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Kapitel zwei

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Sie saß auf dem verwitterten Holzbrett der Eichenbaumschaukel. Den einen Fuß angewinkelt, mit dem anderen wiegte sie sich sanft hin und her. Hoch über ihrem Kopf rauschte das Laub im Geäst des Baumes. Die Luft nahe des Ufers schien zu stehen, schwer und feucht. Das Boot lag am Steg, die Ruder steckten im Schilf. George hatte das Haus früh verlassen. Wie so oft. Er hatte nie vorgehabt, in den Krieg zu ziehen, das wusste sie. Nun sollte er unter Braxton Bragg dienen, jenem launischen, jähzornigen General, dem die Perryvilleschlacht einige Wochen zuvor nichts als Tote und Verwundete eingebracht hatte. Das Quaken der Frösche verstärkte die Melancholie in Lisannes Herzen. Würde sie George verlieren?

Ein dumpfes Vibrieren ließ sie aufschauen. Ein kühler Luftzug strich ihren Rücken. Sie hatte Logan gar nicht bemerkt. Ebenso war ihr entgangen, dass ihr Kaffee kalt geworden war und das Buch in den letzten Kapiteln lag. Sie seufzte leise, schaute verträumt in die irlandgrünen Augen. Aus dem Stall hörte sie das Brummen der Melkmaschine. Er hatte den Suppentopf zurück gebracht und schaute sie an, als würde er auf etwas warten.

„Guten Morgen“, sagte sie freundlich. „Danke für den Topf.“

Logan strich sich die braunen Haare aus der Stirn. Er roch nach Torf und Kühen. Plötzlich zog er einen Zwanzigpfundschein aus seiner dreckigen Jeanstasche und legte ihn auf den Küchentisch, gleich neben den Kochtopf.

„Das Rückgeld kannst du mir mit den anderen Sachen vor die Tür stellen.“

Er drehte sich um und wollte gehen.

„Was? Moment mal ... Was soll ich mit dem Geld?“

Er blieb in der Tür stehen, ohne Lisanne anzuschauen.

„Das habe ich doch gesagt. Hörst du denn nicht zu, wenn man mit dir redet?“

Sie klappte das Buch zu, legte es zur Seite.

„Sorry, ich war ganz in die Handlung vertieft. Irgendwie passiert mir das ziemlich oft ... Würdest du es wiederholen, bitte?“ Wieso sollte sie ihn länger siezen, wenn er es auch nicht für nötig hielt, ihr jene Höflichkeit zu erweisen?

Er stieß sich von der Tür ab, stieg in die Stiefel und verschwand wortlos im Stall.

Was für ein schräger Vogel! Lisanne murrte, schlüpfte in die Schuhe ihrer Ma, die in der Waschküche standen, und folgte ihm. Er war längst im gefliesten, inneren Bereich des Melkstandes angekommen, als Lisanne den Kuhstall betrat. Die Schwarzbunten widerkauten ihr Frühstück und dösten vor sich hin. Lisanne streckte die Hand aus und streichelte Freeda über die weiße Blesse.

„Wofür ist das Geld?“, fragte sie.

Mit geschickten Bewegungen legte Logan die Geschirre an, woraufhin die Milch durch die Leitungen bis in die Michkammer strömte. Lisanne bemerkte, wie geschmeidig seine Hände waren.

„Es ist nicht gesund, diesen Schund zu verkonsumieren“, antwortete er, ohne auf ihre Frage zu reagieren.

„Was meinst du damit?“

„Ich habe das Telefonat angenommen, dich gefragt, ob du mit einer Frau namens Jill reden willst. Du hast nicht mal reagiert. Dann hat sie gesagt, dass sie dich um elf bei Bryce treffen will. Und weil du runter nach Little Bree fährst, kannst du mir ein paar Dinge mitbringen. Dafür ist das Geld.“

„Jill hat angerufen? Wann denn?“

„Vor zehn Minuten.“

Sie ging vor Freeda in die Hocke. Das konnte nicht wahr sein. Sie hatte nichts von einem Anruf mitbekommen.

