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Kapitel eins
ОглавлениеLisanne
Der See, auf den sie hinaus ruderte, war wunderschön: ein geheimnisvoller Weiher im Schilf. Sanfte Wellen brachen sich am Rumpf des Bootes, während Lisanne die Paddel in gleichmäßigen Abständen ins Wasser eintauchte. Sie vergaß die Zeit, warf den Köder ihrer Angel über Bord und lehnte sich zurück. Ihr Blick durchdrang den aufsteigenden Nebel am Ufer, wo sie die Umrisse des Herrenhauses erahnte. Frösche quakten, Grillen zirpten, und manchmal verfielen sie für kurze Zeit in denselben Rhythmus. Mücken schwebten dicht über der Wasseroberfläche. Dann sah sie seine Silhouette, die durch das Riet wandelte. Lisannes Sinne richteten sich nach ihm aus. Ein hochgewachsener, schlanker junger Mann. Seine Bewegungen waren fließend, seine Gestalt fügte sich harmonisch in das verwunschene Ufergemälde ein.
Zeile für Zeile sprang ihr in die Augen, wurde lebendig, verwandelte sich in bunte Bilder. Lisanne verkostete Wort für Wort, schmeckte die Schwere der feuchten Luft, den Geschmack des Spätsommers in den Südstaaten, sah die Villen im Kolonialstil, die Veranden mit ihren knarrenden Holzdielen. Sie war dort. In einer anderen Realität. Bis eine Stimme sie zurückpfiff und das Band der Träumereien zerschnitt.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Ein Schatten hatte sich über die Holzbank im Garten und über Lisannes Gesicht gelegt.
„Doch, doch, ja, hmhm“, murmelte sie und ließ das Buch in ihren Schoß sinken. Ihre Mutter stand mit in die Seiten gestemmten Händen vor ihr.
„Gut, dann weißt du ja Bescheid. Es tut mir leid, weil du doch gestern erst angereist bist. Übrigens ist Breda in der Küche. Sie kocht für morgen.“
„Okay, kann ich dann weiterlesen?“
„Tu, was du nicht lassen kannst.“
„Danke, Ma. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich auf die Ferien bei euch gefreut habe. Und auf meinen STUB, der unbedingt abgearbeitet werden muss.“
„Deinen was?“
Lisanne lachte. „Stapel ungelesener Bücher.“
Ma schüttelte den Kopf und verschwand durch die Rosenhecke zum Haus. Gleich darauf lag der goldene Glanz der untergehenden Sonne auf Lisannes Gesicht. Sie schloss die Augen und lauschte der Stille. Für den Moment war sie aus dem Boot gestiegen, hatte sich an Land begeben und die Angel beiseite gelegt. Es war schön, nach der langen Zeit wieder daheim zu sein. Sie hatte das Landleben vermisst. Das fröhliche Gezwitscher der Vögel, das Muhen der Kühe, das Gefühl, dem feinen Rasen beim Wachsen zuzuschauen. London war laut, dreckig und oft zu grau. Wildflowers Hill und Little Bree Isle dagegen – ein Paradies. Lisanne liebte die Romantik des alten Farmhauses mit den angrenzenden Stallungen, den urigen Garten, den geschwungenen Pattweg, der sich bis zum Törchen durch die wilden Blumen schlängelte.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus der stillen Bewunderung.
„Ja?“, fragte sie in die Muschel.
„Heyho! Bist du wieder im Land?“
Sie lächelte und freute sich, die Stimme ihrer besten Freundin zu hören.
„Hallo, Jill! Ja, ich bin gestern angekommen, habe es aber noch nicht geschafft, mich bei dir zu melden. Was machst du so?“ Das Buch wanderte von ihrem Schoß auf die Holzbank.
„Es ist Juni. Die Sonne scheint mal etwas länger als zwei Stunden“, bemerkte Jill scherzhaft. „Haben Finlay und du heute Abend noch was vor? Sonst kommt doch vorbei. Bernie ist total unausgeglichen. Wir vermissen euch!“
„Toller Gedanke! Aber ...“
„Was, aber?“
Lisanne warf einen wehmütigen Blick auf ihr Buch.
