Читать книгу Lisanne - Julia Beylouny - Страница 11
Kapitel sieben
ОглавлениеSie hatte ihr Fahrrad in den Ständer geschoben und den Korb vom Gepäckträger genommen. Gleich nach dem Frühstück hatte Ma sie runter nach Little Bree Isle geschickt, um ein paar Besorgungen für Breda zu erledigen. Die gutmütige alte Frau hatte sich eine Grippe eingefangen und konnte kaum das Bett verlassen. Lisanne blieb stehen, als ihr Blick über die Straße ging und an dem kleinen Reisebüro hängen blieb, in dem Jill arbeitete. Sie lächelte und konnte nicht anders, als sich eine Minute zu nehmen, um sie zu besuchen.
An dem Morgen war in den Gassen noch nicht allzu viel Betrieb. Ein paar Schwedisch sprechende Touristen standen vor dem Blumenladen und besahen sich die hübschen Dekoartikel im Schaufenster.
„Guten Morgen, Jill“, rief Lisanne, als sie das Reisecenter betrat. „Bist du auch schön fleißig?“
„Heyho, du faule Studentin! Wie macht sich euer grimmiges Pflänzchen auf Wildflowers Hill?“
Lisanne rollte die Augen und winkte die Anspielung auf Logan ab. Ihre Freundin stand an der Fototapete, befüllte ein kleines Regal mit Werbeprospekten.
„Mach dir keine Hoffnung, Miss Davis. Meine Eltern sind zurück. Ich bin nicht länger allein mit dem schmutzigen, nach Kuhmist stinkenden Mann. Sie haben mich gerettet.“
Jill drehte sich um, legte den frechen blonden Lockenschopf schräg und zog eine Flappe.
„Oh, nein! Das ist ja entsetzlich hoffnungslos!“
„Hab ich dir doch gleich gesagt.“
„Pass auf, ich komme später rum und schaue ihn mir mal genauer an.“
„Du spinnst, das lässt du schön bleiben!“
„Und du? Solltest du nicht in irgendeinem Buch stecken? Zumindest mit der Nasenspitze?“
Sie lachte, erinnerte sie sich an den Traum von vergangener Nacht und dachte an Chain. Wieso gab es Männer wie ihn nicht im wahren Leben?
„Während ich darauf warte, dass Luke Mason endlich ein neues Buch herausbringt, lese ich das, was Mrs. Dunnighan mir geschenkt hat. Es ist ... einfach nur schön! Zum Träumen schön, um genau zu sein.“
Jemand betrat das Reisebüro. Jill deutete auf den Mann und senkte die Stimme: „Entschuldige mich, Kundschaft. Ich komme nach der Arbeit mal vorbei. Wenn du kein Interesse an diesem Logan hast, ich schon. Nach allem, was du mir über ihn erzählt hast, bin ich richtig neugierig geworden.“
Lisanne warf einen Blick auf die Liste, die Ma ihr gegeben hatte. Der Korb war beinahe voll. Eine Dose Ravioli und ein Kilo Mehl fehlten noch. Bryces Laden war überschaubar, die Regale bestens sortiert. Der alte Mann saß meistens an der Kasse, blätterte in einer Zeitschrift, schob das Kinn vor oder grummelte, bei dem, was er las, wunderlich vor sich hin. Früher hatten Lisanne und Shannon sich hinter den Regalen versteckt und sich Geschichten über ihn ausgedacht. Er hatte schon damals wie Albert Einstein ausgesehen. Seitdem war er kaum gealtert. Er führte oft Selbstgespräche, und manchmal kam es vor, dass er seine Zähne herausnahm und das Gebiss neben die Kasse legte. Eine abstoßende Angewohnheit.