„Lesen ist ungesund. Das Haus könnte in der Zwischenzeit abbrennen. Verstehst du, was ich damit sagen will?“

„Das Buch ist ...“ Sie schluckte ihre Faszination traurig runter. „Es ist ohnehin bald zu Ende. Und soweit ich weiß, hat Mason noch kein neues herausgebracht. Keine Ahnung, was ich bis dahin tun soll.“

Mason ...?“

„Ja. Mason. Einer der besten Autoren unserer Zeit.“

Sie schob der Kuh einen unerreichbaren Krümel Maissilage hin. Freeda verputzte ihn und ließ ihre Zungenspitze in die Nasenlöcher fahren.

„Ich soll dir also was mitbringen? Schreib mir eine Liste.“

Logan hob den Kopf und schaute, als hätte sie ihn beleidigt. „Ich brauche Reis, Mehl, Räucherlachs, Zucker, Rasierschaum, ...“

„Schreib es auf, okay?“ Lisanne erhob sich und klopfte sich das Stroh aus den Kleidern. „Du hast ja selbst bemerkt, wie es um meine Aufmerksamkeit und mein Gedächtnis steht.“

Sie lief in ihr Zimmer, flocht sich die Haare zu einem Zopf, schlüpfte in einen blumigen Sommerrock und ein weißes Shirt und freute sich auf Jill und das Antiquariat. Logan war ein komischer Kauz, ziemlich unfreundlich und schwer einzuschätzen. Das lag entweder daran, dass Lisanne mit lebendigen Männern nichts anfangen konnte, oder daran, dass er so emotionsresistent war, wie Breda gesagt hatte. Sie warf einen Blick in ihre Geldbörse, nur für den Fall, dass es in dem Buchladen einen Mason gab, den sie noch nicht kannte. Dann wählte sie Tante Maggies Nummer, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Als sie zurück in die Küche kam, wartete Logan bereits in der Tür. Stallluft strömte unaufhaltsam ins Haus hinein.

„Oh, gut, gibst du mir die Einkaufsliste?“

„Ja, hier ist sie: Reis, Mehl, Räucherlachs, Zucker, Rasierschaum, ...“

Lisanne ließ die Schultern sinken. Er trieb sie bereits in den Wahnsinn. Ohne etwas zu erwidern, legte sie einen Kugelschreiber und einen Zettel auf den Küchentisch, bevor sie in ihre Sandalen schlüpfte. Logan ignorierte das Schreibzeug.

„Bitte, es ist gleich elf. Jill wird schnell ungeduldig, wenn man sich verspätet. Schreib deinen Kram auf.“

„Es würde sicher nicht schaden, wenn du dein Gedächtnis mal trainieren würdest. Also: Reis, Mehl, Räucherlachs, Zu...“

Schreib es auf!

Seine Hand zitterte. Der Typ machte sie wütend.

„Verdammt noch mal, Logan, wo ist das Problem?“

„Ich kann nicht schreiben“, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. „Wenn du es dir notieren willst, wiederhole ich es noch mal.“

Autsch! Ganz langsam erhob sie sich aus der Hocke, in der sie die Sandalen zugeschnallt hatte, und schaute ihn an.

„Was? Du ... Du kannst nicht ...? Ist das dein Ernst? Ich meine, ich ... Es gibt ...“

„Also, bringst du mir nun die Einkäufe mit, oder nicht?“

„Natürlich. Es ... Es tut mir leid, Logan. Ich hatte keine Ahnung, dass du ...“ Sie fühlte sich hundeelend. Das war noch schlimmer als die Szene im Bad. „Ich meine, ich ... Weißt du, ich studiere Lehramt in London. Englisch und Literatur. Wenn du ... Ich könnte dir helfen, Logan. Legasthenie ist heutzutage keine ...“