„Ich hatte gehofft, meinen Stapel Mitbringsel hier zu verkleinern. Aber du hast recht. Ich habe Fin auch vermisst.“
„Mitbringsel? Lass mich raten: Mason.“ Jills Stimme klang furchtbar gelangweilt.
„Was für eine Frage, hm? Das Haus am See hab ich Anfang der Woche durch. Ob du es glaubst oder nicht, das ist momentan mein einziger Mason. Er lag ganz unten, was den Stapel angeht. Die anderen Bücher schiebe ich schon seit Wochen vor mir her. Und plötzlich hat er sich vorgedrängt ...“
Ihre Freundin lachte. Sie hatte für Literatur nicht halb so viel übrig wie Lisanne.
„Schwingt euch rüber, ihr zwei. Dann verrate ich dir was. Du wirst mich lieben!“
Auf dem Weg zum Stall winkte Breda ihr durch das gekippte Küchenfenster zu. Lisanne winkte zurück und rief in Richtung der alten Frau: „Ich treffe mich mit Jill. Wir reiten aus. Wie lange bist du noch hier?“
„Nicht mehr sehr lange, kleine Miss. Ich lasse euch für heute Abend etwas Suppe auf dem Herd stehen. Den Rest bringe ich für morgen runter in den Keller.“
„Danke, Breda.“
Die nette, alte Dame ging Ma oft und gern zur Hand. Lisanne mochte sie. Breda gehörte seit vielen Jahren zum Inventar. Im Stall sprang die Melkmaschine an. Das monotone Brummen des Motors wirkte vertraut. Dad war pünktlich wie ein Uhrwerk. Lisanne freute sich auf den Abend mit ihren Eltern. Und auf den ganzen Sommer.
„Hey, Finlay“, begrüßte sie den Braunschecken mit leicht gesenkter Stimme, als sie den Pferdestall betrat. Sogleich schauten Fin und Alfie neugierig aus ihren Boxen. Ein paar Mädchen aus dem Dorf hatten die Painthorses als Pflegepferde adoptiert, seitdem Lisanne in London studierte und Shannon in Arles war. Sie klopfte den Tieren die breiten Hälse und bot ihnen Karotten an. Der Stallgeruch war unverändert herb, erinnerte Lisanne an die Heuernte. Oben auf dem Holzboden stapelte Dad seit jeher die Strohbunde. Halfter und Stricke hingen ordentlich an der Wand, ebenso die Westernsättel und -pads. Warmer Pferdeatem mischte sich mit dem Duft des Frühlings in Cornwall. Lisanne lauschte dem leisen Knacken und Schmatzen der Pferde, als sie die Karotten verputzten. Sie wuschelte Alfie und Fin durch die zottligen Mähnen und freute sich auf Jill.
„Tut mir leid, Alf. Shannon wirst du wohl nicht so bald wiedersehen. Aber vielleicht reiten wir zwei auch mal aus.“
Sie führte Finlay aus der Box heraus, zäumte ihn auf und schwang den Sattel auf seinen Rücken.
Der Abend war mild und wolkenlos. Kühle, salzige Luft strömte vom Meer über die Klippen hinweg und sprühte die Gischt über das Land’s End. Jill hatte auf ihrer Irish Cob Stute nahe der westlichen Monolithen auf Lisanne gewartet. Von dort aus ritten sie in die Bucht hinunter und trabten durch den im Dämmerlicht dunklen Sand. Lisanne schloss die Augen, genoss das Salz, den Geruch von Pferdeschweiß in der Luft. Sie war lange nicht mehr ausgeritten und bereute es, sich für den Sattel entschieden zu haben. Für gewöhnlich nahm sie nur ein Pad – oder gar nichts. Der Sattel hinderte sie daran, sich auf Finlays Bewegungen einzulassen. Er ließ keinen Körperkontakt zum Bauch zu, wo sie ihre Waden hätte anschmiegen können. Er verlieh ihr ein Gefühl von falscher Sicherheit.
