Читать книгу Lisanne - Julia Beylouny - Страница 10

Kapitel sechs

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Es war spät geworden. Sie stand draußen auf der Terrasse, schaute über die Koppel bis hinunter zum Moor. Hin und wieder hallte das Quaken der Kröten durch die Stille. Lisanne war in ihr weißes Nachthemd geschlüpft, dass kaum bis zu den Knien reichte, hatte die Spangen aus ihren Haaren gelöst und die Arme vor der Brust verschränkt. Der Abend war mild, sodass sie nicht fror. Sie genoss den leichten Wind, der in ihren Haaren spielte, den dünnen Stoff an ihre Haut schmiegte. Die Pferde waren zurück in den Boxen, das neue Buch, welches sie angefangen und nicht gemocht hatte, war wieder ins Regal gewandert und während sie zum Mond hinaufschaute, fragte sie sich, wann ihre Eltern heimkommen würden. Sie hatte vor, auf sie zu warten, um ihnen mitzuteilen, dass sie sie nach Arles begleiten würde.

Ihr Blick schweifte zum Horizont, wo im Osten der Nachthimmel aufzog. Der Einbruch der Dämmerung, der riesige Vollmond über dem dunklen Wald, das alles faszinierte sie. So war es schon immer gewesen. Schon, als sie klein gewesen war, hatte sie jedes Detail der Natur in sich aufgenommen und bestaunt. Sie kannte die Geräusche der Nacht, das Rufen der Tiere war ihr vertraut, das Pfeifen des Windes im Giebel des alten Bauernhauses hatte ihr seit jeher ein Schlaflied gesungen. London war zu laut, zu hell und die Nächte dort unterschieden sich kaum von den Tagen. In den Gassen lebten Ratten, den Raben im Tower stutzte man die Flügel, um sie gefangen zu halten. Sie schwor sich, ihr Studium schnellstmöglich zu beenden, um zurück nach Cornwall zu kommen. Eine kleine Dorfschule war genau das, wo sie arbeiten wollte.

Als ihr Blick weiterwanderte, streifte er die Zaunpfähle der Pferdekoppel. Im nächtlichen Licht sahen sie wie kleine, gebeugte Kobolde aus, die im hohen Gras nach Pilzen suchten. Die Kieselsteine des angrenzenden Feldweges glitzerten wie ein silberner Bach im Mondschein. Und der Bach ... der Kieselweg floss direkt an der grünen Haustür des Cottages vorbei. Für eine Sekunde blieb ihr Blick an dem Häuschen hängen. Hatte sich dort nicht etwas bewegt? Sie kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen, um schärfer sehen zu können. Stand dort nicht jemand unter dem Fenster und schaute wie sie in die Nacht hinaus? Wirklich, ein Schatten hob sich von der Hauswand ab und sie wusste, dass es kein Baum, kein Strauch war, der im Wind wehte. Eine Gänsehaut überkam sie, als ihr bewusst wurde, wer dort stand. Logans dunkle Silhouette fügte sich in das nächtliche Bild ein. Vermutlich schaute er genau in ihre Richtung. Für ihn musste sie einen gut erkennbaren Punkt in der Dunkelheit darstellen. Das Mondlicht schien auf ihr helles Nachthemd, ließ ihre schneeweiße Haut und die blonden Haare gespenstisch leuchten. Lisanne fühlte sich zunehmend unwohl, in dem Wissen, dass er sie beobachtete. Allein zu ahnen, dass er dort stand, zerstörte den Hauch der unberührten Nacht. Logan hatte die stille Einsamkeit durchbrochen, ihr den Zauber genommen. Sie wandte sich ab, verschwand ins Haus, schloss die Terrassentür und dachte an Chain. An den Strand, den wundervollen Sonnenuntergang über dem Meer. Er fehlte ihr. Vor dem Schlafengehen würde sie ein paar Zeilen lesen und dann von ihm träumen. Von Chain.