Lisanne griff gedankenverloren nach einer Dose Teigtaschen. Sie hatte sie gerade in ihren Korb gelegt, als ein Raunen aus den Nudelreihen drang: „Spürst du es schon?“
Sie erschrak, hätte den Korb mitsamt des Inhalts beinahe fallenlassen. Wer hatte das gesagt? Sie war allein in dem Gang. Nur die dezente, zum Einkauf animierende Werbemusik dudelte aus den Lautsprecherboxen.
„Sag schon! Spürst du es?“, krächzte es erneut.
Vorsichtig lugte sie auf den Gang hinter dem Regal. Tatsächlich, dort stand eine alte Frau, die sie mit großen, braunen Augen anschaute.
„Mrs. Dunnighan! Was schleichen Sie denn hinter den Nudeln herum?“ Lisanne lachte und reichte ihr die Hand. „Geht es Ihnen gut?“
„Jaja doch! Raus mit der Sprache: Spürst du schon was, junge Dame?“
Sie kratzte sich am Kopf und hatte keine Ahnung, was die Alte von ihr wollte. Mrs. Dunnighan wartete ungeduldig, mit funkelnden Augen auf Antwort.
„Was ... genau sollte ich denn spüren, wenn ich fragen darf?“
„Hach, du hast aber eine lange Leitung, Liebes ... Ich meine natürlich das Buch. Wie gefällt es dir, was hältst du von Chain?“
Die Alte flüsterte, als wäre es verboten, laut über das Manuskript zu sprechen.
„Chain?“
„Ja, Chain. Der Herzensbrecher in der Einsamkeit.“
Lisanne schluckte, spürte die Hitze auf ihren Wangen. Sie wich Mrs. Dunnighans Blicken aus. Sollte sie ihr von den Träumen erzählen? Nein. Das wäre kindisch.
„Naja, er ist okay. Ich meine, irre, was er da tut, nicht wahr? Wer lebt schon freiwillig ...“
„Okay?“, rief Mrs. Dunnighan und schaute enttäuscht. „Weiter nichts? Du findest ihn bloß okay?“
„Was wollen Sie von mir hören? Haben Sie das Buch gelesen? Wie hat Chain Ihnen gefallen?“
Mrs. Dunnighan seufzte. Sie starrte auf ihre Hände, befühlte die hauchdünne, papyrusartige Haut. Dabei inspizierte sie die Altersflecken, als hätte sie sie in dem Moment zum ersten Mal entdeckt.
„Ich habe ihn geliebt“, flüsterte sie. Ihre Worte hauchten eine Gänsehaut über Lisannes Rücken. „Aber ich bin alt, Kindchen. Meine Liebe war stark, aber mein Alter hat sie so sehr geschwächt, dass sie Chain nie erreicht hat. Was soll ich sagen? So ist das Leben.“
„Sie ... haben ...?“
„Ich wünsche dir einen schönen Tag! Nett, dass wir mal wieder geplaudert haben.“ Mrs. Dunnighan setzte ein strahlendes Gesicht auf, das keine Spur von dem Schmerz enthielt, der in ihren Worten gelegen hatte. Sie drehte sich auf dem Absatz um, stöberte durch die Regale und verschwand, als wäre nichts ungewöhnliches passiert. Lisanne blieb verstört zurück.
Sie befestigte den Korb auf dem Gepäckträger, schob das Rad über das Kopfsteinpflaster.
Der Spätvormittag trieb die Touristen durch Little Bree Isle, die ersten Restaurants auf der „Meile“ füllten sich. Vom Hafen wehte der würzige Geruch der See herüber. Es roch nach Fisch, nach Salz, nach allerlei Düften aus den Souvenirläden und nach Autoabgasen. Lisanne überlegte, direkt zu Breda rauf zu radeln, um ihr die Einkäufe vorbeizubringen. Eine übermütige Windböe blies durch ihr Sommerkleid.
Mrs. Dunnighan hat Chain geliebt.
Das war der Grund, wieso die alte Frau das Buch nie hatte abgeben wollen. Weil sie ihn geliebt hatte. Vielleicht waren die Träume doch nicht so verrückt, wie Lisanne annahm. Konnte es möglich sein, dass man sich in eine Romanfigur verliebte?
