste weder, was Glauben noch was Gerechtigkeit und Hoffnung sei, sprach aber viel davon, als wenn ich es alles wüsste, disputierte in der Zeit viel darüber, hielt übrigens an im Gebet, wusste aber nicht im Geiste zum Erlöser zu beten.
Kampf gegen meine „Hauptsünde“: Es ist wahr, ich bin inwendig, wenn ich andern gegenüberstehe, stolz und bilde mir was darauf ein, dass ich demütig bin, und übe so den größten Stolz.
Nach dem Abendmahl: Gib mir Kraft, die Kräfte, die Du mir heute mitgeteilt, anzuwenden zum Kampf gegen das Gesetz in meinen Gliedern, gib, dass ich einst mit Paulus rufen kann: Ich lebe; aber doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. (Gal. 2,20).
In demselben Augenblick, in welchem man beleidigt wird, soll man dem anderen, der beleidigt, sogleich verzeihen, ihn recht herzlich lieb haben und für ihn beten. Mein Gott, das hab’ ich heute gekonnt, das hat Dein Geist gewirkt, dank Deiner Gnade!
Je mehr Erfahrungen wir machen, desto ärger setzt der Böse uns durch Zweifel zu, um uns nicht zu verlieren, aber Seine Gnade ist größer denn alles, der Herr ist über alles!
Nach kurzer Krankheit: Mein Gott, wie Du mich gestern hast fühlen lassen die Krankheit meines Körpers, so lass mich auch durch Deinen Geist die Schwachheit und Armut meines Geistes fühlen und merken. – Wie Du mich aber hast genesen lassen durch den Schlaf, von dem ich erfrischt wieder erwachte, so erlöse Du nun auch meine Seele, vom Übel, vom Tode, den ich täglich sterben soll, bis jener Tod kommt, von dem ich übergehe in des Geistes Klarheit, der mir Deine Vaterhand reicht und mich Deinem Heiligtum nahebringt.
Rechenschaft am Bußtag: Wie glaube ich?: Ich fange an, meinem Gott herzlich zu vertrauen und mich ihm kindlich zu ergeben, aber wie oft – ach, nur einzelne Stunden – so manche Stunde vergeht ohne Blick auf Ihn! Wie hoffe ich?: Wie wenig habe ich von der lebendigen Hoffnung, der Quelle der Freuden, die mich machen soll zum Erben jenes Reiches, das mein sein soll und ewig über den höchsten Stern hinaus geht. Wie liebe ich?: Wo wird hier die Liebe bleiben bei solchem Glauben und solcher Hoffnung?! O wirke nur erst„ dass ich sie recht erkenne inwendig an mir, wie Du mich geliebt, ehe noch keiner meiner Tage über uns war. Dich soll ich lieben - mein Ich liebe ich –; mit Dir soll ich Eins werden – Du weißt, wie oft ich Dich bitte und Dich spüre – eben bin ich bei Dir – nach einer Minute wieder tief in der Welt.
Die Auseinandersetzung des „Neuen Menschen“ mit der Welt.
Ich war stets mit glühendem Eifer für die eine Wahrheit eingetreten, die ich in dieser Zeit, da ich sie immer tiefer aus der Schrift erkannte, auch immer treuer festhielt und lauter verteidigte.
Ich befinde mich in einem großen Zwiespalt, wie das Christentum mit dem Leben zu vereinigen ist, was wir von unserer Eigentümlichkeit lassen und was wir abwerfen sollen. In der Theorie mag so etwas leichter scheinen, als es in Wahrheit ist.
Undenklich groß ist die Veränderung, die seit einem Vierteljahr in mir vorgegangen ist. Ich fühle kräftiger; dies mag manchem als Hitze oder als gemacht erscheinen; ich liebe mutiger und tätiger; Verstand und Herz sind in einem großen Wetteifer; der eine will dem anderen voraus; sie erliegen wechselseitig, bis sie zu jener schönen Harmonie kommen. O schöner Tag, wo das wird wahr werden! Wo dieser nur aus eigener Erfahrung erkennbare Zustand aufhört und beide gebunden durch das reinste Band Hand in Hand einhergehen. Die Hilfe von oben wird mir nicht fehlen.
Die Jünglingsseele gleicht allem Vergleichbaren, dem tobenden Meer und der friedlichen Heimat, dem heillosen Schwelger und dem frommen Heiligen! Nenne eine Freude, einen Schmerz, den seine Seele nicht empfindet, ehe der Jüngling sich entfaltet zum kräftigen, ruhigen, schauenden Mann!
O welche Welt geht einem mit der Kunst auf! Man schwindet betäubt zurück vor den heiligen Hallen dieser Werkstatt des menschlichen Geistes.
An Gottes Hand bin ich zu dieser und zu aller Freude gelangt, die einem .das Herz vor Wonne zerschmelzen möchte. Ich habe schon die unterste Stufe betreten, die zum weitesten Tempel führt. Ich liebe Gott und liebe die Brüder wie mich. Vater, das konntest nur Du geben.