Ein Auto fuhr auf den Hof. Der Kies in der Auffahrt knirschte, das Licht der Scheinwerfer drang durchs Fenster herein. Lisanne sprang vom Sofa und lief zur Tür, um ihre Eltern in Empfang zu nehmen. Ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen. Zu wissen, dass sie nicht länger mit Logan allein war, ließ sie aufatmen. Seine Präsenz war überall auf dem Hof zu spüren. Sein Schatten lag wie eine weiche Berührung, derer sie sich nicht erwehren konnte, auf ihren Schultern. Sie kannte es nicht, sich auf derart seltsame Weise vor der Anwesenheit, der Begegnung mit einem Menschen zu fürchten, wie sie sich vor Logan fürchtete. Die Art, wie er sich bewegte, wie er sie anschaute, wie er aussah und was er ausstrahlte, irritierte sie. In seiner Nähe fühlte sie sich wie ein Metallteil, das von einem Magneten gleichsam angezogen und abgestoßen wurde. Eine anstrengende Konstellation, wie sie fand.

„Ma, Dad!“, rief sie, als ihre Eltern aus dem Mercedes stiegen. Sie lief barfuß in den Hof und fiel ihnen wie ein kleines Kind in die Arme. „Endlich seid ihr zurück! Wieso habt ihr mich nicht mitgenommen? Ich bin echt enttäuscht, dass ihr mich zurückgelassen habt! Wie geht es Tante Maggie und Onkel Ted?“

„Danke, danke.“ Dad lächelte und nahm seinen Liebling, wie er sie nannte, in die Arme. Er war ein schlichter Mann, der jedes Klischee eines Bauern zu erfüllen schien. Lisanne hatte schon immer einen besseren Draht zu ihrem Vater als zu ihrer Mutter gehabt. „Meg lässt dich grüßen. Ma hat dich gefragt, ob du mitwillst, aber du wolltest lieber hier bleiben und lesen.“

„Das ist nicht euer Ernst!“, rief sie verärgert. „Wenn so was wichtiges im Raum steht, solltest du mir das Buch aus der Hand reißen, Ma!“

„Hallo, Schatz. Hier, du könntest meine Tasche ins Haus tragen, ich bin ziemlich erledigt von der Fahrt.“ Ma hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und drückte ihr das Gepäck in die Hand. „Du bist alt genug, um zuzuhören, wenn jemand mit dir spricht. Zudem ist es respektlos, zu lesen, während man eine Unterhaltung führt. Wie geht es dir? Hast du die Zeit gut rum bekommen? War Breda da und hat euch geholfen?“

Euch. Ein merkwürdiges Kribbeln fuhr durch Lisannes Glieder. Ma hatte Logan und sie in einem einzigen Wort vereint.

„Nein“, sagte sie, während Dad den Wagen abschloss und ins Haus ging. „Breda war nur an dem Abend da, als ihr abgefahren seid. Wir ... Ich bin gut klargekommen.“

„Das ist schön zu hören. Jetzt sind wir ja erstmal zurück und du hast noch acht Wochen Ferien, stimmt’s?“ Dad stellte den Koffer im Flur ab, schloss die Haustür und schob den Riegel vor.

„Ja. Und am Donnerstag geht unser Flug, richtig?“

Ihre Eltern schauten sie fragend an.

„Ich habe mit Shannon telefoniert. Ich begleite euch nach Arles. Shan freut sich schon. Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass ich meine Ferien ohne euch und mit diesem ... diesem abgebrühten Arbeiter verbringe?“

„Logan ist ein anständiger, fleißiger und vertrauenswürdiger Mann“, sagte Dad klar und deutlich. Ma, die offenbar spürte, wohin die Unterhaltung führen würde, seufzte erschöpft und zupfte an ihrem Blusenärmel.

„Sean, bitte nicht mehr heute Abend. Lissi, ich bin wahnsinnig müde. Lasst und alle schlafen gehen und morgen darüber reden.“

„Deine Ma hat recht. Komm“, Dad lächelte, schob Lisanne sanft in Richtung Treppe. „Wir reden morgen über Frankreich. Gleich, nachdem ich mit Logan gesprochen habe. Ich muss wissen, ob alles in Ordnung ist. Außerdem habe ich eine Bitte an ihn. Gute Nacht, Liebling.“