Das Haus der Belforces war ein verwunschenes Cottage mitten im Grünen. Von der Hauptstraße aus konnte man es nicht sehen. Nicht einmal der unscheinbare Feldweg verriet, dass sich hinter der mit riesigen Trauerweiden bewachsenen Wegbiegung ein Haus befand. Die Wiesen um das Cottage herum lagen ganzjährig feucht. Bei Regen waren sie meist überschwemmt, bei Sonne bildeten sie eine offene Sumpf- und Moorlandschaft, auf der allenfalls Schafe weideten. Wenn man die Wegbiegung und die Weidenbäume hinter sich ließ, konnte man das alte, aus grauen Bruchsteinen gemauerte Haus sehen. Auf der Nordseite führte eine urige Steintreppe auf die höher gelegene Terrasse hinauf. Breda und Doyle hatten sie kaum genutzt, da die Sonne sich dort so gut wie nie blicken ließ. Moose und Farne hatten sich der verwitterten Terrasse angenommen und Breda hatte die Steintreppe mit unzähligen Blumentöpfen bestückt. Darin wuchsen Heidekraut, gelbe, weiße und violette Mauer- und Dornsteinkräuter, Wicken, Lavendel und kleine Röschen. Seit Doyle vor einigen Jahren verstorben war und Breda beinahe täglich auf Wildflowers Hill aushalf, war der Garten mehr und mehr verwildert, sehr zu Lisannes Bedauern. Der Rhododendron wucherte weit über den Giebel des Hauses hinaus, die Azaleen waren nur teilweise zurückgeschnitten und die welken Magnolienblüten lagen seit dem vergangenen Frühjahr wild verstreut im Garten. Der Rasen musste dringend gemäht, Disteln und Brennnesseln entfernt werden. Lisanne schaute sich traurig um, als sie das Rad durch das Gartentörchen schob. Unkraut wucherte zwischen den Kieselsteinchen des Wegs. In derart schlechtem Zustand hatte sie Bredas Garten noch nie gesehen.
Vor den Fenstern standen unbepflanzte Blumenkübel und gleich neben der Haustür ein Schälchen mit geronnener Milch, welches weder die Katze noch Breda geleert hatte. Lisanne stellte ihr Rad ab, nahm den Korb vom Gepäckträger und ging zur Tür. Sie war – wie immer – nicht verschlossen. Drinnen wand sich ein schmaler Flur bis hinüber zur Küche. Auf den Dielen lagen Flickenteppiche aus und goldgerahmte Bildchen an den Wänden waren die Fenster in eine andere Zeit.
„Breda?“, rief sie und stellte den Korb ab. „Ich bin’s. Ma schickt mich. Ich war einkaufen.“
„Kleine Miss, bist du das?“, ertönte eine schwache Stimme aus der Wohnstube.
„Ja.“ Sie schaute um die Ecke und fand die alte Frau auf der Couch liegen. Sie hatte sich die Patchworkdecke umgelegt und setzte sich auf, als Lisanne eintrat. „Wie geht es dir?“
„Ach, ich will nicht klagen. Es könnte schlimmer sein.“
„War Doktor Mills bei dir?“
„Nein, ich habe mir einen Kräutertee gekocht. Nur eine schwere Erkältung, denke ich, halb so wild.“
„Hier“, Lisanne bückte sich, nahm den Korb auf und trug ihn zu der alten Frau. „Brot, Wein, Ravioli, Eier, frische Milch, ... Beinahe wie bei ‚Rotkäppchen‘.“
Breda lachte. Sie war ziemlich blass um die Nase.
