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2.1.2Biblische Ursprünge und Maßstäbe
ОглавлениеDie Bibel in der Seelsorge
Es gibt drei zu unterscheidende Beziehungsmöglichkeiten zwischen Bibel und Seelsorge: Seelsorge der Bibel, Seelsorge mit der Bibel und Seelsorge in der Bibel. Nur der dritte Aspekt gehört streng genommen in die historische Poimenik und wird uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. Mit den anderen beiden Formulierungen soll die fundamentale Bedeutung der Bibel für die Seelsorge zum Ausdruck gebracht werden. Dazu soll an dieser Stelle schon so viel gesagt werden:
Grundlegend für ein theologisches Verständnis von Seelsorge ist, dass das Zeugnis des Alten und Neuen Testaments im Ganzen als Urkunde von der Seelsorge Gottes an den Menschen verstanden wird. In dem Sinne sprechen wir von der Seelsorge der Bibel. Gott ist ein seelsorglicher Gott, der Israel durch die Höhen und Tiefen seiner Geschichte führt (Ex 20,2f.) und der in Jesus Christus seine Liebe zu allen Menschen offenbar gemacht hat (Joh 3,16). Ihn bezeugt die Bibel in unterschiedlichen Variationen von ihrer ersten bis zu ihrer letzten Seite. Seine Zuwendung zur Welt und zum einzelnen Menschen ist Ausgangs- und Zielpunkt evangelischer Seelsorgelehre.
Gottes liebendes Wesen und sein menschenfreundliches Handeln – das ist die Seelsorge vor aller Seelsorge. Sein Wille, „dass allen Menschen geholfen werde“ (1 Tim 2,4), ermöglicht Seelsorge im theologischen Sinne.
Die „Seelsorge der Bibel“ gehört in den Zusammenhang der Theologie der Seelsorge und muss dann an ihrem Ort noch einmal aufgenommen werden. Dagegen hat es die Seelsorge mit der Bibel viel stärker mit der Praxis der Seelsorge zu tun. Deshalb mögen auch hier ein paar erste Hinweise genügen:
Die Bibel ist auch in praktischer Hinsicht ein seelsorgliches Buch von Anfang bis Ende. Es gilt immer wieder, sie als ein Reservoir von Texten für die Seelsorge zu entdecken. Zu denken ist hier vor allem an die bedeutende Rolle, welche die Psalmen für das Glaubensleben der Gemeinde und der Einzelnen spielten und noch spielen. Sie sind neben anderen Texten ganz besonders so etwas wie eine „Sprachhilfe des Glaubens“5 – gerade für die Not- und Krisenzeiten des Lebens, aber auch zur Artikulation von Dankbarkeit und Freude. Im Alten Testament haben das Buch Hiob wie Texte aus der weisheitlichen Tradition und aus Jesaja und Jeremia besondere Bedeutung als seelsorgliche Ausdruckshilfen.
Eine Seelsorge mit der Bibel geschieht nicht primär über Auslegung oder Verkündigung, sondern so, dass ein Text zum rechten Zeitpunkt (Kairos!) in eine konkrete Situation hineingesprochen wird. Viele Texte des Neuen Testaments, vorab die Bergpredigt Jesu (Mt 5–7), die Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 14–17), einzelne Briefabschnitte wie etwa aus dem Römer- und dem 2. Korintherbrief vermögen in der gegebenen Situation eine ganz unmittelbare seelsorgliche Wirkung zu erzielen. Biblische Texte können dann eine Sprachebene anbieten, auf der einerseits die konkrete Befindlichkeit eines Menschen „eingelesen“ werden kann und von der aus andererseits der Horizont so erweitert wird, dass er neue Lebenseinsichten, Hoffnungen und Lebensperspektiven erschließen hilft.6 Es ist eine wichtige Aufgabe und es hat einen guten Sinn, wenn heute Poimeniker versuchen, die Bibel stärker für die Seelsorge ins Gespräch zu bringen.7
