Читать книгу Die nächste Generation - Jule Beatsch - Страница 9
ОглавлениеLove hurts
(Nazareth, 1976)
„Oh Mann, kann mal jemand bitte denjenigen, der die Schule erfunden hat, fragen, ob der total hobbylos war?", seufzte Clementine niedergeschlagen und ließ sich auf das große pastellfarbene Sofa fallen, das im Eingangsbereich der Villa stand. Auch hier reihten sich viele „Kunstwerke" aneinander, wobei Clementine diese immer als „Aus Versehen entstandene Kunst" bezeichnete, da sie selbst nicht viel davon hielt. Für sie war das nur Platzverschwendung, mehr nicht. Doch ihr Stiefvater sammelte leidenschaftlich gerne diese Bilder, die Clementines Ansicht nach nur aus wirren Strichen bestanden; er erstand diese meistens auf Auktionen.
„Schule ist so scheiße und unnötig.", murmelte Clementine zu sich selbst und erhob sich wieder. Nun stand sie im menschenleeren Eingangsbereich und sah sich um. Heute war sie ganz allein zuhause; ihre Mutter hatte ein Fotoshooting und ihr Stiefvater war mal wieder bei einem wichtigen Drehtag als Regisseur. Also im Klartext hieß das, sie hatte die Riesenvilla für sich. Das war auch gut so, denn schon seit heute früh fühlte sich das Mädchen nicht so wohl und war ganz froh und dankbar über ein bisschen Ruhe. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, das am Morgen ganz plötzlich aufgetaucht war und seitdem nicht besser wurde. Ruhig schlenderte sie in die großzügige Küche der Familie und warf einen forschen Blick in den Kühlschrank. Auch in diesem Raum war sie heute allein, denn die Angestellten hatten frei bekommen. Angewidert schloss sie die Kühlschranktür wieder, denn darin befand sich nur ekelhaftes veganes Zeug, Smoothies und Gemüse – Clementines Mutter legte besonders großen Wert auf ausgewogene und gesunde Ernährung. So ein Öko-Freak, dachte Clementine nur und lief wieder zurück in die Eingangshalle, schnappte sich ihre teure Markenhandtasche und stapfte die auffällige weiß-goldene Marmortreppe hinauf. In ihrem Zimmer angekommen, pfefferte sie die Tasche in eine Ecke und setzte sich auf ihren großen Balkon. Die Veilchen, die ihre Mutter im Frühjahr dort gepflanzt hatte, waren mittlerweile aufgegangen und blühten in einem wunderschönen kräftigen Violett. Gerade als Clementine ihre Kopfhörer aufsetzen wollte, um ein bisschen Musik zu hören, ertönte die Klingel.
Irritiert legte sie die Kopfhörer zurück auf den kleinen Tisch aus Glas, der neben ihr stand. Dann erhob sie sich, ging zurück ins Zimmer und öffnete ihre Zimmertür einen Spalt. Hatte sie sich verhört? Nein, offenbar nicht, denn die Klingel ertönte ein zweites Mal.
„Wer kann das wohl sein?", überlegte Clementine leise und schritt eilig die Treppe hinunter. Als sie die große schneeweiße Tür öffnete, begann sie zu strahlen:
„Kai! Was machst du denn hier? Ich dachte du hättest heute ein wichtiges Training?", bombardierte sie ihren Freund mit Fragen und fiel ihm um den Hals. Er roch so gut nach dem Parfüm, das Clementine ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.
„Ich wollte nur meine Freundin besuchen, da war mir das Spiel egal", lächelte er, doch Clementine hätte schwören können, dass er sie traurig ansah, als der Junge sich geschickt aus ihrer Umarmung löste.
„Kann ich vielleicht kurz reinkommen?", bat Kai sie und fuhr sich durch seine perfekt sitzenden blonden Haare.
„Kurz? Du kannst natürlich so lange bleiben, wie du willst!", erwiderte Clementine und schloss die Tür hinter den beiden.
„Du siehst so besorgt aus Kai, was ist denn?", fragte sie dann leise und wollte ihrem Freund eine weitere Umarmung schenken, doch diesmal wich er absichtlich aus und kratzte sich nachdenklich und irgendwie auch nervös am Arm. Clementine runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust: „Was ist los Kai?", fragte sie eindringlich und starrte ihn an. Er hatte noch nie eine Umarmung von ihr ausgeschlagen. Das hier war das erste Mal gewesen.
