Читать книгу Lisanne - Julia Beylouny - Страница 8
Kapitel vier
ОглавлениеDas warme Wasser umgab sie, nahm auf sanfte Weise jegliche Kälte aus ihren Gliedern und ließ Lisanne wohlig seufzen. Sie hatte die langen Haare zu einem Knoten hochgesteckt und betrachtete den Wasserdampf, der zur Badezimmerdecke hinauf schwebte. Er war der materialisierte Ärger, die Wut über Logan und seine dämliche Art. Kaum zu glauben, dass jemand wie er keinen Charakter hatte. Sonst hätte sie sich garantiert in ihn verliebt, denn er war so schön, so perfekt, dass sie Mühe hatte, ihn nicht ununterbrochen anzuschauen.
Lisanne angelte nach dem Ledereinband, den sie neben der Badewanne auf die Kacheln gelegt hatte. Sie wollte nicht riskieren, dass Chain eifersüchtig wurde, wenn sie noch einen einzigen Gedanken an Logan verschwendete. Sie musste wissen, wie es mit ihm weiter ging. Mit Chain. Und jener mysteriösen Person, die ihm keine Ruhe gönnte ...
Von der Spitze des Turms kann ich über die gesamte Bucht blicken, bis hinunter an den Strand. Der Leuchtturm ist wie der ausgestreckte Zeigefinger der Steilklippen, der sich warnend in den Himmel reckt, um die Seefahrer auf sich aufmerksam zu machen.
Ich inspiziere das Leuchtfeuer. Wie viele in Not geratene Seelen mag es gerettet, wie viele Schiffe im Sturm sicher zurück an die Küste gelotst haben? Wie auch immer – die Heldentaten dieses Bauwerks liegen um Jahre zurück. Die Fresnel-Linse ist komplett zerstört, der Turm außer Funktion.
Ich wende mich dem Horizont zu, bewundere den Sonnenaufgang und überlege, womit ich die zerbrochenen Fensterscheiben meiner neuen Bleibe ersetzen könnte. Im hinteren Bereich der Kuppel habe ich Glasreste und eine große Plastikplane entdeckt. Das dürfte als Provisorium ausreichen. Im Endeffekt habe ich keine andere Wahl. Die nächste Stadt liegt meilenweit entfernt. Ich besitze weder ein fahrbares Gerät, noch Geld, um irgend etwas einzukaufen. Als nächstes werde ich mir wohl eine Angel basteln und mir etwas zu Essen fangen. Ich lehne meinen Arm an das Glas der Kuppel und senke die Stirn in die Hand. Die Einsamkeit, die ich gewählt habe, ist grausam und liebenswert zugleich. Sie ist verlockend, freiheitsspendend und bereits nach einem Tag in den Wahnsinn treibend. Die Einsamkeit ist die Mutter meines wilden Verfolgungswahns. Die gläserne Spitze des Turms spiegelt ihr Gesicht wider. Sie steht direkt hinter mir und lacht mich aus. Eine Halluzination, ein personifiziertes schlechtes Gewissen.
„Es tut mir so leid“, murmle ich. „Es tut mir so unendlich leid. Ich wünschte, das hier wäre nie passiert. Das alles hier. Bitte, verzeih mir, ...“
Ihre vollen Lippen formen lautlose Worte. Ihre Augen sind leer. Ein fahles Gespenst, das nicht weiß, was es tut, nicht weiß, woher es kommt, wohin es geht. Und der Schmerz zerreißt mich. Er ... zerreißt mich. Ich strecke meine Hände nach ihr aus, will sie umarmen, ihre Vergebung empfangen. Eine Vergebung, die sie mir nie erteilen wird, weil sie dazu nicht in der Lage ist. Weil sie zu jung, zu unreif, zu unausgereift ist. Als meine Fingerspitzen ihr Gesicht berühren, greifen sie in die Luft. Sie ist fort.
Ich sacke in den Knien zusammen, weine so bitterlich, wie ich es lange nicht mehr getan habe, lasse den Schmerz heraus, der mich regiert. Hier zu weinen gefällt mir, denn es gibt niemanden, der mich hört. Es ist befreiend. Aber mein Weinen wird das Geschehene nicht ungeschehen machen, wird meine Schuld nicht von mir abwaschen. Ich sehe es in ihren Augen. Und was sehe ich in deinen Augen? Nichts. Du bist nicht in der Lage zu weinen. Du bist bedauernswerter als ich. Und du weißt darum.