Methodisch sind dafür unterschiedliche Möglichkeiten denkbar. Neben dem Bibelzitat im Gespräch oder dem betenden Mitvollzug wäre an die verschiedenen Spielarten eines eher meditativen Textzugangs8 zu denken. Aber auch verschiedene Formen erlebnisnaher Bibelarbeit9 bis hin zum Bibliodrama10 kommen hier in Betracht. Stets geht es darum, einen biblischen Text möglichst unmittelbar für die Bewältigung einer aktuellen Situation des Einzelnen oder einer Gruppe zu gewinnen und ihn dafür fruchtbar werden zu lassen. Dass die Seelsorge mit der Bibel theologischer Sorgfalt und Verantwortlichkeit bedarf, versteht sich von selbst. Texte dürfen nicht gegen ihren ursprünglichen Sinn verwendet werden. Ich muss mir als Seelsorger darüber im Klaren sein, dass kein Text der Bibel auf ein heute bestehendes Problem unmittelbar reagiert. Aber es gibt doch analoge Situationen zwischen damals und heute (z.B. Erfahrungen von Krankheit und Anfechtung, von Unrecht und Schuld, von Traurigkeit und Zweifel), die es durchaus nahe legen, einen ‚alten‘ Text auf eine gegenwärtige Konfliktlage zu beziehen. Für die seelsorgliche Arbeit mit der Bibel ist hermeneutisches Bewusstsein notwendig, das die historische Differenz nicht biblizistisch negiert. Sonst kommt es leicht zu Trugschlüssen und Enttäuschungen. Freilich sollte der notwendige Respekt gegenüber historisch-kritischer Auslegungsarbeit nicht zum Verzicht auf biblische Sprache in der Seelsorge führen, sondern zu angemessenen Gebrauch inspirieren.
Seelsorge in der Bibel
Im Zusammenhang der Seelsorgegeschichte geht es nun natürlich vor allem um die Seelsorge in der Bibel. Findet sich in den Schriften des Alten und Neuen Testaments der Niederschlag einer kommunikativen Praxis, die wir Seelsorge nennen könnten? Es ist nicht leicht, darauf eine im historischen Sinne exakte Auskunft zu geben.11
Zum einen muss eingeräumt werden, dass es uns heute nicht möglich ist, eine seelsorgliche Praxis Jesu oder der Apostel zu rekonstruieren. Die Texte, auf die wir uns dabei stützen könnten, haben eben kein historisches, sondern ein verkündigendes Interesse. Und wenn sie, wie etwa Lukas in der Apostelgeschichte, die Praxis der Gemeinde beschreiben, dann primär im missionarischen oder kerygmatischen Interesse. Allenfalls indirekt sind Rückschlüsse denkbar. Mehr als Fragmente seelsorglicher Praxis werden dabei nicht zu Tage treten.
Zum andern muss man sich bei der historischen Rückfrage klar machen, wonach eigentlich gefragt werden soll. Die Gefahr, ein modernes – sei es therapeutisches, sei es evangelikales, sei es kerygmatisches – Seelsorgekonzept in die biblischen Texte einfach hineinzuprojizieren, ist ziemlich groß. Es macht sich gut, die eigene Sicht als die „biblische“ zu adeln. Nicht selten hat aber das, was als „biblische Seelsorge“ firmiert, mit der jesuanischen oder urchristlichen Praxis – jedenfalls historisch – nur sehr wenig zu tun.
Fragen wir nach der Seelsorge in der Bibel, dann ist es wichtig, zuerst einmal festzulegen, was in diesem Fragezusammenhang unter Seelsorge verstanden werden soll. Es ist klar, dass hier nur ein verhältnismäßig formaler Seelsorgebegriff in Betracht kommt. Nur er kann vor den projektiven Fallen schützen. Man kann einen solchen formalen Seelsorgebegriff so beschreiben: Es geht um einen kommunikativen Vorgang zwischenmenschlicher Hilfe mit dem Ziel einer konkreten Stärkung und Hilfe für Glauben und Leben. Dieses Geschehen vollzieht sich in der Regel zwischen zwei Menschen, einem zur Hilfe bereiten Akteur und einem der Hilfe bedürftigen Rezipienten. Die regelhafte Rollenzuweisung sollte nicht im Sinne einer Rollenfixierung verstanden werden.