„Es ist so, Clementine… Du, du bist wirklich ein tolles Mädchen und ich mag dich, aber…ich …ich habe einfach keine Gefühle mehr für dich und ich dachte, es wäre nur fair, wenn du es von mir hörst. Nimm es bitte nicht persönlich okay? Du wirst darüber hinwegkommen", sagte er fast ohne zu zögern, aber dafür gänzlich ohne Bedauern in der Stimme. Clementine stand ihm fassungslos gegenüber und starrte ihn verletzt an, sie konnte nicht glauben, was er da sagte.
„Soll das etwa heißen, du willst mit mir Schluss machen?“, fragte sie bestürzt.
„Clem, es tut mir wirklich leid, aber ich liebe dich einfach nicht mehr", sagte er sachlich und schwieg dann.
„Warum tust du das? Was soll diese Aktion! Ich habe doch nie irgendwas falsch gemacht, ich habe mich immer bemüht, eine gute Freundin zu sein! Warum tust du mir das an!“, rief sie sauer und verletzt und hielt sich die Hände an den Kopf.
„Was soll ich sagen, die Gefühle sind verschwunden und es ist besser es zu beenden, als eine gefühllose Beziehung zu führen!?“ antwortete er kopfschüttelnd und sah sie an.
„Soll das etwa heißen, dass es ein anderes Mädchen gibt? Ist es das, was du mir damit sagen willst??!“, fauchte Clementine ihn wütend an und ihr fiel es nun schon schwer, ihre Tränen zurückzuhalten. Kai zögerte einige Sekunden, bevor er antwortete:
„Nein, gibt es nicht“. Aber Clementine war nicht dumm. Das Zögern hatte ihr die Antwort bereits geliefert.
„Ich gehe dann mal wieder", versuchte er beiläufig zu sagen und wollte gerade nach der Klinke greifen, als Clementine sprach: „Oh nein, du wirst nirgendwo hingehen, mein Lieber."
„Clem, was…?" fragte Kai verwirrt und drehte sich um, aber das, was er sah, ließ ihn das Blut in den Adern gefrieren. Clementine stand völlig regungslos ein paar Meter vor ihm entfernt. Sie merkte, wie sie wütend wurde, und zwar sehr, sehr wütend. Auf einmal durchzuckte sie ein übler Schmerz; es fühlte sich an, als würden tausende Klingen ihren Körper durchstechen. Ihr Kopf schmerzte und sie schrie auf. Kai drückte sich ängstlich an die Tür und wollte wegrennen, aber Clementine sah auf und schrie: „Du verfluchter Mistkerl! Zur Hölle mit dir!"
„Was passiert mit dir?!", keuchte Kai atemlos und zitterte, als er sah, wie die Augen von Clementine sich komplett schwarz färbten. Auf einmal verwandelten sich ihre zarten Finger in lange messerscharfe Klauen, und ihr wuchsen gewaltige dunkel gedrehte Hörner an beiden Seiten aus dem Kopf. Ihre blasse Haut bekam einen rötlichen Ton, aus ihren Schultern schossen riesige schwarze, Fledermaus-artige Flügel und lange scharfe Eckzähne kamen zum Vorschein. Bedrohlich, als wäre sie besessen, schritt sie auf Kai zu und leckte sich genüsslich über die Lippen.
„Clementine…. das ist nicht lustig… bitte… nein!", flehte Kai und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Clementine ragte über ihm wie ein Wolf vor einem Schaf und sagte:
„Dafür wirst du bezahlen! Wenn ich dich nicht bekomme, soll es auch keine andere! Das ist alles allein deine Schuld, ganz allein deine Schuld!", kreischte sie und holte mit ihren langen, gefährlichen Klauen weit aus. Kai sah sie mit vor Schreck geweiteten Augen an und flüsterte:
„Du bist nicht Clementine. Du bist ein Monster".
Doch im gleichen Augenblick versenkte Clementine ihre Klauen im Hals ihres Ex-Freundes und riss ihn förmlich in Fetzen. Dabei schrie sie immer wieder aufs Neue:
„Du verdammter Mistkerl! Du sollst LEIDEN! Was hast du mir nur angetan!?!".
Blut, dunkelrot wie manche Rosen, die im Garten der Villa wuchsen, spritzte an die weißen Wände und färbte auch die helle Couch. Immer wieder, obwohl Kai schon tot war, schlug sie auf ihn ein, riss seine Haut in Fetzen, kreischte wütend und bohrte ihre Krallen tief in sein Fleisch, bis sie sogar die blanken Knochen spüren konnte. Doch sie konnte nicht aufhören. Nach einiger Zeit wurden ihre Schläge jedoch schwächer, ihre Bewegungen langsamer und ihre Haut bekam wieder eine normale Farbe. Die Flügel verschwanden, auch die Hörner waren weg und ihre Zähne schrumpften wieder auf die normale Größe. Clementine stand blutverschmiert und völlig schockiert vor der komplett zerstückelten Leiche von Kai. Traumatisiert vor Schreck wich sie einige Schritte zurück.