Wenn ich dieses Jahr mit dem vorigen zusammenhalte, wo soll ich dann anfangen, Gottes Hand zu sehen und ihm zu danken! Vor einem Jahr fast gar keine jungen Freunde und von den alten durch äußere Lage gänzlich und schmerzlich getrennt. Jetzt eine Reihe innigster Freunde aus dem Verein und ein Kreis frommer, christlicher und dabei geistreicher, gelehrter und einflussreicher Männer – und das alles erkannt und in mein Herz geschrieben und recht beleuchtet durch das Licht des Evangeliums, das mir in meiner tiefen inneren Nacht Klarheit schenkt und mir den Weg zeigt.
Mein Freundeskreis: Unter dem Namen „Christlicher Verein“ sehen sich eine Reihe von Jünglingen, die, wenn auch im Leben auf das Verschiedenste verzweigt, in dem einen Punkte alle übereinstimmen: Jesus Christus, wahrer Gott und Mensch; da jeder das von dem anderen weiß, werden Gespräche der Art nur selten geführt. Die strengste Moralität, das regste Streben nach dem Besseren, dem Edlen im Leben, in Wissenschaft und Kunst, machen einen zum Mitgliede, zum Freund und Bruder. Dieses Bewusstsein hat Studierende, Kaufleute und Künstler zusammengeführt und soll sie für das ganze Leben zusammenhalten, wenn auch das äußere Schicksal noch so weit im Raume trennt.
Das Evangelium bilde den Mittelpunkt und Quellpunkt unseres Lebens, aber wir wollen uns hüten vor der Engigkeit der Herzen.
Es war ein Aufwachsen aus einer „tiefen Dämmerung“, wie der 18jährige es einmal in sein Tagebuch schreibt, ein Aufbrechen von tief in ihm liegenden Kräften. In geradliniger Folgerichtigkeit wuchs daraus eine immer fester werdende Bindung an Jesus Christus als seinen Heiland. Hinzu kommt im Jahre 1826 eine Begegnung mit Johannes Claudius, dem Sohn des Dichters Matthias Claudius, durch die er zu der Erkenntnis kommt, „dass wir einen Gott haben, der uns unaussprechlich liebt und heiligen will“. Nebenbei belegt er Vorlesungen am Akademischen Gymnasium und holt das Abitur nach. Dort begegnet er als Mitschüler einem seiner späteren Mitstreiter für die Belange der Inneren Mission, Clemens Theodor Perthes.
Hamburg vom Stintfang aus betrachtet
Durch seine Privatstunden kommt Johann Hinrich Wichern mit Familien in Verbindung, die der Romantik und der neu sich regenden Erweckungsfrömmigkeit zugetan sind. Bedeutende Persönlichkeiten Hamburgs nehmen sich des hochbegabten und gläubigen Gymnasiasten an. Im Stadtbibliothekar und Professor am akademischen Gymnasium Hartmann gewinnt der junge Wichern einen väterlichen Freund. Die edle, leidgeprüfte, große Künstlerin Luise Reichard, die Goethe und alle berühmten Romantiker in ihrem Vaterhaus kennengelernt hatte, eine Frau voller Glauben, vermittelt ihm eine Fülle von Anregungen. Im christlich-romantischen Jugendkreis der „Theebakklesia“, wie er ihn scherzhaft nennt, kommt man jeden Sonnabend abends von sieben Uhr an bei Brot und Bier zusammen, singt, musiziert, liest, schwärmt. In nächtlichen Bootsfahrten auf der Alster findet man romantischen Stimmungszauber. Junge Kaufleute, Studenten, Künstler sind sich hier eins in „Jesus Christus, wahrer Gott und Mensch“. Die neue Welt der Jugend tritt hier der noch vom religiösen Rationalismus beherrschten Welt des Alters gegenüber. Man protestiert nicht, doch gestaltet man sich seine eigene Welt. Aus diesem Kreis sind mehrere bedeutende Männer der romantischen Malerei und des öffentlichen Lebens hervorgegangen.
Im Januar 1826 tritt Wichern für ein reichliches Jahr als Hilfslehrer ins Pöseldorfsche Erziehungsinstitut, die Pluns’sche Private Lehranstalt ein. „Ich führte Aufsicht über ungezogene, durchtriebene Buben.“ Die pädagogische Begabung war früh auf ein fruchtbares Feld geraten. Mit Scharfblick und Intensität beobachtet er seine jungen Zöglinge. Er erkennt: „Beim Erziehen müssen wir uns selbst erziehen.“ Schon hier kündigt sich der geniale Erzieher an. Wöchentlich gibt er 23 Stunden Unterricht am Institut, zusätzlich sieben Privatstunden und hört sechs Stunden Kolleg am Akademischen Gymnasium, einer Zwischenstufe zwischen Johanneum und Universität. Nur vier Stunden bleiben nachts für den Schlaf. Oft klagt er über rasende Kopfschmerzen. In diesen Jahren beständiger Überanstrengung und Überreizung trägt Wicherns Gesundheit bleibende Schäden davon. In dieser Zeit legt er sein Tagbuch an, das uns in heiße innere Kämpfe hineinblicken lässt. Wichern ist eine leidenschaftliche Natur, schnell zum Jähzorn entflammt. In unermüdlichem Wahrheitsernst zügelt er seine Natur, und selbst die unscheinbarste Lebenserfahrung bezieht er auf Gott.
Neben seiner Erziehungstätigkeit bereitet er sich auf das Abitur vor: Sein Ziel ist ein Theologiestudium.