Eine ganze Reihe von Verben im Alten und Neuen Testament weisen nun tatsächlich auf solche seelsorglichen Vorgänge hin. Das Wort „Seelsorge“ selbst oder ein entsprechendes Verbum fehlt in den biblischen Schriften. Aber es gibt doch eine Reihe von sprachlichen Äquivalenten, wobei wir wiederum Acht haben müssen, sie zu schnell in einer etwa pastoralpsychologisch gefärbten Bedeutung zu vereinnahmen: trösten (Hiob 2,11; Jer 31,15; Mt 5,4; 2 Kor 1,3f.); ermahnen (Röm 12, 1.8; 2 Kor 6,1; 1 Thess 5,11); einen Weg weisen (1 Kor 12,31); weiden (Joh 21,15ff.), sich des andern annehmen (Röm 12,13), zurechthelfen (Gal 6,1); helfen (1 Kor 12,28); barmherzig sein (Lk 6,36, Kol 3,12; Lk 15,10). Viele dieser Wörter, die für sich selbst und in ihrem Kontext in eine seelsorgliche Richtung weisen, haben im biblischen Sprachgebrauch ihre Eigentümlichkeit darin, dass zuerst – im theologisch-qualitativen Sinn – Gott oder Christus ihr Subjekt bildet: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). Jahwe ist der Tröster (Jes 40,1; Ps 73,1; Jes 66,13; 2 Kor 3,1ff.) und Christus ist der wahre Hirte (Joh 10, 1–17; 1 Petr 2,25). Von ihm geht das heilende Erbarmen aus (Mk 9,36). Schon so weist die biblische Tradition auf den wahren Grund aller „Seelsorge“, der unter keinen Umständen aus den Augen verloren werden darf.
Im Folgenden sollen einige Einzelaspekte von „Seelsorge“ in der Bibel hervorgehoben werden. Dabei ist keineswegs Vollständigkeit angestrebt. Der oben dargelegte formale Seelsorgebegriff ist dabei auswahlleitend:
1. Im Alten Testament entspricht das Wirken der „Weisen“ wohl am ehesten dem, was wir unter seelsorglicher Arbeit verstehen: „Während man den Priester um der Tora (Weisung) und den Propheten um des Dabar (Wort) willen aufsucht, geht man zum Weisen, um Eza (Rat) zu empfangen (Vgl. Jer 18,18)“12. In der Weisheit geht es ähnlich wie in der Seelsorge um die „Sensibilisierung für Erfahrungen mit Gott und den Menschen.“13 Unsere modernen vor allem subjekttheoretisch begründeten Probleme mit einer einseitig auf „Rat geben“ orientierten Seelsorge dürfen wir in dieses biblische Modell freilich nicht eintragen.
Natürlich sollte seelsorgliches Handeln im Alten Testament nicht auf die weisheitliche Wirksamkeit reduziert werden. So darf man, um wenigstens noch ein weiteres Beispiel zu nennen, das Buch Hiob „mutatis mutandis als seelsorgliches Reflexionsmodell“14 erkennen. Seelsorgeerfahrungen, gerade auch solche fragwürdiger Art (Hiobs Freunde!), werden hier reflektiert, und dadurch entsteht im Grunde eine neue Form seelsorglicher Kommunikation. So hat gerade das Buch Hiob immer wieder – gleichsam als seelsorglicher Akteur sui generis – seelsorglich auf Menschen gewirkt, die sich in großer Leibes- und Seelennot befinden.
Auch hinter den Psalmen dürften Erfahrungen seelsorglicher Praxis ebenso verborgen sein wie bei manchen prophetischen Texten. Vielfach sind die kommunikativen Strukturen noch gut erkennbar, die die Texte als seelsorglich ausweisen (etwa Ps 25; 139; Jes 40,26–31; Hiob 38ff.).