„Darauf komme ich sicher nicht zurück.“

„Lesen und Schreiben sind ...“

„Lesen kann ich“, sagte er mit fester Stimme. „Das Schreiben macht Probleme.“

„Gut, wie du meinst.“ Sie strich ihren Rock glatt und griff nach dem Kugelschreiber. Arroganter Idiot!, wollte sie sagen. Stattdessen blieb sie höflich, wie es sich gehörte. „Mein Angebot steht. Ich werde mit niemandem darüber reden, wenn es dir unangenehm ist. Also, was soll ich dir mitbringen?“

Es war warm, die Sonne strahlte. Lisanne hatte den Korb auf ihren Gepäckträger geschnallt und fuhr mit dem Rad durch die Felder Richtung Ortschaft. Little Bree Isle war ein Achthundertseelendorf. Wildflowers Hill – der Hof ihres Vaters – lag abgeschieden auf einem kleinen Hügel. Das Cottage, das Haus der Belforces und das der Davis’ waren die einzigen Nachbarn, die sie in der näheren Umgebung hatten.

Am Wegrand blühten wilder Ginster und Heidekraut. Lisannes Blick schweifte zum Horizont hinüber, wo die Hügelgräber zu sehen waren. Bruchsteinmauern und Hecken trennten die Weideflächen vom Sumpf. Das alles war nicht mit London zu vergleichen.

Während der Fahrtwind ihre Wangen streifte, fragte sie sich, wieso ein gestandener Mann des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht gelernt hatte, zu schreiben. Die Tatsache allein reichte aus, um sich in ihrer Berufung, Lehrerin zu werden, neu bestärkt zu fühlen. Legasthenie gehörte ausgerottet. Auch wenn Logan – wie seinesgleichen – ätzend war.

„Heyho!“ Jill lehnte an der Backsteinmauer von Bryces Laden und winkte. „Du bist bloß eine Minute zu spät. Prima!“

„Ja, ich finde, das verdient ein großes Lob. Hallo, Jill.“ Sie stieg vom Rad ab und schob es über das Kopfsteinpflaster zum Fahrradständer. Im Ort herrschte reger Betrieb. Eine Touristengruppe inspizierte die schmalen Gassen und Lädchen. „Gehen wir direkt zum Antiquariat? Ich muss später ein paar Dinge für Logan besorgen.“

Logan?“ Jill machte große Augen. „Was ist das? Eine Wildflowers Hill’sche Spezialität?“ „Sehr witzig!“

„Nein, im Ernst. Das interessiert mich. Das ist der erste Name eines Mannes, den du erwähnst, der nicht mit dir verwandt ist, aus einem Buch oder deiner Sandkastenzeit stammt. Hey, ist das etwa der, mit dem ich heute Morgen telefoniert habe?“

„Genau der. Im Übrigen erwähne ich ständig irgendwelche Männernamen.“

„Sagte ich doch. Die aus deinen Büchern von ... Luke ... Luke Mason.“ Jill rollte die Augen. „Wie heißen die gleich? George, Riley, Casper, Darian, Pierce – bei dem hatte ich übrigens zuerst an Brosnan gedacht, wie dumm von mir! – Roderick, Sal, ...“

„Halt die Klappe, Jill. Du solltest die Bücher selbst lesen, dann würdest du verstehen, dass seine Figuren die wahren Helden sind! Im Übrigen bin ich erstaunt, dass du dir all diese Namen gemerkt hast.“

„Wenn man sie so oft hört, dass man schon Ohrenbluten davon bekommt ...“

Lisanne stieß ihrer Freundin in die Seite, um sie zum Aufbruch zu animieren.

„Na, komm schon. Wo ist dieser tolle Laden?“

„Ich geh ganz bestimmt nicht mit rein. Wollte ihn dir nur zeigen, damit das klar ist. Und jetzt klär mich auf: Wer ist Logan?“

Sie liefen durch die Straßen von Little Bree Isle. Der Ort bestand aus vier Gassen und der Hauptstraße. Es gab eine Kirche, eine Schule, einen Dorfteich, einen Bäcker, sogar einen Arzt und das Reisebüro, in dem Jill arbeitete. Einen Blumenladen und seit Neuestem das Antiquariat. Für alles andere war Bryce der richtige Ansprechpartner. Es gab kaum etwas, das es in seinem Laden nicht gab. Binnen weniger Tage bestellte er alles, was das Herz seiner Kundschaft begehrte. Im Hafen gab es die „Touristenmeile“, wie die Einheimischen sie nannten. Souvenirläden, Cafés, Restaurants, ...

