Читать книгу Lisanne - Julia Beylouny - Страница 7
Kapitel drei
ОглавлениеAm frühen Nachmittag war sie zurück auf Wildflowers Hill. Nachdem sie die Einkäufe bei Bryce getätigt hatten, hatte Jill sich verabschiedet. Sie musste zur Arbeit; in das hübsche Reisebüro in Little Bree Isle.
Lisanne griff nach der großen Tasche und stellte Logans Kram, zusammen mit dem Rückgeld, vor seiner Haustür ab. Sie hatte nicht vor, anzuklopfen und ihm zu begegnen. Er würde ihr mit seiner Laune den Tag verderben. Und es war ein wunderschöner Tag. Die Sonne zeigte sich ungewöhnlich lange und schien so warm, dass Lisanne es sich im Schatten der alten Linde im Garten bequem machte, um die letzten Seiten vom Haus am See zu lesen. Zu schade, dass sie einmal mehr lieb gewonnene Freunde verabschieden musste.
Das Ende rührte sie zu Tränen: George wurde in einer entscheidenden Schlacht verletzt und verlor seine Beine. Drew heiratete ihn trotzdem. Oh, wie gern sie mit Drew getauscht hätte! Breda hatte mal gesagt, es würde nicht sehr oft vorkommen, dass sich zwei Menschen, die füreinander bestimmt waren, auch fänden. Bei George und Drew war es geschehen, sie hatten einander gefunden.
Mit feuchten Augen legte sie das Buch aus der Hand und spähte in die Ferne. Die Südstaatenatmosphäre hüllte sie noch immer ein. Sie brauchte einen Moment, um George und Drew gehen zu lassen. Sie schaute ihnen zu, wie sie im duftenden Gras nahe des Ufers saßen und auf den See hinaus blickten. Die Mücken tanzten, sanfte Wellen spiegelten das Sonnenlicht. Er war ein Krüppel, ja. Aber er hatte bloß seine Beine verloren. Nicht sein Herz. Nicht seine Seele.
Logan war ganz anders als George. Alle Männer waren ganz anders als die Helden in den Romanen. Lisanne strich ihren Rock glatt. Dabei streifte ihre Hand die Tragetasche aus dem Antiquariat, die neben ihr im Gras lag. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem Rücken. Eine kribbelnde, angenehme Gänsehaut, als würde die Tragetasche einen verborgenen Schatz enthalten. Ganz behutsam glitt Lisannes Hand in die Öffnung. Ihre Finger tasteten nach dem Ledereinband, umfassten ihn und zogen ihn heraus. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie bettete das Buch in ihren Schoss und schlug es auf.
Besser als alle Masons, die ich je gelesen habe.
Sie musste herausfinden, ob das stimmte. Der Stamm der alten Linde umfing sie, als sie sich zurücklehnte und mit vor Aufregung rasendem Puls die ersten Zeilen in sich aufnahm. Baum und Gras, Sonne und Schatten, Stimmen und blökendes Getier traten in einen fahlen Hintergrund, der völlig unwichtig wurde. Buchstaben reihten sich aneinander, ergaben Sinn, malten ein Bild, entfalteten ihr süßes Aroma, dufteten wie eine Sommerwiese nach einem Regenschauer.
Wie knüpft man an, wie lebt man weiter? Wo ist der Wegweiser, der aus der Finsternis ins Licht führt? Und so wähle ich ... das Exil, um uns beide zu schützen. Vielleicht wird nur einer von uns überleben. Insgeheim hoffe ich, dass ich derjenige bin.
Wohin verbanne ich dich? Dorthin, wo mein Herz am liebsten ist.
Meine Augen sind geschlossen, während ich im warmen Sand liege, auf Ruhe, Seelenfrieden und Antworten warte, die ich niemals erhalten werde.
In der Ferne rauscht das Meer. Seevögel kreischen und eine warme Brise bläst mir die Haare in die Stirn.
Ich bin Chain. Das ist mein Name, denn wir verdienen einander. Wir verketten uns miteinander. Solange, bis ich in vollkommene Vergessenheit gerate, oder bist du stirbst.
Ich höre das leise Wispern des Dünengrases. Der endlose Sand knirscht unter meinen Handflächen. Er ergibt sich meinem Gewicht, zeichnet meine Konturen in den weißen Puder. Der salzige Atem der See steigt mir in die Nase. Irgendwie fühlt es sich gut an, hier zu liegen, meinen Körper zu spüren und zu wissen, dass ich daheim bin.
Das Pochen meines Herzens wirkt beruhigend. Wie muss es sich für dich anfühlen? Wirst du es vermissen?