2. Schnell sind wir bereit, Jesu Verhalten zu seinen Mitmenschen in Not als das Urbild für Seelsorge überhaupt anzusehen. Aber wie nah wir wirklich an den historischen Jesus herankommen, ist eine offene Frage. Mir leuchtet ein, wenn Gerd Theißen Jesus als einen „Charismatiker“ charakterisiert. Das bedeutet auch, dass seine „Seelsorge“ nicht ohne weiteres vergleichbar ist. „Jesus war ein Charismatiker, von dem eine schwer erklärbare Ausstrahlungskraft ausging, faszinierend für Anhänger, irritierend für Gegner.“15 Seine Fähigkeit, „unkonventionelle Werte und Verhaltensweisen vertreten zu können“16, mag als Voraussetzung für eine Seelsorge interpretiert werden, die dem anderen Freiheit lässt und Raum gewährt. Jesu heilende Begegnungen mit den Unterprivilegierten und Stigmatisierten in der Gesellschaft, mit den „Sündern“ und „Zöllnern“, mit den Kranken und mit den Frauen ist der beredte Ausdruck dafür. Es ist darin eine seelsorgliche Grundhaltung17 zu erkennen, die Jesus selbst wohl charismatisch umsetzte, die aber doch auch einen Maßstab setzte für ein Verhalten aller derer, die in seiner Jüngerschaft leben wollen. „Sehet zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet“ (Mt 18,10; Vgl. 18,2ff.) – das zeigt die Richtung an, in welche die seelsorgliche Aufmerksamkeit in der Nachfolge Jesu gelenkt werden sollte. Es dürfte zugleich so etwas wie der Kanon jeder Seelsorge in seinem Namen sein.
3. Ein wichtiger Zugang zur seelsorglichen Praxis Jesu könnte über die Gleichnisse in den synoptischen Evangelien gelingen. Wenn man diese Texte nicht aus ihrem Kontext herauslöst, sondern sie als Kommunikationsvorgänge zwischen Jesus und seinen Hörern begreift, dann erschließen sie sich als heilendes Wort in eine ganz konkrete Fragesituation hinein. Christoph Kähler hat an einzelnen Elementen des kommunikativen Geschehens der Gleichniserzählung dessen „therapeutische“ Momente herausgearbeitet.18 Natürlich ist bei dem Begriff „Therapie“ nicht an gegenwärtige professionelle therapeutische settings zu denken. Aber die Gleichnisse verfolgen doch einen „lebensorientierenden Zweck“, sie nehmen typische „Lebensängste“ auf (Ungerechtigkeit, Verlust, Schuld, Wucher, Trennung, Verlorenheit des „Kleinen“ u.a.), und sie fordern unter dem Medium bildhafter Rede die Hörer dazu heraus, „den Anfangsimpuls Jesu aufzunehmen“19. Darin gewinnt das kommunikative Handeln im Kontext der Gleichnisrede therapeutische und so auch seelsorgliche Qualität.
4. Auch in anderen Begegnungserzählungen Jesu sind deutlich die Strukturen eines seelsorglichen Kommunikationsprozesses erkennbar. Die Anzahl der in Frage kommenden Texte erweitert sich noch einmal, wenn man die seelsorgliche Kommunikation nicht auf ein Verbalgeschehen und nicht nur auf die Behandlung „seelischer“ Krisen eingrenzt. So ist hier besonders an die Krankenheilungen Jesu zu denken, in denen es eben nicht nur um Wunderberichte mit einem gewissen kerygmatischen Erbauungswert geht. Sie sind vielmehr zu interpretieren als ein interaktives Geschehen im Spannungsfeld von Wahrnehmung der Situation, Ernstnehmen des Leidens, Akzeptation der Person, Herausforderung zu eigenem Handeln und Heilserfahrung durch Zuspruch und Heilung. Das sind Grundelemente eines seelsorglichen Kommunikationsprozesses. So viel lässt sich mit Sicherheit sagen.
