Читать книгу Lisanne - Julia Beylouny - Страница 9
Kapitel fünf
ОглавлениеDas laute Brummen der Melkmaschine weckte sie gegen halb acht am Morgen. Lisanne reckte sich, als ein dumpfes Plumpsen ertönte. Sie schaute verwundert auf und bemerkte den Ledereinband, der von ihrer Bettdecke auf den Holzboden gefallen war. Offenbar war sie am Abend beim Lesen eingeschlafen und hatte das Buch nicht mehr weggelegt. Das würde erklären, wieso sie die merkwürdigen Träume gehabt hatte. Von Chain. Sie hatte sehr intensiv von ihm geträumt. Hatte ihn am Strand beobachtet, wie der Wind in seinen Haaren spielte, wie er in den Wellen angelte und sich Fisch briet. Sie war ihm so nahe gewesen, dass sie ... dass sie ... Nein. Unmöglich. Ein Lächeln legte sich auf ihre Züge. Sie schloss die Augen, dachte an ihn, an den Traum und seufzte. Ein warmes Gefühl erfüllte sie. Chain hatte es geschafft, sie in seinen Bann zu ziehen.
Sie warf die Bettdecke zurück, tapste ins Bad. Es war Dienstag. Der Tag, an dem ihre Eltern aus Wales zurückkommen würden. Endlich! Sie hatte es satt, mit Logan allein zu sein.
Während sie Kaffee kochte und ihr Frühstück zubereitete, begann sie mit einem ihrer ungelesenen Bücher. Leider kein Mason. Aber sie hatte sich den Stapel für die Ferien vorgenommen und war durch Chain in Verzug geraten. Chain ...
Lisanne biss in ein Käsebrot und hatte von der ersten Zeile an Schwierigkeiten, in die Geschichte zu finden. Er lenkte sie ab. Er ließ nicht zu, dass sie jemandem begegnete, der es schaffen könnte, ihr Herz zu gewinnen. Mit jedem Wort, das sie las, dachte sie an den Leuchtturm. An den Strand, an die Dünen. Sie sehnte sich danach, mit ihm aufs Meer hinauszuschauen, mit ihm durch den Sand zu spazieren, Teil seines Lebens zu sein, ihm Gesellschaft in der Einsamkeit zu leisten. Das Klingeln des Telefons riss sie aus den Tagträumen. Sie beeilte sich, damit Logan ihr nicht zuvorkam.
„Hallo?“, fragte sie in die Muschel und beobachtete die Tür.
„Bonjour, grande soeur“, hörte sie eine kichernde Stimme.
„Shannon! Hi, wie geht es dir? Und lass den Blödsinn, du weißt genau, dass ich kein Französisch spreche.“
„Oh, isch liebe Arles! Isch werde eiraten einen Franzosen und für immer ier bleiben.“
„Du tickst nicht richtig. Jetzt sag schon, was gibt es, dass du in aller Herrgottsfrühe hier anrufst?“
Lisannes Bein wippte unruhig auf und ab. Unruhig, weil sie ständig an Chain dachte und fürchtete, Logan könnte jeden Moment hereinkommen. Sie musste den Verstand verloren haben ...
„Ich wollte mal hören, wie es Alf geht“, sagte ihre Schwester.
„Na, wie soll es ihm schon gehen? Gut, natürlich. Aber das ist doch nicht der einzige Grund, oder?“
„Was, darf ich nicht mal mehr zu Hause anrufen? Ich vermisse dich, was du offenbar nicht tust.“
„Natürlich vermisse ich dich. Aber du hast die Zeit ja schon fast rum, also sehen wir uns bald wieder. Macht es denn Spaß, dein Auslandsjahr?“
„Klar.“ Shannon druckste herum, wie sie es immer tat, wenn sie eine Überraschung so lange wie möglich zurückhalten wollte. Dann platzte es aus ihr heraus: „Stell dir vor, Ma hat gestern angerufen. Dad und sie überlegen, ihren ‚Urlaub‘ auszuweiten und mich zu besuchen! Ist das nicht großartig? Unsere alten Herrschaften in der großen, weiten Welt, kannst du dir das vorstellen? Wo sie doch ihr Grande Bretagne noch nie verlassen haben!“
Lisanne blieb die Spucke weg. In Gedanken ging sie die vergangenen Tage durch und suchte nach irgendeinem Hinweis, den sie beim Lesen überhört haben könnte. Hatte sie doch mit Dad telefoniert, als sie aus der Badewanne gekommen war? Und es wieder vergessen, oder ein Buch in der Hand gehalten und es nicht mitbekommen? Hatten Ma und Dad ihr hundertmal gesagt, dass sie nach Frankreich fliegen würden und sie ... hatte es nicht mitgekriegt?
