Читать книгу Zerrissen - Das Böse in mir - J.S. Ranket - Страница 3
Prolog
ОглавлениеLisa liebte Zahlen. Und Lisa liebte die Mathematik. Aber bei der heutigen Vorlesung in Stochastik wurde ihr fast schwindelig. Dabei war die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten eigentlich ihr Steckenpferd. Das, was dem normalen Menschen Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte bereitete, offenbarte sich ihr mit kristallener Klarheit. Doch irgendwie schaffte sie es heute nicht, dass sogenannte Ziegenproblem in eine Formel zu fassen.
Vielleicht lag das aber auch daran, dass sie am Wochenende ihren Körper mit ein bisschen Alkohol, ein ganz klein wenig Gras und hemmungslosem Vögeln überfordert hatte. Denn anders konnte sie sich ihren Blackout an der Uni nicht erklären.
Hatte der Kandidat einer Spielshow nämlich die Wahl zwischen drei Toren, hinter denen bei zweien lediglich eine Ziege versteckt war, bei dem anderen jedoch ein Auto, so hatte er eine Ein-Drittel-Chance auf den Hauptgewinn, wenn er sich für irgendein Tor entschied.
Außer er mochte Ziegen.
Wurde jetzt durch den Moderator ein anderes Ziegentor geöffnet, so stieg seine Chance automatisch auf zwei Drittel, wenn er das Tor wechselte. Das war doch eigentlich völlig logisch, oder?
Jedenfalls hatte der Mann, der einige Meter die Straße hinunter versuchte, einen Tisch in einen Transporter zu laden, null Chancen, das Ding hineinzubekommen. Denn sein Arm steckte in einen Verband, der dazu diente, die Schulter nach einer Verletzung oder Operation ruhigzustellen. Auch wenn er zwei Holzplanken in die offene Tür gelegt hatte, auf denen er den Tisch schieben konnte, blieb er ständig an der Kante hängen.
„Damit sollten Sie wirklich nicht selbst fahren“, stellte Lisa mit einem besorgten Blick auf den Verband fest, als sie neben ihm kurz stehen blieb.
„Das geht schon“, grinste der Mann zurück. „Ist eh ein Automatik.“
Er wirkte ein wenig deplatziert. So, als hätte er sich irgendwie verkleidet. Aber er hatte ein freundliches Gesicht.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, bot Lisa an.
„Das Ding hängt nur da an der Kante.“ Der Mann deutete mit einem dankbaren Lächeln auf die Tür. „Sie brauchen ihn nur ein bisschen anheben, wenn ich schiebe.“
Lisa ließ ihre Tasche neben sich plumpsen und packte die Tischplatte. Plötzlich zog sie mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Hand zurück. Sie hatte sich an etwas Spitzem gestochen, das in dem Holz steckte.
„Oh, sorry“, murmelte der Mann betroffen, „da stand bestimmt ein kleiner Splitter davon.“ „Warten Sie, ich hole Ihnen ein Pflaster.“
„Halb so schlimm“, wiegelte Lisa ab, während sie sich hastig einen Blutstropfen vom Finger leckte.
„Ich bestehe darauf“, entgegnete der Mann. „Sonst infiziert sich das noch und ich bin schuld.“
„Meinetwegen“, willigte Lisa ein.
Sie setzte sich in die Tür und beobachtete den Verkehr, der auf der Straße langsam an ihr vorbeirollte. Irgendwie war sie noch immer ganz schön fertig, nur konnten das eigentlich keine Nachwirkungen des heißen Wochenendes mehr sein. Vielleicht musste sie sich nur mal ein Stündchen aufs Ohr legen. Scheiß auf das Pflaster! Doch sie schaffte es einfach nicht, aufzustehen.
Im Gegenteil.
Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei, und ihr Kopf begann sich zu drehen wie ein Brummkreisel. Dann wurde sie von einer unsichtbaren Hand in den Laderaum gezogen.