Aber es kann nicht darum gehen zu sagen: so und so hat Jesus Seelsorge geübt. Dafür wissen wir zu wenig, und wir müssten dann auch sehr viel genauer unterscheiden, auf welcher Ebene der Überlieferung (historischer Jesus, synoptische Tradition usw.) wir uns jeweils befinden. Aber wir können Kommunikationsstrukturen erkennen, die mit dem, was wir heute unter Seelsorge verstehen, eine Menge gemeinsam haben.20
5. Vermutlich sind die Briefe im Neuen Testament – vorab die des Paulus – die historisch zuverlässigste Dokumentation von geschehener Seelsorge im Urchristentum. Roland Gebauer hat dies durch detaillierte Nachzeichnung der kontextuellen Bedingungen für die paulinischen Briefe und die in ihnen zu beobachtenden Argumentationsstrukturen exegetisch untermauert.21 Die paulinische Form der Seelsorge ist sehr konkret und oft atemberaubend nah am Lebensnerv der Adressaten. Sie ist sehr stark gemeindebezogen, und sie ist eindeutig vom apostolischen Verkündigungsauftrag her geprägt (1 Kor 9, 16.23). Das hat jedenfalls bei Paulus zur Folge, dass die seelsorgliche Beziehung, wie sie sich im Briefvorgang darstellt, eine ziemliche Asymmetrie aufweist. Die Briefseelsorge des Paulus ist in einem hohen Maße autoritätsbetont (z.B. 1 Kor 4,14ff.) und sie bedient sich einer ausgesprochen direktiven Methodik.22 Man lese unter diesem Gesichtspunkt nur einmal das siebente Kapitel des 1 .Korintherbriefs. Die Gefahr, hier anachronistisch zu urteilen, muss erkannt werden, man darf Paulus in seinen Briefen nicht an den Maßstäben der Rogers-Schule messen. Aber man darf seine seelsorgliche Haltung ebenso wenig zur methodischen Norm für heutige Seelsorgepraxis erheben. Wenn man sich über beides im Klaren ist, dann bleibt, dass wir es in den paulinischen Briefen mit sehr lebendigen, aber keineswegs unumstrittenen Seelsorgeprozessen zu tun haben?23
6. Schließlich wäre nun hinzuweisen auf seelsorgliche Beziehungen der Gemeinden und Gemeindeglieder untereinander. Es ist zunächst ganz unverkennbar, dass das Leben in der Nachfolge Jesu in der gesamten neutestamentlichen Überlieferung ein seelsorgliches Beziehungsklima untereinander einschließt (Lk 9,48; Mt 10,43f.; Joh 13,14ff.; 15,12; Apg 2,42ff.). Das geschwisterliche Leben miteinander ist jedoch nicht selbstzwecklich; die konkrete Zuwendung zu Menschen, die bedürftig sind, darf nicht an den Grenzen der Gemeinde enden (Mt 11,28; 25,40; 1 Tim 2,4). Es ist nicht sehr sinnvoll, den Seelsorgebegriff so weit zu fassen, dass er alle Weisen des Sich-einander-Zuwendens einschließt und praktisch zum Äquivalent für die Liebe wird. Die Frage ist, ob es in den urchristlichen Gemeinden auch eine spezifische seelsorgliche Praxis gibt, die in etwa unserer formalen Strukturbeschreibung entspricht24. In 1 Thess 5,12–15 bittet der Apostel die Gemeinde um die Aktivierung ihres seelsorglichen Potenzials. Es scheint dort Gemeindeglieder zu geben, die in besonderer Weise seelsorgliche Aufgaben wahrnehmen (V. 12: „die an euch arbeiten“), und es werden spezifische Zielgruppen seelsorglichen Handelns erwähnt (V. 14: „Unordentliche“, „Kleinmütige“, „Schwache“). Auch an anderen Stellen spricht Paulus die Gemeinde auf sehr konkrete seelsorgliche Vollzüge hin an (2 Kor 2,5–11; Röm 12,12ff.). Von daher jedoch darauf zu schließen, dass es in den paulinischen Gemeinden bereits eine institutionalisierte Form von Seelsorge gab, wäre sehr gewagt.
7. Es scheint so, dass sich in den urchristlichen Gemeinden besonders mit dem Ältestenamt unterschiedliche seelsorgliche Funktionen und Erwartungen verbanden (Apg 14,22; 15,36f.).25 Ein praktisches Beispiel von Ältestenseelsorge im speziellen Fall der Kranken- und Sterbendenbegleitung wird in Jak 5, 14ff. geschildert: Es ist allerdings nicht klar, wieweit dieses Beispiel für die zweite und dritte Generation schon repräsentativ ist.
Im Ganzen muss man wohl davon ausgehen, dass für die Funktionsträger in der Gemeinde der Dienst an Lehre und Verkündigung einen Primat hatte, und dass alle seelsorgliche Verpflichtung und auch alle seelsorgliche Praxis darauf bezogen war.