„Huhu!“, rief Jill. „Wer ist die geheimnisvolle Stimme aus dem Telefon?“

Lisanne ließ ihren Blick über das Kopfsteinpflaster huschen. Es machte den Anschein, als wäre es vor langer Zeit wie wilde Pilze aus der Erde geschossen. Dass es dermaßen ausgetreten war, war den Touristen zu verdanken. Zu jener Zeit, von Mai bis September, pflegten sie, Little Bree zu überrennen.

„Logan ist der Arbeiter meines Vaters“, erklärte sie. „Ein verschrobener, arroganter Typ, der sich im Cottage eingenistet hat. Optisch auf jeden Fall mit Masons Helden zu vergleichen. Charakterlich eine ziemlich aussichtslose Angelegenheit, eiskalt und ohne irgendein Gefühl. Ach, hab ich dir schon erzählt, dass meine Eltern nach Wales zu Tante Maggie gefahren sind? Ist das nicht mies? Sie hätten mich ins Auto zwingen müssen.“

„Du meine Güte! Das heißt, du bist jetzt ganz allein mit ihm?“ Jill schmunzelte verschwörerisch. „Meine süße, naive Lisanne mit einem nach Schweiß und Kuhmist stinkenden Mann ... Das wäre eine Geschichte für diesen Mason! Zeigst du mir Logan mal? Ich kenne mich mit aussichtslosen Charakteren bestens aus.“

„Du hast einen Vogel.“

Jill lachte, dass ihre weißen Zähne in der Sonne blitzten. Dann stoppte sie und zeigte auf Mister Moyers Backsteinhaus. „Dort drüben ist es.“

„Oh, im alten Friseursalon?“, rief Lisanne.

„Ja. Nach Mister Moyers Tod stand der Laden ewig leer. Ist doch toll, dass die Alte ihn gemietet hat. Ich liebe diese urigen Häuser hier in Bree.“

Sie gab ihrer Freundin recht. Das Haus hatte sich verwandelt. Lisanne bestaunte das kleine mit Gold umrandete Schaufenster und die schmale Glastür, in der ein Schild hing: Open.

Ihr Herz vollführte einen Freudensprung.

„Oh, es sieht so schnuckelig aus! Hast du das Messingschild über der Tür gesehen? Worth reading – lesenswert. Das hört sich so bezaubernd an!“ „Mein Gott, ich verschwinde. Wo treffen wir uns?“ „Komm doch bitte mit, Jill!“

„Danke, nein. Ich setze mich in der Zwischenzeit an den Hafen und warte darauf, dass die Touristen mich irgend etwas Lächerliches fragen. Also, beeil dich.“

Auf der Fensterbank des Antiquariats stand ein Blumenkasten. Üppige Verbenen quollen daraus hervor, leuchteten in frischem Flieder und Weiß. Eine lesende Steinfigur hockte daneben und rang Lisanne ein Lächeln ab. Als sie durch die Tür in den Laden trat, klingelte ein Glöckchen.

„Bin gleich bei Ihnen!“, ertönte es aus einer Ecke.

Die Tür fiel zu und Lisanne verschlug es die Sprache. Mit geschlossenen Augen nahm sie den staubigen Geruch alter Bücher in sich auf. Deckenhohe Regale füllten den Raum aus, ein jedes bis zum Bersten mit Literatur geschwängert. Vor einem der Regale lehnte eine Holzleiter, die das Erreichen höher gelegener Fächer ermöglichte. Lisanne entdeckte ein Fenster, das zum Hinterhof hinaus zeigte und unter dem ein Ohrensessel zum Stöbern einlud. Eine Leselampe stand auf einem eichenhölzernen Dreifuß. Was für ein gemütlicher Ort zum Träumen! Sie musste achtgeben, Jill nicht zu vergessen.

