Читать книгу Die nächste Generation - Jule Beatsch - Страница 15
ОглавлениеKeep The Streets Empty For Me
(Karin Dreijer, 2009)
„Folgen Sie dem Straßenverlauf auf der Oak Street noch 400 Meter, anschließend biegen sie rechts ab", schnarrte das moderne Navi in Mr. Mitchells Jeep und verkündete somit die baldige Ankunft des ungleichen Pärchens. Seufzend ließ Clementine sich zurück in den schwarzen Ledersitz fallen, der sie sanft auffing und sie noch müder machte als sie sowieso schon war. Seit beinahe fünf Stunden waren sie schon auf dem Weg zu dem mysteriösen Jungen, der ja der Sohn eines Erzengels sein sollte, doch so richtig sich etwas darunter vorstellen konnte Clementine nicht.
„Dieser Verkehr macht einen ja richtig blöd im Kopf", murmelte Mr. Mitchell mit einem tiefen Atemzug, umklammerte das Lenkrad etwas fester und steckte seine ganze Ungeduld in seinen sowieso schon gewöhnungsbedürftigen Fahrstil. Clementine wurde prompt fest in den Sitz gedrückt und hatte das Gefühl, sich auf einer wilden Achterbahnfahrt durch eine Riesenstadt zu befinden.
„Wieso fahren wir eigentlich direkt durch Vancouver und nehmen nicht einer der vielen Umgehungsstraßen auf dem Land, das würde doch viel schneller gehen oder nicht?", japste das blonde Mädchen und krallte sich am Kopfteil ihres Vordersitzes fest, um nicht endgültig den Halt zu verlieren. Der ältere Mann warf einen prüfenden und neckischen Blick in den Rückspiegel und grinste sie verschmitzt an:
„Nein Sonnenschein, dass hätte viel zu lange gedauert und außerdem fahren die auf dem Land noch mehr wie die größten Idioten. Das hier ist im Vergleich dazu total harmlos“, berichtete er ihr beiläufig und setzte seine schwarze abgedunkelte Sonnenbrille wieder auf, sodass sein Blick erneut komplett verdeckt war.
„Sie befinden sich nun auf der Summit Ave Street, folgen Sie dem weiteren Straßenverlauf bis zur Kreuzung, dann biegen sie links ab", ertönte wieder die nervige stimme der Navi-Lady und Mr. Mitchell schnaufte zufrieden.
„Sieht so aus, als hätten wir beide bald unser Ziel erreicht", sagte er gut gelaunt, riss das Lenkrad um 180 Grad herum und überholte ein paar Fahrer die, so wie er es formulierte, fuhren wie „tollwütige Frösche“. Wobei Clementine schwer daran zweifelte, dass es so etwas überhaupt gab. Als sich die Fahrsituation wieder etwas beruhigt hatte, seufzte sie lange und leise und schlang ihre dünnen Arme um ihre angewinkelten Beine. Noch einmal gingen ihr alle Bilder durch den Kopf, die sie eigentlich zu vergessen versuchte. Wie sie sich von ihrer geliebten Mutter verabschiedet hatte, wie wütend sie ihren ExFreund angegriffen hatte, wie herzlos sie ihn in Stücke gerissen hatte und wie fluchtartig sie ihr langjähriges Zuhause verlassen musste. Es fühlte sich so an, als wäre sie jemand anderes. Jemand, der keine Seele besaß.
Aber besaßen Mörder überhaupt eine Seele?
„Alles okay dahinten? Oder macht mein Fahrstil dich so fertig?" grinste Mr. Mitchell, aber als er Clementines tieftrauriges Gesicht sah wurden seine Gesichtszüge sofort weicher: „Was ist denn los, Sonnenschein?", fragte er und seine Augen funkelten trotz seines Alters mitfühlend.
„Naja, wenn man so darüber nachdenkt, was man den Menschen angetan hat, die man liebt, fühlt man sich viel mieser als man denkt. Wissen sie, wovon ich spreche?", fragte sie abwesend und ihr Blick schweifte über die immer weiter auseinander stehenden Häuser. Es sah beinahe so aus, als würden sie die Stadt bald verlassen.
„Natürlich kenne ich dieses Gefühl. Noch besser sogar, als du dir das vorstellen kannst. Ich habe die Jahre über gelernt, mich auf den Beinen zu halten, selbst wenn ich eigentlich K.O. war. Ich lernte durchzuhalten, in Momenten als alle anderen mich schon aufgegeben hatten. Ich stand auf, als alle andern schon die Schaufeln bereitmachten, um mich zu begraben. Ich habe auch große Fehler gemacht Clem, diese Fehler formen uns in unserer Individualität und machen uns zu denen, die wir heute sind. Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, dass es in Ordnung ist, ein Leben zu führen, das andere nicht verstehen. Irgendwann kommt nun mal der Moment, in dem du entscheiden musst, ob du diese Seite umblätterst oder das Buch schließt."
Einen kurzen Augenblick schwiegen beide und starrten auf die Fahrbahn. Die Häuser wurden hinter ihnen immer kleiner und glichen einer riesigen Schafherde, die sich in den Himmel erstreckte.
Auf einmal antwortet Clementine ungläubig und staunend:
„Das war das tiefgründigste, was ich jemals gehört habe… Sie scheinen Recht zu haben mit dem, was sie mir sagen wollen. Aber ich habe einen Menschen umgebracht, Sir. Sie nicht. Ich bin ein Monster. Sie nicht. Ich war ein perfektes Leben gewohnt. Wissen Sie, ich will kein Mensch sein, vor dem man sich fürchten muss. Vor mir soll niemand ängstlich zurückweichen, ich will ein normales Mädchen mit Träumen sein", flüsterte sie trocken und ihre Augen wurden wieder glasig, doch sie wischte schnell mit dem Handrücken darüber.
„Und genau deswegen, damit sowas nicht passieren kann bin ich ja da, ich bringe dich an einen Ort der Sicherheit, wo du lernen wirst, das, was du als Last oder Fluch bezeichnest, in den Griff zu bekommen. Du wirst wieder stark sein. Du wirst wieder lachen können. Aber alles zu seiner Zeit, das Leben ist nicht immer in perfekter Balance. Wobei, eigentlich ist es nie in perfekter Balance", sagte Mr. Mitchell und ein Lächeln stahl sich Clementine über die Lippen und sie lachte leise.
„Sie sind ein netter Mensch. Ich glaube, ich mag Sie", beschloss das schlanke Mädchen und ihre Augen glänzten wieder mit dem ursprünglichen Feuer, das in ihr loderte.
„Was für eine große Ehre für einen Menschen wie mich", lachte der Fahrer gütig und nahm eine Hand vom Lenkrad, um Musik anzustellen, damit sich die sowieso schon so langziehende Fahrt nicht noch länger anfühlte.
„Noch ungefähr fünfunddreißig Minuten, dann haben wir Glenagels erreicht, da können wir den Jungen gleich mitnehmen. Wir haben die Fahrt fast hinter uns, Clementine, und dann sehen wir in Ruhe, wie es weitergehen soll", versprach Mr. Mitchell und drückte aufs Gaspedal.