Als sie am nächsten Morgen erwachte, tat ihr alles weh. Sie streckte sich, setzte sich auf, gähnte und massierte mit einer Hand ihren Nacken. In der Nacht hatte sie kaum geschlafen. Während sie ihre Muskeln bewegte, die Schultern rollte und ihre Haare zu einem Zopf zusammennahm, schaute sie zum Fenster. Die Sonne schien. Eine schmale Lichtsäule fiel durch die schweren Vorhänge auf die Holzdielen und tänzelte einige Zentimeter nach links und nach rechts, wenn der Wind die Gardinen bewegte. Der Hahn krähte, die Melkmaschine lief und das klappernde Geräusch, wenn die Kühe ihre Hälse in den Gittern bewegten, gehörte zu Lisannes gewohnter akustischen Kulisse, wann immer sie daheim war. Jener Lärm gab ihr das Gefühl von Geborgenheit, und davon, dass alles seinen normalen Gang ging. Sie warf die warme Decke zurück, ließ ihre Beine aus dem Bett baumeln und erhob sich, um die Vorhänge am Fenster zur Seite zu schieben. Das Sonnenlicht strömte herein, erhellte jede noch so finstere Ecke ihres Zimmers. Lisanne lächelte, streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und genoss die Wärme auf ihrer Haut. Die Bilder, die das Licht auf ihre Lider malte, erinnerten sie an den Traum der vergangenen Nacht. Sie wandte sich ab, lehnte sich an die Fensterbank und versuchte, das wirre Mosaik in ihrer Erinnerung zu rekonstruieren. Richtig, sie hatte ... sie hatte von Chain geträumt. Ein sanftes Kribbeln rieselte durch ihre Glieder. Von Chain. Ein Film lief vor ihren Augen ab. Ein Film, der den Anschein machte, als wäre er fester Bestandteil ihres Lebens, ihrer Vergangenheit.

Sie lief am Strand entlang. Zu ihrer Rechten lag der Ozean wie ein riesiges blaues Tuch, das im Wind flatterte und leise rauschte. Die Wellen glitzerten, als würden sie Tausende goldene Kugeln balancieren. Sie atmete die salzige Brise ein, lief unentwegt weiter, in Richtung des Turmes, der sich vor ihr in den Dünen auftat. Es war ein hoher, schlanker Turm, der nach oben hin immer spitzer zulief. Der Leuchtturm von Nowhere, Chains einsames Zuhause. Jeder Schritt, den sie in jene Richtung tat, beschleunigte ihren Herzschlag. Wäre das Leuchtfeuer noch in Betrieb und funktionstüchtig gewesen, und hätte es Lisannes Gesicht gestreift, dann hätte es ihre roten Wangen enttarnt und ganz bestimmt auch den Schwarm Schmetterlinge in ihrem Bauch aufgescheucht. Es hätte den Glanz in ihren Augen entdeckt und die Sehnsucht, die sie antrieb, erahnt.

Sie erreichte den Turm. Weicher, warmer Sand klebte unter ihren Füßen, Salz und Gischt ließen ihre Haare verkleben. Er war dort oben. Chain stand am Fenster, schaute über das Meer, über den Strand und die Dünen. Er hatte ihre Spuren im Sand bemerkt. Spuren, die direkt zum Leuchtturm führten, die das Ende seiner Einsamkeit bedeuteten. Zu wissen, dass er sie sah, sie erwartete, erfüllte sie mit warmem Kribbeln. Lisanne blieb stehen, hielt Ausschau nach der verwitterten Holztür. Sie war nirgends zu sehen. Runde um Runde drehte sie um den Leuchtturm, suchte nach dem Eingang, der sie zu Chain hinaufbrachte. Sie tastete den kühlen Beton ab, suchte hinter Efeuranken, bis sie verzweifelt feststellte, dass es keine Tür gab. Keinen Geheimeingang, kein Fenster aus dem er ihr eine Leiter herablassen konnte. Nichts, was sie zu ihm hinaufführen konnte. Die Tür war verschwunden, existierte nicht, als hätte es sie nie gegeben. Ein tiefer Schmerz durchbohrte ihr Herz. Sie schaute am Turm hinauf, wollte zu ihm, ohne einen Weg zu finden. Er war dort oben. Chain war dort, ganz allein in der erdrückenden Einsamkeit, die ihr einen Besuch verwehrte. Er erwartete sie und sie fand keinen Eingang.

