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Urgrund der Diakonie

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„Denn wo Glaube ist, da wird aus ihm die Liebe geboren,

wie der Strahl der Sonne, wie die Wärme aus dem Feuer“

Rudolf Willborn schrieb 1981 in ‚Der weite Raum’:

Wer aus der Hamburger Innenstadt mit der Untergrundbahn nach Osten fährt, kommt zu einer Station mit dem Namen „Rauhes Haus“. Der diakonisch Kundige rekapituliert bei diesem Namen: „Brunnenstube der Inneren Mission“, „Rettungshaus für verwahrloste Kinder“, 1833, Wichern. Bei aller gebotenen Zurückhaltung könnte man nicht nur das Strohdachhaus in Hamburg-Horn, sondern die gesamte Heimatstadt Wicherns als Brunnenstube, Quellgrund oder eben ‚Untergrund’ der modernen Diakonie vorstellen. Hanseatisches Selbstbewusstsein und kommerzielle Nüchternheit, weltoffener Unternehmergeist und Sinn für das Machbare verbanden sich in dieser exklusiven Stadtrepublik mit der norddeutschen Variante der Erweckungsfrömmigkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem beachtlichen Aufbruch christlicher Initiative auf sozialem Gebiet. Er ist gekennzeichnet durch die Namen Johann W. Rautenberg, Amalie Sieveking, Elise Averdieck, Hinrich M. Sengelmann und – J. H. Wichern, den „Vater der Inneren Mission“. Sie alle waren in Denken und Tun unverkennbar bestimmt von dem, was Bischof Wölber als die eigene hamburgische Spielart der Spiritualität beschrieben hat: „Die noblen Hanseaten haben den Geist des Christentums aus anderen Wurzeln als denen der religiösen Erwärmung entfacht. Es war der Hamburger Bürger Johann Hinrich Wichern, ewiger Kandidat der Theologie, der 1848 durch eine zündende Stegreifrede auf dem Wittenberger Kirchentag mit einem Schlage dem christlichen Sozial- und Liebesdienst in moderner Weise zum Durchbruch verhalf. Seine Parole lautet: ‚Die Liebe gehört mir wie der Glaube.’ Dies begriff der Hamburger Bürgersinn.“ Aber Naumanns Charakterisierung erinnert nicht nur an hanseatischen Gemeinsinn, Stiftungen, Legate und Mäzenatentum, sondern auch an jenen ‚Untergrund’, den der junge Wichern meinte, als er in seinen Aufzeichnungen über „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ seine Beobachtungen von der schreienden Armut in den Arbeiterwohnvierteln der Hansestadt, z. B. dem sogenannten „Gängeviertel“ und der Matrosenvorstadt St. Pauli festhielt. Der Hinweis auf den weltstädtischen Bürgersinn der Hansestädter beleuchtet nur die eine Hälfte des Untergrundes, aus dem das Wirken dieser Pioniere der Diakonie hervorging. Die andere Hälfte der Wahrheit war das Elend der von der bürgerlichen Gesellschaft im Stich gelassenen Proletarier und der verwahrlosten Proletarierkinder in den schnell wachsenden Arbeitervorstädten. Als Oberlehrer der von Kirche und Staat gleichermaßen beargwöhnten und sogar polizeilich kontrollierten Rautenberg’schen Sonntagsschule gewann der 25jährige Wichern aus erster Hand Einblick in die Abgründe einer Elendswelt, wie sie außer in dem großen Seehafen Hamburg in Deutschland so wohl kaum zu finden war – damals ein Mikrokosmos der industriellen Zukunft Deutschlands. Viele Hamburger Bürger erfuhren erst durch die Reden Wicherns vor Hunderten von eingeladenen Zuhörern im großen Tanzsaal des Schneideramtshauses am 25. Februar 1833 und während der Gründungsversammlung des Rauhen Hauses in der Hamburger Börsenhalle am 12. September 1833 etwas von dieser unheimlichen Nachtseite ihrer stolzen und reichen Stadt. Was Wichern gesehen hatte, war die schmutzige Realität dessen, was in den Geschichtslehrbüchern „die soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts genannt wird. Es waren Bilder, wie sie uns heute als unbewältigte Gegenwart in Berichten aus Asien, Afrika und Südamerika entgegentreten. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Hunger, Krankheit und frühe Invalidität, Alkoholismus. Prostitution Minderjähriger, Verwahrlosung und sittliche Verrohung, Auflösung von Ehe und Familie waren die äußeren Kennzeichen der hoffnungslosen, völlig ungesicherten Existenz ständig wachsender Massen von Tagelöhnern, Handwerken und Arbeitern. Wichern wusste aus eigener Kindheitserfahrung, dass mit dem sozialen Elend das seelische Elend einherging. Erst Bewusstsein des Ausgestoßenseins aus der bürgerlichen Gesellschaft macht den Armen zum Proletarier. Wichern war sich auch bewusst, dass die soziale und seelische Not ein Massenproblem war, dem sich die Kirche mit neuen Arbeitsmethoden zu stellen hatte. Den katastrophalen Folgen der industriellen Revolution in den Städten und der Strukturveränderung auf dem Lande war mit individueller karitativer Einzelfallhilfe allein nicht beizukommen. Zur helfenden, erbarmenden, rettenden Liebe musste die gestaltende, vorsorgende Liebe hinzukommen. Das Rauhe Haus als Rettungsanstalt der heimatlosen Kinder und als erste Ausbildungsstätte für Diakone war nur ein kleiner Teil dessen, was die geistliche und leibliche Not des Volkes erforderte. Trotzdem wurde das Rauhe Haus das „einflussreichste soziale Unternehmen im protestantischen Deutschland“ und ein bleibendes Symbol für die Weltverantwortung des christlichen Glaubens.