„Kai… was habe ich nur getan… es tut mir so leid", schluchzte sie tränenerstickt und hielt ihre Hände vors Gesicht. Als sie aber sah, dass dort noch mehr Blut von der Person klebte, die sie doch so geliebt hatte, begann sie heftig zu zittern. Das ganze Blut an den Wänden war machte es für sie nur noch schlimmer.
„NEIN!", schrie sie panisch und begann sich vor dem Schmerz zu winden, der sich in ihr breitmachte: „Das wollte ich nicht Kai, ich wollte dich nicht töten!", weinte sie und brach in der Eingangshalle zusammen. Unter Tränen und furchtbaren Schuldgefühlen wusste sie tief in ihrem Inneren, dass nichts mehr so sein sollte, wie es einmal war. Das war nicht sie gewesen. Hatte sie gerade eine Art Transformation erlebt? Wer war sie? Was war eben mit ihr passiert? Clementine schluchzte und lehnte sich immer noch unter Schock stehend an die Wand. Jetzt, in genau diesem Moment stand sie in einer für Hollywoods Verhältnisse völlig normalen Villa in Los Angeles, der man von außen nichts von all dem Übel, das gerade geschehen war, anmerken konnte, und neben ihr lag eine brutal zugerichtete Leiche. Ein ganz normaler Tag eben.
Immer noch betäubt von ihrer herzlosen Tat stand Clementine in der Eingangshalle und konnte sich nicht von der Stelle rühren. Da lag er, oder besser gesagt, das, was noch von ihm übrig war, denn überall im Umkreis von mindestens drei Metern waren Teile seines Körpers verteilt. Sie schluchzte und konnte einfach nicht fassen, dass sie das gewesen war. Wie hatte das nur passieren können? So derartig war sie noch nie ausgerastet. Doch was war das?
Heftig atmend wischte sich das blonde Mädchen die Tränen aus dem Gesicht, als sie draußen das verräterische Geräusch eines parkenden Autos hörte.
„Was mache ich jetzt nur?", keuchte sie atemlos und versuchte einige der Körperteile unter das Sofa zu schieben. Sie wusste nicht einmal genau, warum sie das tat; derjenige, der jetzt zur Tür hereinkommen würde, würde sowieso sehen, was sie angerichtet hatte. Und in genau diesem Moment drehte sich der Schlüssel im Schloss und ihre Mutter schob sich ins Haus:
„Hallo Schatz, ich bin wieder zu… WAS zum???“, flüsterte Mrs. Campbell erschrocken und ließ den Schlüssel fallen.
Am liebsten wäre Clementine ihrer Mutter um den Hals gefallen und hätte ihr erzählt, dass sie das alles nicht gewollt hatte und es ein riesiges Missverständnis war. Aber was sollte sie denn zu ihr sagen? Oh hallo Mama, ich habe meinen Freund ermordet, weil ich sauer war, hoffentlich macht es dir nichts aus, dass er hier tot in unserem Flur liegt, wollen wir ein Eis essen? Sicher nicht. Stattdessen begann Clementine wieder zu weinen und schluchzte:
„Es… es tut mir so leid, Mum… ich wollte das nicht machen… ich habe mich verwandelt… etwas hat von mir Besitz ergriffen… ich weiß nicht, was ich bin."
Mrs. Campbell lief schnell zu ihrer Tochter und schloss sie fest in die Arme. Clementine war irritiert:
„Mum, ich bin eine MÖRDERIN! Wie kannst du mich jetzt mit dem Wissen noch in den Arm nehmen?", heulte sie völlig überfordert und sackte wieder in sich zusammen. Die Leiche in ihrem Haus ließ ihre Mutter wohl völlig kalt, denn sie lief zu Clementine und bückte sich zu ihr nach unten.
„Sieh mich an, Clem", sagte sie in einem ernsten Ton. Das Mädchen hob den Kopf und versuchte zu erkennen, wie enttäuscht ihre Mutter von ihr war. Aber zu ihrem Erstaunen sagte sie etwas völlig anders, womit sie niemals gerechnet hätte: „Das ist das Erbe deines Vaters."
Verständnislos musterte Clementine ihre Mutter und wollte einfach nicht glauben was sie da sagte:
„Welches Erbe? Ich kenne meinen Vater doch gar nicht! Was hat das denn mit ihm zu tun?!", fragte sie total und sichtlich überfordert. Mrs. Campbell half ihrer Tochter wieder auf die Beine und sagte:
„Setz dich, ich muss dir etwas erzählen".