„Und, wie sind die Jungs in London?“, rief ihre Freundin herüber.
„Jungs? Was ist das? Eine Londoner Spezialität?“
Jill rollte die Augen.
„Du meine Güte! Ein Jahr bist du nun weg und hast immer noch kein Interesse an dieser Spezies gefunden. Wo soll das noch enden? Stattdessen steckst du deine Nase viel zu tief zwischen die Pappdeckel deiner Bücher.“
„Naja, was heißt Interesse?“ Lisanne schaute über die schaumgekrönten Wellen und ließ Finlay in einen leichteren Trab übergehen. „Ich will nicht irgend einen, verstehst du? Ich warte auf den Richtigen.“
„Na klar. Hab ich schon erwähnt, dass du zu viel liest? Wenn es wenigstens Thriller wären. Aber es müssen ja diese Schnulzen sein, die dir völlig den Kopf verdrehen ...“
„Du wolltest mir was verraten, damit ich dich liebe.“
Jill grinste, während die Sonne golden in die Keltische See eintauchte.
„Wenn du Lust hast, begleite ich dich morgen in den Ort. Vor etwa einem dreiviertel Jahr hat dort ein Antiquariat eröffnet. Die Inhaberin ist furchtbar nett und die Bücher werden dir ...“
„Ein Antiquariat?“, unterbrach Lisanne begeistert. Fin erschrak und um ein Haar hätte sie die Balance verloren.
„Ja“, erwiderte Jill. „Und der Witz an dem Ganzen ist, dass es sich in unserem Nest hält!“
„Oh, Mann, Jill! Das macht es wirklich leichter, dich zu lieben. Morgen, also?“
„Ja, morgen. Und jetzt erzähl mir alles von London. Wir haben uns so lange nicht gesehen.“
Es gab tatsächlich viel zu erzählen. Das erste Jahr fern der Heimat war aufregend gewesen und schnell verflogen. Umso mehr freute Lisanne sich auf die Wochen, die vor ihr lagen.
Der Ausritt hatte gut getan. Ohne Zweifel würde sie am kommenden Tag schrecklichen Muskelkater haben. Es würde ein paar Tage dauern, bis sie sich wieder an das Reiten gewöhnt hätte. Aber Jill und Bernadette zu sehen, mit Fin durch die Dämmerung zu galoppieren, das war es ihr wert gewesen. Ganz wie in alten Zeiten.
Zurück im Stall sattelte sie das Pferd ab, führte es zufrieden in die Box. Draußen war es dunkel geworden. Finlay schwitzte kaum noch, sie hatte ihn die letzte Meile bis zum Hof im langsamen Schritt gehen lassen. Alfie begrüßte ihn mit leisem Wiehern. Lisanne warf ihnen ein paar Hände Heu in den Trog und zupfte sich die Halme aus den Haaren.
„Gute Nacht, ihr Hübschen.“
Sie verschwand über den Innenhof in den Garten, nahm ihr Buch von der Bank und lief ins Haus. Drinnen war es merkwürdig still. Nur in der Küche brannte Licht und jemand schien in der ersten Etage unter der Dusche zu stehen. Vermutlich Dad, der aus dem Stall gekommen war.
„Ma?“, rief Lisanne und biss in ein Stück Weißbrot, das auf dem Küchentisch lag. Sie legte Das Haus am See ab, nahm je zwei Stufen gleichzeitig, als sie die Treppe hochlief und auf Antwort ihrer Mutter wartete.