„Tu es là?“
„Was? Ich, ähm ... Sag das noch mal.“
„Ma und Dad kommen nach Arles! Willst du nicht auch kommen? Ach, bitte! Es wird bestimmt lustig werden. Ich kann euch alles zeigen. Den Papstpalast, das Amphitheater, alles rund um Van Gogh, ...“
„Ja!“, rief sie, so laut es ging. „Ich bin dabei! Das wäre ja gelacht, wenn die mich noch mal vergessen. Das mit Tante Maggie nehme ich ihnen sowieso übel! Diesmal fahre ich mit! Wann wollen sie kommen?“
Shannon juchte vor Freude. Sollte Logan sich doch um die Pferde und den Rest kümmern. Tiere hatten es ihm ohnehin mehr angetan als Menschen.
„Sie haben was von einem Flug am Donnerstag gesagt. Am besten besprecht ihr das heute Abend, wenn sie zurückkommen. Oh, ich freu mich so, Lisanne! Hör zu, knutsch meinen Alfie von mir. Ich muss Schluss machen. Meine Gastmutti läuft schon ganz nervös vor meinem Zimmer auf und ab. Am Ende muss ich die Telefonrechnung noch mit Geschirrspülen abarbeiten. Ich hab dich lieb!“
„Ich hab dich auch lieb! Also dann bis Donnerstag.“
Es war ein Tag zum Träumen, wie sie es nannte, wenn die Sonne den Himmel in reinem Blau erstrahlen ließ. Wenn eine Sommerbrise über die Felder wehte und den Duft der Wildblumen mit sich trug. Wenn die hohen Gräser und Sträucher im Wind raschelten und die raue Gischt vom Meer herauf spritzte. Lisanne schaute aus dem Fenster, nahm jedes Detail in sich auf. Ihr Blick ging über die hintere Koppel, die sich bis zum Sumpf erstreckte. Sie entdeckte die Pferde. Finlay jagte übermütig im Galopp durch das Gras, Alfie folgte ihm, während ihre Mähnen und Schweife im Wind flatterten. Sie verfolgte jeden Hufschlag der Tiere, die über die Koppel preschten, sich neckten, mit den Vorderbeinen in die Höhe stiegen und einander zum Spiel herausforderten. Was für eine Freude, ihnen dabei zuzuschauen. Logan hatte recht behalten: Es war gut gewesen, sie auf die Weide zu treiben.
Schweren Herzens wandte sie den Blick ab, lief in ihr Zimmer, schlüpfte in Shorts und eine dunkle Bluse. Die Haare knotete sie zu einem hohen Dutt zusammen, damit sie ihr bei der Stallarbeit nicht ins Gesicht fielen. Sie erinnerte sich daran, was Logan den Pferden zugeflüstert hatte. Um nichts in der Welt wollte sie darauf warten, dass er kam, um ihr zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Finlay war ihr Pferd. Sie wusste selbst, was das bedeutete, stieg in die ausgetretenen Lederschuhe, die sie für den Stall ausrangiert hatte, und machte sich auf den Weg zu den Boxen. Während sie über den Hof lief, atmete sie die herrliche Sommerluft ein. Schwalben zwitscherten vom Giebel des Wohnhauses, wo sie sich unter dem Dach ein Nest gebaut hatten.
Ohne Fin und Alf wirkte der Pferdestall trostlos und leer. Eine schwere Dunstwolke, die nach Heu roch, hing wie Nebelschwaden im Raum. Woher sie stammte, konnte Lisanne sich nicht erklären, maß ihr auch keine weitere Bedeutung zu. Der Mist in den Boxen stand nicht besonders hoch, offenbar kümmerte Logan sich regelmäßig darum. Trotzdem war es an der Zeit, ihn gegen frisches, sauberes Stroh auszutauschen. Sie nahm sich eine der Mistgabeln, die an der Wand lehnten, und ging in die erste Box. Es war stickig, die Luft stand. Die Sonne tat ihr Übriges, indem sie die Scheune aufheizte. Lisanne schob die Schubkarre in die geöffnete Boxentür und begann, Gabel um Gabel des verdreckten Strohs hinein zu hieven. Es dauerte nicht lange, bis sie ins Schwitzen geriet. Das von Kot und Urin durchtränkte Streu wog schwer, die lästigen Fliegen surrten ihr um den Kopf. Sobald die Karre voll war, fuhr sie sie raus auf die Miste, wo das alte Stroh angehäuft und später aufs Feld gefahren wurde. Eine gefühlte halbe Stunde später waren beide Pferdeboxen sauber und ausgefegt. Lisanne sank in einen Heuhaufen, wischte sich mit einem Zipfel ihrer Bluse über das schweißnasse Gesicht und verschnaufte einen Moment. Vielleicht war es Paranoia, oder die Stille, die sie erst in dem Moment wahrnahm. Sie fühlte sich beobachtet. Etwas machte die schwere Stallluft noch drückender. Vielleicht war es das Heu, das ihr in die Arme stach und ihre Haut prickeln ließ. Sie wischte sich ein letztes Mal durchs Gesicht, strich die feuchten Haarsträhnen, die ihrem Dutt entkommen waren, hinter die Ohren und lachte. Wer sollte sie beobachten? Und wieso? Sie erhob sich, ging zur Leiter, die auf den Boden hinauf führte und begann, die Sprossen zu erklimmen. Von dort oben wollte sie einen Strohballen herunter werfen, um die Pferdeboxen mit frischer Streu auszulegen.