Clementine warf noch einen schmerzvollen Blick auf Kais Leiche, dann kam sie immer noch etwas wackelig auf den Beinen zu ihrer Mutter ins Esszimmer und setzte sich an den Esstisch.
„Also, wer ist mein Vater?", fragte Clementine, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte und lehnte sich gespannt etwas vor. Mrs. Campbell holte tief Luft.
„Du darfst mich aber nicht für verrückt erklären", forderte sie und sah Clementine fast flehend in die Augen.
Die Tochter lachte sarkastisch auf: „Nach diesem Tag halte ich gar nichts mehr für verrückt", versprach sie.
„Nun gut, Clem. Dein Vater ist der Teufel."
„Das ist ein Witz, oder?", fragte Clementine ungläubig und starrte ihre Mutter schockiert an: „Den Teufel gibt es doch gar nicht!"
„Würde es ihn nicht geben, würde es dich auch nicht geben", erwiderte Mrs. Campbell traurig und Clementine wurde plötzlich bewusst, dass ihre Mutter die Wahrheit sagte. Das war zu viel für sie.
„Bitte Clem, du musst mir glauben! Ich wusste, dass das eines Tages passieren würde! Du bist die Tochter des Teufels und ich hätte es dir wirklich schon früher gesagt, ich habe gehofft du würdest nicht so werden wie er. Aber nun wissen wir es ja beide. Du bist der nächste Teufel und ich wünschte, ich könnte dir dieses Schicksal ersparen, aber die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind", sagte ihre Mutter ernüchternd und sah Clementine fest in die Augen.
„Mum, ich habe gerade einen Menschen getötet! Und das nimmst du einfach so hin? Belastet es dich denn gar nicht, was für ein Monster ich bin? Könntest du mir vielleicht auch gleich mal erklären, weshalb ich mich in so ein schreckliches Ding verwandelt habe?", fragte sie gereizt und schlug die Hände verzweifelt über ihrem Kopf zusammen. Mrs. Campbell nahm vorsichtig die Hand ihrer Tochter und drückte sie sanft:
„Hör mir zu. Ich weiß, ich bin nicht gerade erfreut darüber, dass du jemanden umgebracht hast. Aber ich kannte deinen Vater. Glaubst du, er hat nie jemandem etwas getan?", fragte sie mit ruhiger Stimme. „Außerdem, glaube ich, hattest du einen guten Grund ihm sowas anzutun, denn normalerweise ist das nicht deine Art", fügte ihre Mutter noch hinzu. Clementine sah sie an: „Es ist generell nicht meine Art Leute abzuschlachten, Mum", schluchzte sie leise, zog die Knie an ihren Körper und schlang die Arme darum.
„Clementine, warst du in dem Moment, in dem du Kai angegriffen hast, wütend?", fragte Mrs. Campbell forsch und versuchte mit ihrer Tochter Blickkontakt herzustellen. Clementine wich ihrem Blick jedoch aus.
„Clem! Wenn Du Antworten auf deine Fragen haben willst, dann musst Du mit mir kooperieren!", schimpfte ihre Mutter ärgerlich und sah auf die Uhr. „Wir haben nicht viel Zeit bis dein Stiefvater zurückkommt! Also, warst du in diesem Moment wütend, oder nicht?", fragte sie erneut.
Clementine hob den Kopf: „Ja, ich war sogar sehr wütend. Ich konnte mich nicht kontrollieren. Es ist einfach passiert", sagte sie und man konnte großes Bedauern an ihrer Stimme spüren. Clem wischte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht.
„Na also. Denn genau das ist der Grund deiner Verwandlung, Clem. Durch das Gefühl der Wut verwandelst du dich in ein Teufelswesen. Das ist dein anderes Ich. Du musst lernen, diese Wut in den Griff zu bekommen, sonst werden noch viele Menschen, die dir etwas bedeuten, leiden müssen. Und das willst du doch nicht, oder?"
Clementine schüttelte sofort energisch den Kopf. Mrs. Campbell stand auf und seufzte:
„Nun, wo deine Kräfte erwacht sind, bist du nirgendwo mehr sicher. Sie werden Jagd auf dich machen", flüsterte das Model angespannt und lief unruhig im Raum auf und ab. Clementine sah ihre Mutter verwirrt an:
„Wer wird Jagd auf mich machen? Und vor allem: Warum?", fragte sie, doch sie bekam nicht sofort eine Antwort.
„Weil du mächtig bist und weil du anders bist. Hier bist du definitiv nicht mehr sicher. Ich muss dich fortbringen, an einen sicheren Ort. Geh schnell nach oben in dein Zimmer und packe das nötigste zusammen, Clem. Es wird wohl ein Weilchen dauern, bis du wieder hierherkommen kannst.“