„Bist du zu Hause?“, fragte sie in die Stille. Oben war alles dunkel, bis auf den Lichtschein, der aus dem Bad drang. Lisanne ging in ihr Zimmer, schlüpfte aus Pulli und Jeans und lauschte, wann Dad die Dusche abstellen würde. Sie brauchte ebenfalls eine. Erfahrungsgemäß hatte er das Bad vierzig Sekunden, nachdem der letzte Wassertropfen aus der Brause getropft war, verlassen. Während sie darauf wartete, warf sie einen Blick auf die Silhouette, die sich im Halbdunkel in ihrem Spiegel abzeichnete. Sie erinnerte sich an das Bild einer Fünfjährigen, die im Kies einen Sturz mit dem Rad gedreht und sich dabei die oberen zwei Milchzähne ausgeschlagen hatte. Oder das Bild der Halbwüchsigen, die sich die langen Zöpfe abgeschnitten und ihre Haare rot gefärbt hatte. Solche Zeiten lagen hinter ihr. Sie lächelte. Ihre Haare waren honigblond nachgewachsen und hatten ihre ursprüngliche Länge – bis zur Taille – wieder erreicht. Die bleibenden Zähne hatten die ausgeschlagenen ersetzt und das runde Kindergesicht hatte sich in die weichen Züge einer Zwanzigjährigen verwandelt.
Dad stellte die Dusche ab. Lisanne zog sich das Haarband aus dem Zopf, ließ die langen Strähnen über ihre Schultern fallen und zählte die Sekunden leise in Gedanken mit. Zehn, fünfzehn, sie schmiss die Socken in die Wäschetonne, zwanzig, fünfundzwanzig, tapste in Slip und BH über den dunklen Flur, dreißig, fünfunddreißig, sie öffnete die Tür. Ein wohlriechender Dunst schlug ihr entgegen. Im Nebel des Wasserdampfes stand jemand und es war ganz sicher nicht Dad. Lisanne erschrak, unterdrückte einen Schrei, während sie nach ihrem Bademantel griff und ihn hastig überzog. Irgend so ein wildfremder, triefnasser Kerl hatte sich ein Handtuch um die Hüften gewickelt und strich sich in dem Augenblick die feuchten Haare aus der Stirn.
„Wer ... sind Sie und was tun Sie in unserem Badezimmer?“, fuhr sie ihn an.
Er schaute mindestens so überrascht wie Lisanne, machte aber keine Anstalten, seinen muskulösen Oberkörper vor ihr zu verstecken. Er musterte sie einfach, als wäre es das Normalste der Welt, in fremden Häusern zu duschen. Sein Blick durchleuchtete sie. Und seine Augen ... Seine Augen waren so grün wie die Seele Irlands.
„Ich habe geduscht“, sagte er, als wäre das nicht offensichtlich. „Drüben im Cottage ist der Warmwasserboiler kaputt. Mister O’Nare war so freundlich, mir sein Bad anzubieten bis ich den Defekt behoben habe.“ Er betrachtete sie von oben bis unten. „Ich nehme mal an, du bist Lisanne.“
Damit verschwand er über den Flur in die Dunkelheit. Sie blieb sprachlos zurück. Als sie wieder klar denken konnte, verriegelte sie die Tür und wartete fünf Minuten, bevor sie ihren Bademantel und die Unterwäsche abstreifte. Wer wusste schon, ob der Typ nicht zurückkommen und sie überfallen würde? Wo steckten ihre Eltern und wieso hatte Dad ihr nichts davon gesagt, dass der Untermieter bei ihnen duschen durfte? Und seit wann war das Cottage wieder bewohnt? Vielleicht hatte Breda Antworten auf die Fragen. Lisanne nahm sich vor, sie später anzurufen.
Breda hatte den Suppentopf, wie versprochen, auf dem Herd stehenlassen. Lisanne betrat die Küche mit nassen Haaren und hatte ihre Eltern noch immer nicht ausgemacht.
„Ma? Dad?“, rief sie.
Niemand antwortete. Das war seltsam. Ihr Blick fiel auf einen Zettel, der neben dem Buch und dem Brot auf dem Tisch lag. Anscheinend hatte sie ihn zuvor übersehen.
Lass es dir schmecken, kleine Miss!
