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Zur Gründung eines Rettungshauses
ОглавлениеWicherns Gedanken zur Gründung eines Rettungshauses
1949 ausgewählt und zusammengestellt von Ruth Färber
Heliand-Verlag Alfred Winter KG, Lüneburg
Wichern schreibt dazu:
Es Wissen leicht alle Hausgenossen, wie groß der Verfall des kirchlichen und christlichen Lebens überall und auch unter uns geworden ist. Ursachen davon sind nicht die Einwanderung reicher oder armer Flüchtlinge in unserer Stadt; ebenso wenig haben diesen Verfall verschuldet die schweren. Kriegszeiten, welche mit den Jahren 1813 und 1815 ein Ende nahmen, auch nicht die Sünden und Schanden, die mit diesen Kriegen, das Übel vermehrend, über einen großen Teil unserer Bevölkerung hereingebrochen sind. Die Ursache des Verfalls liegt tiefer; der Überdruss an Gottes Wort hatte reich und arm erfüllt, der Glaube war gewichen, und der Übermut des menschlichen Herzens meinte, wie allerwärts so auch unter uns, seiner nicht mehr zu bedürfen. So versiegte die lebendige Quelle, aus der die wahren Güter des Lebens geschöpft werden können, wie überall, so auch in unserer Mitte; die aufschießende Eitelkeit ließ den nüchternen Bürgersmann die Grenze seines Vermögens überschreiten; die Lust an der Welt und an den Dingen des Fleisches verdrängte die genugsam reiche, heilige Freude an Gottes Reich und dem neuen Wesen des Geistes; statt der Kirchen baute man allerlei Häuser der Lust, und diese füllten sich statt jener; der Bibel fing man an sich zu schämen, zuletzt vergaß man ihrer und mochte sie nicht mehr, denn sie strafte mit ihrem Worte die geschehenen Sünden und mit ihrem Geist die Gewissen über den verachteten oder vernachlässigten Schatz der Gnaden; die Hausväter unterließen es, ihre Häuser des Morgens und des Abends um das Wort Gottes zu versammeln; ohne Abend- und ohne Morgensegen wurde nunmehr der Tag begonnen und beschlossen; und was man im Hause in der Woche nicht mehr liebte, wie konnte man das in der Kirche am Sonntag suchen? An der Stelle der stillen häuslichen Freuden und Feste suchte nun jung und alt, die ersteren von den letzteren geleitet, den lauten, losen Jubel von Tanz und Spiel; die sogenannte Bildung des Scheins, ohne inneren Gehalt, übertünchte das immer .tiefer werdende Grab und betrog mit den Augen die Herzen, so dass man lange nicht ahnte und zum Teil noch nicht ahnt, was man eingebüßt und dem Götzen der Eitelkeit geopfert hat.
Aber ebenso gewiss dürfen die, welche solche Not erkennen, nicht müßig bleiben. Gerade als Glieder der Kirche, welche mit leiden, wenn ein Glied leidet, und als gute Bürger, denen das Beste der Vaterstadt am Herzen liegt, haben auch sie in ihrem Maße ihre Pflicht zu tun und dann den Erfolg dem Herrn zu überlassen. Diejenigen, an die jeder gern am ersten denkt, sind die Kinder. Wer hätte nicht die Kinder lieb? Wie lieb hat sie doch unser Gott! Hat er ihrer doch vor allen andern namentlich gedacht in seinem Gebot, wenn er spricht: „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren“, und wie große Verheißungen hat der Heiland den Kindern gegeben: Ihrer ist das Himmelreich, darum soll niemand ihnen wehren, in dasselbige einzugehen. Wer nicht umkehrt und wird wie die Kinder, der wird nicht in Sein Reich kommen. Sie heißen die „Krone der Alten“, der „Väter Freude“, eine „Gabe Gottes“, ein „Geschenk des Herrn“. Das ist der Kinder Preis aus Gottes Mund.
Wer mit Wort und Beispiel ihnen, den Kleinen, schadet, der kränkt nicht sie allein, sondern auch ihre Engel, ja Gott selber. Bedenk’ es Vater, Mutter, Lehrer, bedenk’ es, Freund und Bruder! Die Kleinen alle sind Erwählte der Liebe Gottes. So seien sie auch von uns erwählt und auch die Schwachen umschließe ein Bund der Liebe, über welchen sich Gott und seine Engel freuen!
In jener Stunde wurde der Gedanke zum ersten Mal laut – wie es so notwendig sei, in unserer Vaterstadt für Kinder eine solche Anstalt zu besitzen, in welcher Eltern, die es nicht selber vermögen, ihren Kindern eine christliche Erziehung zuteil werden lassen könnten.