„Du liebe kleine Miss! Dass du mir nur keinen Wolf mitgebracht hast.“ Sie warf einen gerührten Blick in den Korb. „Vielen Dank! Dann brauche ich diese Woche nicht mehr runter ins Dorf zu laufen. Schau doch mal, da drüben, auf der Anrichte. Ich habe ein paar Scones mit Clotted Creme gebacken. Marmelade ist im Schrank. Nimm dir nur welche. Und dann erzähl mir, wie es auf Wildflowers Hill zugeht.“
Lisanne brachte das Gebäck herüber, goss Breda eine Tasse Tee ein und setzte sich auf eines der Sofas. Sie strich ihr Kleid glatt und versuchte zu lächeln.
„Ma und Dad sind zurück. Und wir fliegen morgen nach Arles, um Shan zu besuchen, ist das nicht großartig?“
Breda nahm einen Schluck aus der Tasse, ohne eine Miene zu verziehen. Dann reichte sie Lisanne einen der Scones.
„Da wird Shannon sich aber freuen.“ Die Blicke der alten Frau musterten sie eingehend. „Du bist so groß geworden. Eine wahre Schönheit. Die Luft in London scheint dir zu bekommen. Dann wollt ihr Logan also ganz allein auf dem Hof zurücklassen, während ihr in Frankreich seid?“
Hatte sie Logans Namen absichtlich erwähnt, um ihre Reaktion abzuwarten? Und tatsächlich löste sein Name ein Unbehagen in ihr aus.
„Der Kerl ist mir völlig egal“, winkte sie ab. „Soll er doch allein sein. Ich bin nicht sein Babysitter. Breda“, Lisanne legte ihr die Hand auf die Schulter, „ich mache mir Sorgen um dich. Dein Garten ... Kann ich dir irgendwie helfen? Ich meine, du bist ständig bei uns, dabei hast du hier selbst so viel zu tun.“
Die alte Frau senkte den Blick. Fast hätte Lisanne schwören können, dass eine Träne über die faltigen Wangen rollte.
„Ja, der Garten. Wenn Doyle ... Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das sehen würde. Er hat seinen Garten so geliebt.“
Ma hatte oft von Doyle erzählt. Meistens dann, wenn sie sich über Dad aufgeregt hatte. Dann hatte sie sich immer gewünscht, ihr Mann würde sie genauso lieben und auf Händen tragen, wie Mister Belforce es mit seiner Frau tat.
„Es gibt da tatsächlich etwas, das du für mich tun könntest, kleine Miss.“
„Was immer du willst.“ Ob ihre Eltern überhaupt wussten, wie es um das Grundstück stand?
„Ich denke, dass in einigen Wochen das Korn reif sein wird. Wenn die Ernte erst mal begonnen hat, wird niemand Zeit haben, sich darum zu kümmern. Daher ... Würdest du Logan bitten, in den nächsten Tagen herzukommen, um meinen Garten ein wenig auf Vordermann zu bringen? Ich wollte das längst getan haben, aber dann ist diese dumme Grippe dazwischen gekommen. Er ist ein starker Mann. Ich kann auf keine Leiter mehr steigen, um die Stauden und Büsche zu beschneiden. Bitte, würdest du das für mich tun?“
Lisanne schluckte zweimal, sonst hätte sie sich bestimmt an dem Teebrötchen verschluckt.
„Ich soll ...? Klar, ich frag ihn.“ Sie heuchelte ein Lächeln, unterdrückte den Wunsch, eine Grimasse zu ziehen und nahm sich vor, Dad darum zu bitten, Logan das mit dem Garten auszurichten.
„Ich danke dir, Liebes.“
„Keine Ursache. Brauchst du sonst noch etwas? Kann ich dein Bett aufschütteln, oder lüften? Vielleicht die Waschmaschine anstellen?“
„Nein. Ich denke, ein wenig Schlaf würde mir gut tun. Dann bin ich schnell wieder auf dem Damm. Danke für die Einkäufe.“
„Tja, also dann.“ Lisanne erhob sich. „Weißt du, ich muss noch packen! Wenn wir morgen fliegen, will ich doch vorbereitet sein.“