Lisanne wanderte von Regal zu Regal, nahm hin und wieder ein Buch heraus, las es an und schob es in seine Lücke zurück. Beinahe jedes Genre war vertreten. Von Klassikern über Reiseführer, von Uraltwälzern bis hin zu Gegenwartsliteratur. Thriller, Fantasy, Krimis, Historisches, Schnulzen – wie Jill sie nannte. Und dann machte Lisannes Herz einen erneuten Freudensprung: Mason. Das Antiquariat verfügte über ein komplettes Regal von Luke Mason. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über jeden einzelnen Band, las die Titel, schmunzelte bei der Erinnerung an die Bücher und deren Protagonisten. Oh, wie sie Jill liebte! „Entschuldigen Sie, junge Dame. Ich habe Sie lange warten lassen. Haben Sie schon was gefunden, oder darf ich Ihnen behilflich sein?“

Die Stimme der alten Frau klang nett und lebendig. Lisanne hob den Kopf und schaute in zwei wunderschöne braune Augen. Wenn das Gesicht ihres Gegenübers auch faltig und von schweren Jahren gezeichnet war, die Augen waren so jung wie die eines Kindes, das neugierig in die Welt blickte. Über ihrer Brust baumelte eine Lesebrille an einem Band. Eine dünne, aber willensstarke Hand streckte sich Lisanne entgegen.

„Mein Name ist Eleonora Dunnighan. Ich bekleide das ehrwürdige Amt, diese unzähligen, stets wispernden Buchstaben am Leben zu erhalten.“

Lisanne schlug begeistert ein. „Das haben Sie schön gesagt, Mrs. Dunnighan. Ich bin Lisanne und immer auf der Suche nach literarischen Abenteuern. Momentan habe ich das Gefühl, im Paradies zu sein!“

Mrs. Dunnighan zog sie nahe an sich heran, sodass Lisanne ihr dezentes, nach Weihrauch duftendes Parfum einatmete.

„Ich habe es gleich gespürt“, raunte die Alte. „Wir beide sind seelenverwandt. Es gibt nur wenige Menschen, die wissen, was es bedeutet, ein Buch zu lesen. Bei dir, junge Dame, bin ich sicher, dass du es weißt.“

„Jaja, schon möglich ... Ähm, ist das da drüben alles, was Sie von Luke Mason haben?“

Mrs. Dunnighan löste den Händedruck und zog eine Braue hoch.

„Was soll das heißen, alles? Es sind seine zehn Bestseller. Das Neueste, Das Haus am See, ist selbstverständlich auch dabei. Und einen Mason lassen Menschen wie du und ich uns doch auf der Zunge zergehen, nicht wahr?“

„Natürlich tun wir das.“ Lisanne lächelte beschämt. „Ich wollte damit nur sagen, dass ich all diese Bücher von ihm bereits kenne und hatte gehofft, ein mir unbekanntes Exemplar zu entdecken.“

Mrs. Dunnighan schob sich die Lesebrille auf die Nase, prüfte mit der linken Hand die Festigkeit ihres Dutts und musterte Lisanne. Ihr Weihrauchparfum vereinte sich mit dem herrlich staubigen Bücherduft.

„Wir sollten uns setzen, junge Dame“, sagte sie, drehte sich um und lief zum anderen Ende des Raumes hinüber, dorthin, wo der Ohrensessel stand. Lisanne folgte ihr und erwartete, dass die alte Frau es sich in dem Sessel bequem machte. Stattdessen drückte sie Lisanne in das weiche Polster hinab. Mrs. Dunnighan schob die Leselampe zur Seite und setzte sich – zu Lisannes Erstaunen – auf den morsch wirkenden Dreifuß.