Zum Namen „Rettungshaus“: Wir setzten in diesem Namen ein scharf ausgeprägtes Siegel auf das gehoffte Werk; nun konnte jeder wissen, dass in diesem Haus Christi Wort und Liebe regieren und die, welche darin wohnen, retten oder, wie es in der deutschen Bibel gewöhnlich heißt, selig machen sollte; denn diese beiden Worte besagen dasselbe. – Wer sich mit und durch Christum will retten, das heißt selig machen lassen, der verstand uns und versteht uns und wird uns verstehen und sich nicht für besser halten als andere Leute; ein solcher weiß, dass die ganze Kirche des Herrn ein großes Rettungshaus ist, in das alle Welt eingehen muss, wenn sie nicht verlorengehen will. „Rechte Christen“, wie Luther solche nennt, werden sich aber auch freuen, dass Kindern, wo es nicht in ihren eigenen Elternhäusern geschehen kann, Zufluchtstätten eröffnet werden, in denen sie eine Zeitlang, bis sie im Glauben stark geworden, um abermals mit Luther zu reden, „bewahrt werden vor jenen wilden Teufeln in Deutschlands Grenzen, nämlich Geiz, Wucher, Tyrannei, Unreinigkeit und- dem ganzen Heer der Untreue und Bosheit in Städten und Dörfern und über dem noch Verachtung des Wortes und unerhörter Undankbarkeit.“
Notwendige Voraussetzungen.
Der Stifter des Rauhen Hauses ist Jesus Christus. Der Stiftungstag bleibt demnach ein Gedächtnistag Seiner Liebe und Macht, mit der Er allen hilft, mit der Er auch uns geholfen hat.
Die innere Genesung und Rettung der einzelnen durch die Gnade Christi kraft seines Wortes, der Zweck der ganzen Anstalt. Es liegt in keiner Weise an unserem Wollen und Laufen, sondern an Gottes Gnade und Erbarmen und an der persönlichen Aneignung des dargebotenen Heils.
Finanzielle Unabhängigkeit von Staat und Kirche: Gerade die Armut und Freiheit der im Glauben begründeten Anstalten hat sie zur Sache nicht der einzelnen Kirchspiele, sondern der großen Gottesgemeinde und des Volks gemacht, aus deren Liebesreichtum die, welche nichts haben, doch viel oder genug empfangen, um andern reichlich auszuteilen.
Das etwaige Gefühl einer gewissen Unsicherheit aber, in welchem die Anstalt durch dieses Verhältnis sich auf lange oder vielleicht auf immer befinden wird, ist für die bei ihrem Bestehen vornehmlich Beteiligten ein treffliches Zuchtmittel, den Sinn immer aufs Unsichtbare und auf Den zu lenken, der selbst Vögel unter dem Himmel nährt und Lilien auf dem Felde kleidet, noch vielmehr also Seine Menschenkinder nicht verlassen wird, wenn sie wie Vögel auf den Zweigen wohnen. Unter solchen Umständen bleibt das Ganze der. Anstalt selbst in der gesegneten Armut, die reich ist an Tugenden des Geistes.
Solche Anstalt, wie die projektierte, muss so angelegt sein, dass erkannt werden kann: sie erfasse mit klarem Bewusstsein und mit heilender Übermacht die Grundbeziehungen des im Volke wirksamen Übels; und dies wird von den Kundigen anerkannt werden, sobald die Anstalt dem entstellten Volksleben gegenüber sich dergestalt organisiert, dass sie einerseits zu dem Falschen und Verderbten den möglichst reinen und scharfen Gegensatz darstellt, andererseits das in den Lebensverhältnissen des Volkes noch ruhende und unaustilgbare Gute und Echte mit Liebe und Achtung auffasst, in sich aufnimmt und möglichst rein zu entwickeln wenigstens imstande ist.
Von neuem hat sich bestätigt, dass um Rettungsanstalten her, worin der Geist Christi wohnt, keine Mauer die festeste Mauer sein wird; gerade dadurch scheint ein solches Institut befähigt, auch über seine örtlichen Grenzen hinaus die an sich ziehende, zusammenhaltende Macht eines Netzes zu verbreiten.
Das Rettungshaus ist das freie christliche Asyl, eine Frucht christlicher Barmherzigkeit, die als Ergänzung des christlichen Hauses diesem für seine sittlich am meisten gefährdeten oder schon schwer verletzten Glieder zu Hilfe kommt, um sie vom zeitlichen und ewigen Verderben mit der Kraft des Evangeliums zu erretten.'