Mit einem Seufzen öffne ich meine Augen. Grelles Sonnenlicht lässt mich blinzeln. Ich schaue in den Himmel hinauf, über die Dünen und die Wiesen im Osten, über die auf den Strand rollenden Wellen und die Weite des Ozeans. Ja, hier werde ich mich wohl fühlen. Ich denke nicht, dass ich dich vermissen werde. Aber an dich denken, das verspreche ich, werde ich hin und wieder tun.
Ich setze mich auf und streiche mit der Hand über die dunkle, kühle Fläche zu meiner Rechten. Es ist der schlanke Schatten des Turms im Sand. Zum Greifen nahe. An seiner Länge bemerke ich, dass es bereits später Nachmittag ist. Der erste Tag des Abenteuers neigt sich also dem Ende zu.
Ich erhebe mich und klopfe mir den Sand aus den Kleidern. Dann drehe ich mich dem Turm zu. Von hier unten – aus dem Dünental – erscheint er mächtig, erhaben, beinahe bedrohlich. Eine dunkle Festung, ein kaltes Gefängnis wie das der Rapunzel. Ganz langsam gehe ich auf ihn zu. Als die Sonne hinter der Spitze hervortritt, ändert sich die Farbe des Turms von Schwarz in Rotweiß. Der verlassene Leuchtturm von Nowhere. Er ist wieder bewohnt.
Die Holztür ist verwittert, ihr Lack blättert ab und sie knarrt, als wollte sie aus den Angeln fallen, wenn man sie zu weit aufsperrt. Ich betrete die erste Stufe der schmalen, scheinbar endlosen Wendeltreppe und atme die abgestandene, modrige Luft ein. Sie riecht widerlich. Trotzdem habe ich nicht vor, anzuhalten, bevor ich oben angekommen bin. Stufe um Stufe gleitet unter meinen Füßen dahin. Ich zähle leise in Gedanken mit. Dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig. Meine Waden krampfen. Ich bin so verdammt unsportlich. Achtundsiebzig, neunundsiebzig, achtzig. Mit jedem Atemzug pfeifen meine Lungen, die es einen Dreck schert, dass die Luft hier oben stickig ist und nach Verwesung riecht. Endlich tut sich eine weitere Tür vor mir auf, kurz bevor die Atemlosigkeit mich zur Umkehr treibt. Sie ist nicht so verfallen wie die untere. Regen und Sturm gehören nicht zu den ungestümen Gästen, die an ihr zu rütteln pflegen. Ich drehe den hölzernen Knauf herum und trete ein. Sogleich ertönen ächzendes Flügelschlagen, Kreischen und Geräusche von fliehenden Seevögeln, die sich aus den zerbrochenen Fensterscheiben stürzen. Ich erschrecke, bis mir klar wird, was ich vor mir sehe: Ein ganzer Schwarm Strandammern hat den alten Leuchtturm als Brutstätte erwählt und in ein heilloses Chaos verwandelt. Ihr Dreck klebt auf den Bodenkacheln, Federn schweben durch den Raum, zerbrochene Eierschalen zieren die Sitzmöbel.
Ich huste den Staub von meinen Bronchien und schaue mich um. Wenn man den Schmutz einmal unbeachtet lässt, dann bietet der große Wohnraum einen recht annehmbaren Anblick. Die Fenster zeigen aufs Meer hinaus und lassen ausreichend Licht einfallen, dass man im Sommer sicher ohne elektrische Hilfe auskommen kann. Unter einem dieser Fenster steht ein schlichtes Bett. Mein Bett. Es gibt eine Kochnische, ein Küchenregal, einen Tisch mit zwei Stühlen, ein Sofa, das sich zum Schlafen eignet, einen Schrank. Flickenteppiche, teilweise erhaltenes Geschirr und hinter einer halbhohen Trennwand eine Toilette und ein Waschbecken. Spartanisch. Unglaublich verdreckt. Aber, für jemanden wie mich, ausreichend.
Ich kremple die Ärmel hoch und streiche mir die Haare aus der Stirn. Eine Menge Arbeit wartet auf mich.
Den Rest des Abends nutze ich, um die Bodenkacheln zu schrubben, bis sie wieder blau-weiß sind. Ich räume auf, sammle Müll und Dreck ein, klopfe die Polster und Teppiche aus, fege Spinnweben und Staub aus den Ecken und tue alles, um den Raum bewohnbar zu machen.
Bei Sonnenuntergang sinke ich erschöpft auf das Sofa. Erschöpft und hungrig. Aber, wie die Dinge stehen, werde ich an diesem Tag nichts essbares mehr auftreiben. Meine Augen fallen zu. Gleich darauf bin ich nicht länger allein. Sie nutzt den schwachen Moment und schaut mit ihren großen, fragenden Blicken direkt in mein Herz. Ich erschrecke und springe auf.