Lisanne ließ das Buch zurück auf die Fliesen sinken, schloss die Augen und tauchte tiefer in das Badewasser ein. Chains Schmerz ergriff Besitz von ihr. Beinahe hätte sie mit ihm geweint. Wie gern hätte sie ihn in die Arme geschlossen, ihn getröstet. Wenn sie nur gewusst hätte, was mit ihm geschehen war. Vielleicht eine unglückliche Liebe, das Ende einer langen Freundschaft, oder ... Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass er ihr unter die Haut ging. Mit jedem Wort. Mit jedem Satz ein Stückchen tiefer. Er arbeitete sich in ihr vor, ihr Herz als Ziel vor Augen, ihre Gänsehaut als Wegweiser. Er berührte sie auf eine Art, auf die niemand zuvor sie berührt hatte. So präsent, so greifbar nahe und doch so fern, unerreichbar wie ein Stern am Nachthimmel. Alles, was sie tun konnte, war, hinaus zu schauen in die unendliche Weite, ihn in dem Wissen ansehen, dass sie ihm nie gehören würde. Nur mit den Augen. Wenn er ihren Blick erwiderte.
Unten rasselte das Telefon. Sie zuckte zusammen, dass das Wasser aus der Wanne schwappte. Sie war zurück. In der Realität, in der es Chain nicht gab.
Dad, der für gewöhnlich gerne herumbastelte, hatte vor einiger Zeit ein optisches Signal an der Wand im Stall angebracht, das zu blinken begann, wenn im Haus das Telefon schellte. Lisanne griff instinktiv nach ihrem Handtuch, stieg aus der Wanne und schlang sich ins Frottee. Logan würde jeden Moment aus dem Stall kommen, um das Gespräch entgegenzunehmen. Sie tapste aus dem Bad in den Flur und hörte, wie unten jemand sprach. Er war schneller, als sie erwartet hatte.
„Ich habe keine Ahnung, Mister O’Nare ... Ja, das kann durchaus sein ...“
Es war Dad. Dad war am Telefon und sie hätte zu gern mit ihm gesprochen! Wie dumm, dass Logan ihr zuvorgekommen war. Sie wischte sich die Wassertropfen aus dem Gesicht und lauschte.
„Soll ich sie rufen?“
Oh, mein Gott! Bloß nicht! In ihrem Aufzug würde sie Logan kein zweites Mal unter die Augen treten. Aber ... er rief nicht nach ihr. Dann hatte Dad ihr nichts zu sagen.
„Ah, verstehe ... Ja, Becky hat großes Potenzial ... Bei der letzten Prüfung waren es zehntausendfünfhundert Kilogramm ...“
Lisanne ließ die Schultern sinken. Kühe. Es ging mal wieder um Kühe. Die guten Holstein Rinder und ihre ausbeuterische Milchleistung. Zehntausendfünfhundert Kilo! Man stelle sich nur mal eine Frau vor, die jährlich so viel Milch für ihr Baby bereithalten sollte ...
Sie schlurfte zurück ins Bad, ließ das Wasser ab und schlüpfte in ihre Kleider. Der Regen hatte nachgelassen, die untergehende Sonne blinzelte am Horizont durch die aufreißende Wolkendecke. Vielleicht sollte sie noch einen kurzen Ritt mit Alfie unternehmen. Der arme Kerl musste sich furchtbar vernachlässigt fühlen, seit Shannon fort war. Für eine Sekunde versuchte sie, sich an das letzte Telefonat mit ihrer Schwester zu erinnern. Das musste Ende vergangener Woche in London gewesen sein. Shannon hatte sie ausdrücklich darum gebeten, sich um Alf zu kümmern ...
Logan hatte das Telefongespräch beendet, im Kuhstall war Ruhe eingekehrt und Lisanne hatte sich etwas zu essen gemacht, bevor sie raus zu den Pferden ging. Sie hatte beschlossen, dass es besser war, ihrem Arbeiter nicht mehr über den Weg zu laufen. Sicher saß er längst im Cottage oder schraubte an seinem Boiler herum. Vielleicht nahm er eine Dusche, während sie ausritt. Wie auch immer, es interessierte sie nicht.
Als sie den Pferdestall erreichte, die leicht geöffnete Tür sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Jemand war dort drinnen. Leises Raunen drang an ihre Ohren. Sie erkannte die Stimme. Mit wem, um alles in der Welt, redete Logan?
Sie schlich näher an die Tür heran, sodass sie durch den schmalen Spalt spähen und sich einen Überblick darüber verschaffen konnte, was dort drinnen vor sich ging.