Wichern war kein Sozialreformer im heutigen Sinn. Trotzdem ist sein Name aus der deutschen Sozialgeschichte und aus der Auseinandersetzung zwischen christlichem Sozialismus und radikalem, klassenkämpferischem Sozialismus nicht wegzudenken. „Es ist der dringende, unabweisbare, heutige Beruf der Kirche, sich des Proletariats in seinem tiefsten Grunde anzunehmen“, schreibt Wichern im August 1848 in einem Artikel über „den Kommunismus und die Hilfe gegen ihn“. Kurze Zeit später rief er den 500 auf dem Kirchentag in Wittenberg Versammelten zu: „Die innere Mission hat es jetzt schlechterdings mit der Politik zu tun.“ In den vorangegangenen Monaten war in fast allen europäischen Hauptstädten und auch in Berlin die Revolution ausgebrochen. Im Februar 1848 war das von Marx und Engels verfasste „Kommunistische Manifest“ herausgekommen mit seinem Kampfruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Moderne Kritiker werfen Wichern vor, er habe sich nach 1848 zum willigen Werkzeug der preußischen Restauration gegen die demokratische Revolution machen lassen. Den meisten seiner kirchlichen Zeitgenossen – unter ihnen besonders den norddeutschen Lutheranern – war er dagegen eher zu revolutionär, zu ökumenisch und zu wenig kirchlich. Man betrachtete die Innere Mission als ein „Schlinggewächs an Stamm und Asten des Kirchenbaumes“ und lehnte es ab, die „Arbeiterfrage“ als eine Aufgabe der Kirche zu betrachten. „Die Verhältnisse des Arbeiterstandes zu ändern, steht in keines Menschen Macht“, schrieb 1849 der Hannoveraner Pastor Petri, einer der Hauptkritiker der Inneren Mission Wicherns.

Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts ist kein Thema der Vergangenheit. Sie ist heute brisanter denn je, denn sie hat weltweite Ausmaße angenommen und ist zu einer Bedrohung der Menschheit geworden. Ohne soziale Gerechtigkeit kann es keinen Weltfrieden geben. Nationalökonomie und staatliche Lenkung allein können die Probleme auch nicht lösen. Es ist an der Zeit, den Prinzipien ethischer Wertorientierung, dem vom Glauben geschärften Gewissen auch in den Fragen der Weltwirtschaft den ihnen gebührenden Platz einzuräumen. Nicht von ungefähr richten heute Politiker solche Erwartungen an die Adresse der Kirchen. Kirche und Theologie der Gegenwart, nicht nur die Experten der Diakonie, täten gut daran, sich intensiver mit dem geistigen Lebenswerk J. H. Wicherns kritisch auseinanderzusetzen, um die aktuelle Diskussion um den Weltfrieden sachgerechter, d. h. theologischer führen zu können.


Als Wichern am 22. September 1848 auf dem Kirchentag in Wittenberg in der Schlosskirche seine Stegreifrede hielt und zur inneren Mission in Deutschland aufrief, um die Not vieler Menschen zu lindern, die durch die industrielle Revolution verarmt waren und unter Hungersnot durch Missernten litten, hatten bereits um die Jahreswende 1847/48 Karl Marx und Friedrich Engels im Auftrag des Bundes der Kommunisten das „Manifest der Kommunistischen Partei“ verfasst. Wichern rief zur inneren Mission und zur Barmherzigkeit auf, Marx und Engels forderten statt Barmherzigkeit Gerechtigkeit und zu ihrer Verwirklichung den „gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“. „Mögen die herrschenden Klassen vor der kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ Die Geschichte hat gezeigt, dass das kommunistische Programm am menschlichen Unvermögen scheiterte, weil es unter den Gleichen immer ‚Gleichere’ gab, die in der Diktatur des Proletariats ihre Position für sich persönlich zu nutzen wussten. Auch Wichern verzweifelte letztlich daran, dass sein Entwurf eines Programms der inneren Mission zur Überwindung der sozialen Probleme nicht nach seinen Wünschen durchzusetzen war.

Aus heutiger Sicht war Wichern ein Konservativer. Aus der Sicht seiner sozialistischen Gegenspieler galt er auch damals bereits als konservativ oder gar reaktionär. Aber für die Kirche seiner Zeit und das ‚erweckte’ christliche Bürgertum war er damals ein Herold und seine Ideen und Taten revolutionär. Für die evangelischen Kirchen in Deutschland und anderen Ländern war er der Bahnbrecher diakonischen Denkens und Handelns, und auch in der Reformpädagogik, im Strafvollzug und in Sozialarbeit und Sozialpolitik hat er bis heute bleibende Spuren hinterlassen.

Wicherns Sprache ist uns heute etwas fremd und nicht immer leicht verständlich, seine Schriften, besonders die Handschriften nur schwer zu lesen, aber seine Zeitgenossen hat er damit wachgerüttelt.


Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit

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