„Nein!“, schreie ich sie an. „Verschwinde! Ich habe das nicht gewollt!“
Von dem Moment an weiß ich, dass sie mir überall hin folgen wird. Es gibt keinen Ort in diesem Leben, an dem sie mich nicht findet.
„Das ist der falsche Rasierschaum“, ertönte es in ihrem Rücken.
Cut. Lisannes Lesefluss wurde jäh unterbrochen, als die Stimme in ihr Bewusstsein drang. Die unsichtbare Spur, die ihre Augen auf den Buchstaben hinterlassen hatte, war durchtrennt und abgeschnitten worden. Das war unglaublich schmerzhaft. Ihr Buch sank zu Boden, Lisanne schaute sich um.
„Der Rasierschaum hier ist ...“
„Musst du mich so erschrecken, Logan?“, rief sie, erhob sich, stemmte die Hände in die Seiten. Er verzog keine Miene, während sie vergebens auf eine Entschuldigung wartete. Chain stand direkt an ihrer Seite. Er war einfach dort. Bei ihr.
„Den kannst du selbst behalten“, sagte Logan und drehte die Dose in seiner Hand umher.
„Ein einfaches ‚Danke, dass du für mich eingekauft hast‘ hätte genügt! Was soll an dem Rasierschaum bitte falsch sein? Für spezielle Duftnoten hättest du mir die Marke nennen sollen. Aber die Kühe interessiert das ohnehin n...“
Etwas flog auf sie zu. Aus einem Reflex heraus fing sie die Dose auf, bevor sie in ihrem Gesicht landen konnte.
„Der Duft interessiert mich nicht. Wie gesagt: Lesen kann ich.“
Er drehte sich um, verschwand hinter der Rosenhecke. Lisanne kochte vor Wut. Was bildete der Kerl sich ein? Sie würde Dad davon berichten, wie der Arbeiter sie behandelte. Es gab genug junge Burschen in Little Bree, die sich die Finger nach einem Job auf Wildflowers Hill leckten.
Ladies. Lisanne las es zweimal. Auf dem Rasierschaum stand Ladies. So ein Mist! Chain hatte sich davongeschlichen.
An der gegenüberliegenden Wand hing eine Fototapete. Strahlend blauer Himmel, weißer Sandstrand. Eine langhalsige Palme beugte sich neugierig über die Wellen, um die Spitzen ihrer Blätter ins Wasser zu tauchen. Lisanne seufzte. Ja, sie spürte, was Chain gespürt hatte. Zuvor, als er dort in den Dünengräsern gelegen und sich in den Sand geschmiegt hatte. Die selbe Sehnsucht überkam sie. Lisanne roch das Salz, als ihr die warme Brise ins Gesicht wehte. Chain. Er war bei ihr. Auf seltsame Art und Weise. Seine Einsamkeit berührte sie. Die Einsamkeit der Palme am Strand.
„Na, wohin soll die Reise denn gehen?“, fragte Jill und rutschte grinsend auf ihrem Bürostuhl herum. Der Bildschirm ihres Laptops verdeckte einen Teil ihres Oberkörpers. „Oder hast du was vergessen?“
Lisanne schaute in Jills blaue Augen.
„Den Ort, an den ich gern reisen würde ... den gibt es gar nicht“, flüsterte sie. „Und, ja, ich habe was vergessen.“
Jill hob eine Braue und schaute skeptisch. „Bist du irgendwie verwirrt? Ich meine, was genau willst du hier? Ich muss arbeiten.“
„Ich weiß. Sorry. Im Moment ist hier ja nicht gerade der Bär los ... Wenn Kundschaft kommt, verschwinde ich, versprochen.“
„Na, dann schieß mal los.“
„Ach ...“ Sie schaute in ihre Hände, in denen sie etwas hielt, und ärgerte sich über sich selbst. „Es ... es geht um diesen Logan. Er ist unausstehlich! Wie gut nur, dass meine Eltern morgen zurückkommen. Sollen sie sich mit ihm herumschlagen. Ich weiß nicht, wieso Dad so jemanden eingestellt hat.“
Bei dem Wort Logan schienen Jills Augen sich extrem zu vergrößern.
„Das klingt endlich mal interessant, Lisanne!“
„Hör bloß auf. Eigentlich ist es meine Schuld, dass er mir so blöd gekommen ist. Ich habe ihm einen Rasierschaum für Frauen mitgebracht.“ Sie hielt die Dose hoch, die sie zuvor bei Bryce im Laden umgetauscht hatte und erzählte die Geschichte aus dem Garten.