Träume waren grausam, wenn man lief und lief und niemals ankam. Wenn man von Gefühlslawinen überrollt wurde, sich fühlte, als wäre alles real. Erschreckend real. Ihr Herz riss auseinander, als sie erkannte, dass es keinen Weg gab, dass sie ihn nie erreichen würde. Niemals.

Stimmen, die von draußen an ihre Ohren drangen, rissen sie aus den Gedanken. Sie drehte sich um, warf einen Blick aus dem Fenster. Es ging hinaus auf den hinteren Bereich des Kuhstalls, auf den matschigen, zertretenen Weg, der Stall und Abendwiese verband. Die Abendwiese. Eine Koppel, auf welche die Kühe im Sommer nach dem Melken getrieben wurden. Tagsüber grasten sie auf der dem Haus gegenüberliegenden Weide.

Lisanne reckte sich, um besser sehen zu können, um herauszufinden, wer dort unten redete. Dad und Logan standen hinter dem Stall und diskutierten. Es war das erste Mal, dass sie ihren Vater und ihn zusammen sah. Dad im Blaumann, den er immer bei der Arbeit trug, seinen Sonnenhut auf dem Kopf, die grünen Gummistiefel an den Füßen. Logan in Bluejeans, einem hellen Shirt, die Ärmel bis über die Ellenbogen aufgekrempelt. Lisanne konnte ihre Augen nicht von ihm lassen. Sie wollte herauszufinden, was für ein Mensch er war. Ob er sich Dad gegenüber genauso kühl und unnahbar verhielt, wie er es bei ihr tat?

Die Diskussion, die sie führten, machte nicht den Anschein, als würde sie kühl und emotionslos ablaufen. Lisanne konnte nicht hören, worum es ging, beobachtete Mimik und Gestik. Das Brummen der Motoren im Stall, das Muhen der Kühe und das Klappern der Gitter übertönten alles, was sie sagten. Dad legte Logan die Hand auf die Schulter, als würde er ihn trösten oder ihn um etwas bitten. Logan machte einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf und raufte sich die Haare. Dad redete auf ihn ein, stemmte die Hände in die Seiten, deutete zum Kuhstall, dann auf Logan. Hatte der Kerl während der Abwesenheit ihrer Eltern Mist gebaut?

War etwas kaputt gegangen oder eins von den Tieren erkrankt? Vielleicht hatte Daisy verkalbt. Gut, so was kam vor. Vielleicht hatte Logan keinen Tierarzt eingeschaltet. Lisanne wusste es nicht. Dad nahm den Sonnenhut vom Kopf, drehte ihn in Händen, was er immer tat, wenn er ratlos war, und setzte ihn wieder auf. Logan wühlte mit dem Fuß im Matsch, kickte vor einen Kiesel und wich Dad aus. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, wirkte wie ein trotziger Junge in der Pubertät. Dann zeigte er auf den Stall, schien sich für irgendwas zu rechtfertigen und schüttelte erneut den Kopf.

„Lissi, Liebes, willst du nicht aufstehen? Es ist gleich halb neun“, rief Ma von unten herauf.

Sie wandte sich vom Fenster ab und bemerkte ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Keinen Hunger, nein. Eher so was wie ... wie den Wunsch, Dad und Logan weiter zu beobachten. Vor allem ... Logan. Sie schlüpfte kopfüber aus dem Nachthemd, schüttelte ihr Bett auf und faltete das Hemd zusammen, bevor sie es unter das Kissen schob.

„Bin sofort unten“, antwortete sie ihrer Mutter, ging zum Kleiderschrank, nahm sich ein leichtes Sommerkleid heraus. Es war alltagstauglich und bequem. Während sie sich anzog und ihre Haare bürstete, dachte sie über den Arbeiter nach. Irgendwas an ihm hatte anders ausgesehen. Irgendwas in seinen Gesichtszügen. War er panisch? Verzweifelt? Als würde Dad ihn mit etwas konfrontieren, das ihn in die Enge trieb, ihm keine Wahl ließ. Sie warf einen letzten Blick aus dem Fenster. Die Männer waren verschwunden.

Lisanne

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