Für eine Sekunde nahm sie Logan in Augenschein. Schon immer hatte sie ihn genauer anschauen wollen, jedoch nie einen unbemerkten Moment wie jenen ergattert. Sie ließ ihre Blicke über seine Silhouette schweifen. Eine Schande, dass er so schön war. Das enge, dunkelblaue Shirt verriet seine breiten Schultern und die darunterliegenden Muskeln. Die harte körperliche Arbeit war ihm anzusehen. Seine Haut war braungebrannt, wie es bei Menschen, die die meiste Zeit an der freien Luft arbeiteten, der Fall war. Sein Alter ließ sich schwer schätzen. Vielleicht Mitte, oder eher Ende zwanzig. Sie war nicht mal sicher, ob er Engländer war. Sein Akzent war ein verwaschener Mix aus verschiedenen Dialekten. Und seine Augen ... Das Thema hatte sie schon. Sie sollte keinen gezielten Blick in seine Augen riskieren, wenn sie ein Unbehagen in ihrem Bauch vermeiden wollte.
Die dunkelbraunen Haare fielen ihm hin und wieder in die Stirn, während er vor den Boxen stand und mit den Pferden sprach. Finlay und Alfie, die für gewöhnlich unglaublich neugierig waren, waren so auf ihn fixiert, dass sie Lisanne in der Tür nicht bemerkten. Etwas an Logans Stimme war anders. So anders, dass es eine Gänsehaut über ihren Rücken jagte. Sie hatte ihn mit Dad und ihr selbst reden hören. Er klang kühl, vielleicht arrogant, monoton und emotionslos, wenn er mit Menschen sprach. Aber ... mit den Pferden verhielt er sich komplett anders. Als wäre er nicht mehr Logan, sondern ... George. Drews George. Oder irgendein anderer jener Charaktere von Mason, die Lisanne über die Maßen liebte.
Gott, das machte es nicht einfacher, ihn zu ignorieren. Aber – sie war kein Pferd. Sobald er sie entdeckt hätte, würde er wieder in den eisigen, desinteressierten Logan verfallen, der nichts und niemanden wertschätzte. Doch bis dahin ... Bis sie sich zu erkennen geben würde, hatte sie vor, seiner warmherzigen, tiefen, melodischen Stimme zu lauschen. Und dem, was er den Pferden zu sagen hatte.
„Wie würde es euch gefallen, wenn ich euch morgen auf die Koppel jage?“, fragte er und kraulte ihre Mähnen. „Es wird Zeit, dass ihr mal hier raus kommt und frische Luft schnuppert. Ihr wollt in die Ferne schauen, hm? Über die Wiesen und Äcker bis runter zum Sumpf. Und saftiges Gras kauen.“
Fin und Alf wieherten leise, als würden sie ihm Antwort geben. Und dann geschah es: Logan lächelte. Wer hätte gedacht, dass der Kerl wusste, wozu Mundwinkel in der Lage waren? Lisanne hielt sich am Türrahmen fest, um nicht in den weichen Knien einzuknicken.
„So machen wir es, Alfie“, flüsterte er. „Und dann bestelle ich euer Frauchen ein, damit sie den Stall ausmistet. Bei all den Büchern kann einem ja ganz schlecht werden. Wir kriegen das studierte Volk schon an die Arbeit, hab ich recht?“
Sie machte ein paar Schritte zurück. Das genügte! Es war an der Zeit, die traute Dreisamkeit zu beenden. Sie wollte unter keinen Umständen mit anhören, was er ihnen über sie erzählte. Als sie wieder vorwärts lief, bemühte sie sich, den Kies unter ihren Füßen besonders laut knirschen zu lassen. Sie räusperte sich und tat, als würde sie erst in dem Moment kommen.
„Hey, ihr beiden!“, rief sie unbefangen, öffnete die Tür und gab sich höchst überrascht, Logan im Pferdestall anzutreffen. Das studierte Volk beherrscht die Schauspielkunst!, lachte sie in sich hinein.
„Oh, hi, Logan“, stammelte sie, senkte den Blick. Augenausweichmanöver. „Ich ... wollte ... Alfie muss bewegt werden. Finlay war gestern dran und da dachte ich ...“
Er schaute sich nicht um, trat einen Schritt von den Boxen zurück und versteinerte.
„Die Pferde werden täglich bewegt“, sagte er im Logan-Originalton; kühl und emotionslos. „Ich reite mit beiden aus. Jeden Morgen. Vor dem Melken. Guten Abend, Lisanne.“
Er ging mit schnellen Schritten an ihr vorbei. Sie schloss die Augen, nahm den kühlen Luftzug seiner Bewegung in sich auf. Die fehlende Wärme in seiner Stimme tat weh. Wie eine Strafe, die über ein ungezogenes Kind verhängt wurde.