„Du spinnst!“ Jill zeigte ihr einen Vogel. „Ich hätte dem Typ sicher keine neue Dose gekauft. Kann er doch selbst machen, anstatt dir das Zeug fast an den Schädel zu schmeißen. Lass dich bloß nicht ausnutzen, okay?“
„Nein, das sehe ich anders. Er hat mich darum gebeten, ihm was aus dem Laden mitzubringen. Ich habe das Falsche gekauft, also tausche ich es auch um. Das hat nichts mit Ausnutzen zu tun.“
Jill zuckte die Schulter. „Wie du meinst. Sei mir nicht böse, aber ich muss hier noch eine Reise stornieren. Lass mich unbedingt wissen, ob der Kerl das Wort Danke kennt, ja?“
Schluss mit Sonnenschein. Lisanne hatte das Reisebüro verlassen, schob ihr Rad über das holprige Kopfsteinpflaster und sprang auf, als die ersten Regentropfen auf dem Boden aufschlugen. Dicke Wolken hatten sich über die Sonne geschoben und hingen so tief auf die Erde hinab, dass es eine Schande für Ende Juni war. Sie hasste es, bergauf zu radeln. Aber bergauf im Regen war noch scheußlicher. Ihr Shirt und der Rock waren längst triefnass, als sie in der Ferne den Giebel des Pferdestalls ausmachte. Und alles nur, wegen des dämlichen Kerls! Jill hatte recht gehabt. Er hätte seinen Rasierschaum selbst umtauschen können. Runter nach Little Bree zu radeln, in den Laden zu gehen und einen Abstecher in das Reisebüro zu unternehmen, hatte sie den halben Abend gekostet. Wertvolle Zeit, die sie zu gern mit Chain und dem geheimnisvollen Leuchtturm verbracht hätte. Wenn sie das Zeug erst mal im Cottage abgegeben hätte, würde sie sich ein heißes Bad einlaufen lassen und sich mit dem Ledereinband in die Wanne verziehen.
Der Regen prasselte unbarmherzig auf sie hinab. Sie erreichte die grüne Holztür, stellte das Fahrrad an der Hauswand ab und wrang den durchnässten Zopf aus, der sich bereits in Wohlgefallen auflöste. Dann klopfte sie an die Tür, in der anderen Hand den Rasierschaum. Lächerlich!
„Offen“, kam es von drinnen.
Sie drehte den Knauf herum und trat ein. Warme Luft strömte ihr entgegen, legte sich wie ein Handtuch um ihre zitternden Glieder. Logan saß auf einem Stuhl, die Füße auf der Tischplatte abgelegt, vor sich einen Teller mit Essensresten. Als er Lisanne sah, zog er die Brauen hoch und glotzte, als hätte er noch nie zuvor einen regendurchnässten Menschen gesehen.
„Hallo“, sagte sie mit vor Kälte klappernden Zähnen. Juni hin oder her. Sie fror fürchterlich und machte sich obendrein mal wieder zum Affen.
„Hi.“ Er nahm sie zur Kenntnis, ohne seine Sitzposition zu verändern. Ohne ihr entgegenzuspringen, ihr seine warme Jacke anzubieten, oder einen heißen Tee zu kochen. Nein, Männer wie die in Masons Romanen existierten in der Realität nicht. Männer wie ... Chain.
„Ich ... Tut mir leid, wegen des Rasierschaums.“ Sie hasste sich dafür, dass sie ihm sein Zeug hinterhertrug. „Ich hab ihn umgetauscht.“
Sie stellte die Dose neben seinen Teller auf den Tisch und wandte sich zum Gehen.
„Echt?“, warf er ihr an den Rücken. Es klang ... überrascht. Und es war kein Danke.
„Ja“, antwortete sie und schaute ihn böse an. „Und damit du es weißt: Das war das erste und das letzte Mal, dass ich dir irgendwas aus Bryces Laden mitgebracht habe.“
„Ich erinnere mich nicht, dich darum gebeten zu haben, ihn umzutauschen.“
„Oh, das hättest du früher sagen sollen! Deinetwegen bin ich halb erfroren.“
Lisanne hatte den Türknauf bereits in der Hand. Die wütenden Worte auf ihrer Zunge wollten sich nicht herunterschlucken lassen. Wieso, um alles in der Welt, hatte sie überhaupt für ihn eingekauft? Doch nicht etwa bloß, weil er so verdammt gut aussah und sie insgeheim hoffte, er wäre nicht so ein Ekel?
„Für den Regen kann ich nichts“, sagte er unschuldig.
Sie lachte. „Und ich dachte, die Legasthenie wäre dein Problem. Aber du hast ein viel größeres: Was auch immer dich am Leben hält, ein Herz ist es nicht. Guten Abend, Logan.“