Es wäre lieb, wenn du Logan etwas von der Suppe rüberbringen würdest. Er hat sicher einen Bärenhunger nach dem harten Tag. Morgen komme ich leider nicht. Wenn du am Dienstag Hilfe brauchst, ruf mich an.
Breda
Logan? Sie verstand nicht, griff zum Telefon und wählte die Nummer der alten Frau.
„Belforce, guten Abend.“
„Hallo, hier ist Lisanne.“
„Oh, kleine Miss, hallo. Hat euch die Suppe geschmeckt?“
Sie öffnete den Deckel des Kochtopfes und ließ den herzhaften Geruch von geräucherter Mettwurst und Linsen in ihre Nase steigen.
„Hm, noch nicht, aber sie riecht fantastisch! Sag mal, Breda, weißt du zufällig, wo meine Eltern sind und wer dieser ... Logan ist?“
Am anderen Ende der Leitung wurde es mucksmäuschenstill.
„Hallo? Bis du noch dran?“
„Ich wusste es!“ Die alte Frau schnaubte. „Ich wusste es und habe Liberty gewarnt. Aber sie wollte mir ja nicht glauben. Schade, dass sie jetzt nicht da ist, um mir recht geben zu müssen.“
„Wovon redest du?“
„Ich habe am Stubenfenster gestanden und zugeschaut, während sie im Garten mit dir gesprochen hat. Ich hatte sie gewarnt, dass du nicht zuhörst, wenn du nebenbei ein Buch in der Hand hältst. Tja, da haben wir also den Beweis. Du hast nicht zugehört, was deine Mutter dir gesagt hat. Stimmt’s? Die alte Breda weiß doch, wie verträumt die kleine Miss ist, wenn sie liest.“
„Wo sind Ma und Dad?“ Sie verlagerte ungeduldig ihr Gewicht.
„Sie sind rauf nach Wales gefahren. Deine Tante Maggie hat morgen Geburtstag. Sie wird fünfzig.“
„Rauf ... nach ... Wales ...?“ Lisanne verschlug es die Sprache. Davon hatte ihr keiner was gesagt. „Wieso haben sie mich nicht gefragt, ob ich mit will? Ich wäre gern zu Tante Maggies Geburtstag gefahren. Das ... das ist gemein! Wann kommen sie zurück?“
„Liberty hat dich gefragt. Aber, wie gesagt, du hast gelesen und warst irgendwo anders, nur nicht in diesem Garten. Sie kommen am Dienstagabend zurück. Es wird sicher sehr spät werden.“
Dienstagabend. Sie schaute traurig zu Boden. Wie gern wäre sie mitgefahren.
„Dad hätte auf mich warten können. Sie müssen gleich nach dem Melken losgefahren sein ... Ich hab ihn doch im Stall gehört. Wer soll sich eigentlich um die Kühe kümmern? Soll ... soll ich sie etwa melken?“
Breda lachte. „Du bist wunderbar, kleine Miss. Hättest du genauso viel Interesse an Männern wie an Büchern, wäre Logan dir längst aufgefallen. Er arbeitet seit gut einem Jahr für Sean und wohnt drüben im Cottage. Er war es auch, den du heute Abend im Stall gehört hast.“
Ganz langsam begriff sie. Sollte es ihr Angst machen, dass sie von all dem nichts mitbekommen hatte?