Nachdem er den Stall verlassen hatte, eilte sie zu Fin und Alf, schaute sie böse an. „So, er reitet also täglich mit euch aus und ihr sagt mir nichts davon? Was habt ihr euch dabei gedacht? Schaut mich nicht so unschuldig an. Ich bin sauer auf euch!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt, lief in ihr Zimmer, schlüpfte in den Pyjama und verkroch sich mit dem Ledereinband von Mrs. Dunnighan im Bett. Sie war nicht sauer auf die Pferde. Sie wäre zu gern ausgeritten. Aber sie war sauer auf Logan. Er hatte kein Recht dazu, ungefragt mit ihrem Pferd auszureiten! Fin gehörte ihr. Und sie wollte gefragt werden, wenn er mit ihm ausritt.
„Das ist nicht fair, Chain“, flüsterte sie dem unbekannten Helden des unfertigen Manuskripts zu. „Findest du, dass es fair ist, wenn er so mit den Tieren spricht?“
Der Geruch von gebratenem Fisch weht über den gesamten Strand. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich den Fisch gefangen und zubereitet habe. Ich bin nicht gerade das, was man einen geübten Angler nennen würde. Aber bevor ich verhungere, muss ich mich in Geduld üben. Mittlerweile knurrt mein Magen so laut, dass der Fisch freiwillig gart, um meinem Elend ein Ende zu bereiten. Ich sitze im Sand und lächle zufrieden, als ich das zarte Fleisch von den Gräten trenne. Ich habe nicht mal eine Prise Salz zur Hand.
Robinson Crusoe. Chain ist wie Robinson Crusoe, dachte Lisanne, während sie Logan vergaß.
Die Wellen rollen auf den Strand. Kleine weiße Schaumkronen tanzen vergnügt auf ihren Spitzen und lassen sich wohlgefällig in den Sand fallen. Möwen hocken einbeinig in den Dünen, dösen in der Mittagssonne und wundern sich vermutlich über den seltsamen Geruch des angebratenen Fischs. Ich liebe die Ursprünglichkeit meiner neuen Heimat. Man lernt das Leben und das Essen zu schätzen, wenn man es mit seinen eigenen Händen fangen und zubereiten muss.
Am Nachmittag gehe ich am Strand spazieren. Ich lebe von dem, was ich an meinem Körper trage, von Luft und Wellen, vom Meer. Nein, nicht von Liebe. Ich habe mir oft gewünscht, von Liebe zu leben. Aber diesen Traum habe ich stets verschenkt. Liebe zu verschenken ist eine Gabe. In meinem Fall habe ich diese Gabe zum Fluch werden lassen.
Ich schließe meine Augen und habe einen Wunsch. Er wird sich erfüllen, weil ich es so will. Heute will ich von Liebe leben. Heute von meinen Erinnerungen. Von Erinnerungen an Liebe. Als ich meine Augen öffne, ist sie da. Sie schwappt vor meinen Füßen in den Wellen auf und ab. Ich muss nichts weiter tun, als meine Hand ausstrecken und sie an mich nehmen. Sie ist nass und salzig und Sand klebt an ihr. Aber ich bin glücklich. Ich kenne die Botschaft, die sie enthält. Das ist der Grund, wieso ich sie mir gewünscht habe.
Ich setze mich in die Dünen und öffne den Korken. Dann stecke ich meinen Finger in den Flaschenhals, um das gerollte weiße Papier heraus zu holen. Ich habe heute Post bekommen. Einen Liebesbrief. Und ich kann nicht erwarten, ihn zu lesen.
Sehr geehrter Chain,
Sie kennen mich nicht. Aber ich kenne Sie. Und das, was Sie für mich getan haben, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Es mag sich komisch anhören, aber es ist tatsächlich passiert. Man könnte meinen, Sie hätten mich zuerst gekannt, um dann alles zu stehlen, was Sie gesehen haben. Aber wir beide wissen, dass es nicht so ist. ( ... )
Bitte, kommen Sie uns einmal besuchen. Sie sind unser ganz persönliches Wunder!
Gott schütze und segne Sie! Vielen, vielen Dank für alles.
Sie werden immer ein besonderer Teil unseres Lebens und fest in unseren Herzen sein.
In Liebe und Dankbarkeit,
R. & L.
Heute lebe ich von Liebe. Ihre Liebe gibt mir Kraft, die Einsamkeit zu überwinden.
Was ist mit dir? Liest du deine Post auch immer schön regelmäßig? Oh, ich habe vergessen, dass du keine mehr bekommst. Ohne mich bist du nicht mal in der Lage, selbst welche zu verschicken. Ohne mich ... ohne mich werden wir beide sterben.
Ich sag dir was: Niemand hat die letzte Flaschenpost abgeschickt. Die letzte, verstehst du? Denn niemand weiß, wer sie war und was mit ihr passiert ist. Das wissen nur ... du und ich.