Lisanne liebte den Heuboden. Shannon und sie hatten als Kinder dort oben verstecken gespielt, ein- oder zweimal im Stroh übernachtet, oder sich mit den Katzen zum Kuscheln dorthin verzogen. Später hatten sie Dad und Onkel Jamie während der Ernte geholfen, die Bunde hinaufzutragen und sie zu stapeln. Links kamen die Heuballen hin, rechts lagerte das Stroh.
Als sie die letzte Sprosse erreicht hatte, stieg sie von der Leiter auf die Holzbretter, hielt sich an einem Balken fest und erschrak. Hinten, an der kleinen Dachluke, stand jemand. Als sie ihn erblickte, stieß sie einen Schrei aus. Logan hatte ihr den Rücken zugewandt, schaute aus der Luke über die Felder oder hinunter zur Koppel. Neben ihm lehnte ein Besen an der Wand. Lisanne begriff, wieso die Luft zuvor staubig gewesen war und nach Heu gerochen hatte. Er hatte gefegt, die Ballen zur Seite geräumt, um Platz für die kommende Ernte zu schaffen. So handhabte Dad es immer.
„Wollte dich nicht erschrecken oder dich bei der Arbeit stören“, erklärte er, ohne sich umzuschauen.
„Das hast du aber!“, rief sie etwas zu schroff. „Seit wann bist du hier oben?“
„Ich war lange vor dir da.“
„Dann hast du mich also beobachtet? Hast du mal dran gedacht, zu fragen, ob ich Hilfe gebrauchen kann?“ Das meinte sie nicht ernst. Sie hätte nie im Leben gewollt, dass er ihr half. Aber noch schlimmer war es, dass er die ganze Zeit dort oben gewesen war und sie angeschaut hatte. Endlich drehte er sich um. Für eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Ihr schauderte und sie war nicht in der Lage, zu erklären, was in dem Moment mit ihr geschah. Er sah mindestens genauso verdreckt und verschwitzt aus wie sie selbst. Und zu wissen, dass sie beide völlig allein auf dem Hof waren, machte sie nervös.
„Das hab ich“, sagte er. „Ich hab dran gedacht, dich zu fragen. Aber dann hab ich gesehen, dass du das ganz gut allein hinbekommst. Also hab ich mir eine Pause gegönnt und aus dem Fenster geschaut.“
Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Er machte sie wütend. Sie war im Begriff, etwas zu erwidern. Aber sie schluckte es herunter, drehte sich um und griff nach dem nächstbesten Strohbund. Ihre Wangen glühten, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und bei jeder Bewegung spürte sie seine Blicke auf sich ruhen. Sollte er doch denken, was er wollte. Es interessierte sie nicht die Bohne. Sie wollte nur noch eines: So schnell wie möglich aus dem Stall flüchten. Aus dem Stall, aus seinen Augen, aus der zum Bersten stickigen Luft und seiner Präsenz, die Lisanne kaum atmen ließ. Wenn sie nur gewusst hätte, was es so unerträglich machte, in seiner Nähe zu sein.
Es regnete Stroh, nachdem sie das Bund hinuntergeworfen hatte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, griff sie nach den Sprossen der Leiter, stieg hinab, durchtrennte die Strohbänder, verstreute die Halme in den Pferdeboxen und verließ den Stall. Draußen lehnte sie sich an die Backsteinmauer, schloss die Augen, sog die frische Luft in ihre staubigen Lungen und versuchte, ruhiger zu atmen. Sie schob ihre aufbrausende Wut auf Logan. Wie konnte er es wagen, sich nicht zu erkennen zu geben und sie heimlich bei der Arbeit zu beobachten? Und dann auch noch so dreist zu sein, ihr nicht zu helfen.