„Ich fürchte, er hat mich vorhin fast zu Tode erschreckt. Wir sind uns im Bad begegnet. Er kam aus der Dusche und ich wollte rein ... Muss ja ein komischer Kauz sein, dass er freiwillig in der verfallenen Bruchbude haust. Ich hatte absolut keine Ahnung, dass Dad jemanden eingestellt hat.“
„Oh, ich bin sicher, sie haben es dir schon öfter erzählt. Wahrscheinlich hast du nur wieder gelesen und es nicht mitbekommen. Ihr seid euch also im Bad begegnet? Vielleicht gebe ich dir doch einen kleinen Tipp: Falls du ihn interessant finden solltest – wovon ich nicht ausgehe, es sei denn, es geschieht ein Wunder – er ist nichts für dich. Hör zu, kleine Miss. Logan ist der emotionsresistenteste Mensch, der mir je begegnet ist. Was er allerdings aus der Bruchbude gemacht hat, schaust du dir am besten selbst an, wenn du ihm die Suppe rüberbringst. Und jetzt auf Wiederhören. Ich bin sehr müde, Liebes.“ „Vielen Dank, Breda. Mach dir keine Sorgen. Die einzigen Männer, für die ich mich interessiere, sind die Protagonisten in Luke Masons Romanen. Das sind die wahren Helden. So welche gibt es im richtigen Leben leider nicht. Gute Nacht!“
Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen, sich den Kochtopf zwischen Arm und Taille geklemmt, war über den Hof und den kleinen Feldweg hinuntergelaufen, bis zu der windschiefen, grünen Holztür des Cottages, vor der sie stehenblieb und überlegte, was sie sagen sollte. Für einen Moment schloss sie die Augen, erinnerte sich an Logans seltsamen Blick, mit dem er sie im Bad gemustert hatte und hoffte, dass er sie nicht noch einmal in solche Verlegenheit brachte.
Ein milder Wind kam auf, blies ihr die Haare ins Gesicht. Sie waren noch feucht und wellten sich in den Spitzen. Ein riesiger, orange leuchtender Vollmond ging über den Pappeln am Waldrand auf, tauchte den Wald in ein schwarzes Kleid und zog Lisanne in den Bann der Abendstimmung. Für einen Moment verharrte sie, lauschte dem fernen Quaken der Frösche und hätte darüber hinweg beinahe die Suppe vergessen.
„Die Tür ist offen“, zerschnitt eine Stimme von drinnen die Stille. Der Bann war gebrochen. Sie drehte am Türknauf und trat, von leisem Knarren begleitet, ein.
Logan schaute sich nicht mal um, als sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Er hing kopfüber unter dem Wasserboiler in der Spüle und schraubte an den Rohren herum. Ob er Lisanne durch das Fenster vor dem Haus hatte stehen sehen? Sie nutzte den Moment und sah sich um. Breda hatte recht gehabt, das Cottage war keineswegs schäbig und verfallen. Aus Kindertagen wusste sie, dass es aus zwei Räumen bestand: Einer Wohnküche und einem Schlafraum mit einer kleinen Waschnische. Sie war ewig nicht mehr dort gewesen. Shannon und sie hatten immer gespielt, dass es im Cottage spukte.
Die Wohnküche war nicht wiederzuerkennen. Es musste Logan gewesen sein, der sie in einem hellen Gelb gestrichen, Blumen auf die Holzfensterbänke gestellt und die uralten Bodenkacheln neu poliert und verfugt hatte. Im Herd brannte ein Torffeuer, welches die Luft mit seinem rauchigen Atem anreicherte.
„Hallo“, sagte sie, als sein Schweigen ihr zu blöd wurde. „Ich wollte nicht stören. Breda bat mich, Ihnen etwas von der Suppe rüberzubringen.“
Sie stellte den Topf auf dem Tisch ab und räusperte sich verlegen. Er hob seinen Kopf aus der Spüle, wischte sich die Hände an einem alten Lappen ab und drehte sich zu ihr um.
„Ich ... ähm ... Meine Eltern sind nach Wales gefahren“, stammelte sie und hielt ihren ausgestreckten Daumen über die Schulter, als befände Wales sich direkt hinter der grünen Tür. „Meine Tante Maggie wird fünfzig. Danke, dass Sie ... sich solange um die ... Kühe kümmern.“
„Suppe?“, fragte er, und nahm zwei Teller aus dem Schrank.
„Oh, nein, danke. Ich esse zu Hause. Beim Lesen, meine ich. Ich möchte mein Buch weiter... Schönen Abend noch.“
Sie stolperte aus der Tür, lehnte sich von außen dagegen und atmete die kühle Abendluft ein. Aus irgend einem Grund hatte sie es keine Minute länger im Cottage ausgehalten.