„Aber ... das ... Kommen Sie, setzen Sie sich doch in den Sessel. Ich kann auch stehen oder mich auf den Holzstuhl ...“

„Kein Wort, junge Dame. Noch bin ich keine Hundert, kapiert? Zudem passt mein knochiger Hintern besser zu dem harten Holz.“

Mrs. Dunnighans Hand wanderte an ihr Kinn, wo ihre Finger unruhig auf und ab tippten. Die braunen Augen verfügten über einen die Röte ins Gesicht treibenden Röntgenblick. „Du suchst also etwas von Luke Mason. Was liest du sonst noch?“

Lisanne zählte brav ihre Lieblingsautoren auf, die unzähligen Bücher ihres STUBs und alles, was sie bereits an Lektüre gelesen hatte. Sie kam sich vor wie in einer Prüfung und fragte sich, wieso es die Alte interessierte.

„Bemerkenswert“, murmelte Mrs. Dunnighan. „Du scheinst in deinem jungen Leben schon mehr gelesen zu haben als die NASA Kilometer durchs All gebraust ist. Nun, leider habe ich nur das, was du hier in den Regalen zu finden vermagst. Aber ...“ Die alte Frau erhob sich und schaute einen geheimnisvollen Blick. „Weißt du was, Lisanne? Je länger ich dich betrachte, desto seltsamer wird mir zumute. Irgendwas sagt mir, dass du die bist, auf ich die ich sehr lange Zeit gewartet habe. Ein gefühltes halbes Leben lang, um genau zu sein.“

Ein Frösteln rieselte durch ihre Glieder.

„Sag mir, Kind, was empfindest du beim Lesen? Und komm mir nicht mit Alltagsantworten wie: ‚Es macht mir Spaß‘, ‚Ich finde Ablenkung vom Stress auf der Arbeit‘, oder Nonsens wie: ‚Ich lese dieses Buch, weil alle es gelesen haben und ich mitreden will‘. Bedenke deine Antwort gut und lass sie deinem aufrichtigen Herzen entspringen.“

Lisanne schluckte. So unheimlich und geheimnisvoll die Situation auch war, Mrs. Dunnighans Worte öffneten etwas in ihr. Sie berührten eine wunderschön klingende Saite in ihrem Innern. Seelenverwandt, ja das traf es. Endlich war dort jemand, der sie verstand. Der nicht über sie lachte oder ihre Leidenschaft für Bücher als Schwachsinn abtat. Lisanne lehnte sich verträumt zurück und ließ ihr Herz sprechen: „Wenn ich ein Buch in der Hand halte, dann entschwinde ich in eine fremde Welt“, schwärmte sie. „Ich bin Teil der Handlung, lebe in den Zeilen und fühle, was die Figuren durchleben. Ich atme die schwere, die süße, die bittere Luft. Ich friere, wenn es schneit, ich schwitze, wenn ich in der Schwüle auf den See hinaus rudere. Ich höre das Zirpen der Grillen und das Quaken der Frösche. Manchmal juckt es mich sogar, wenn die Mücken sich auf meine Arme setzen. Ich lebe im vorletzten Jahrhundert, ich bereise den Mars. Ich bin eine Nymphe, eine arme Witwe, ein vom Blitz getroffenes Tier. Es gibt wahnsinnig viele Gerüche in einer Geschichte. Finden Sie nicht auch, dass Texte verschiedene Geschmäcker haben? Es gibt Bücher, die schmecken süß wie reife Bananen mit Honig. Und welche, von denen einem übel werden kann, weil sie ungenießbar sind. Die wenigsten malen reale Bilder. Flieder und Smaragdgrün, strahlend Gelb oder leuchtend Himmelblau. Es gibt tote Bücher, die keine rechte Gestalt annehmen wollen und bis zur letzten Seite neblig grau sind. Und es gibt lebendige Bücher, die so intensiv an meinem Inneren rütteln, dass ich nur noch weinen oder lachen oder träumen will.“ Lisanne atmete tief durch, bevor sie zum Ende kam. „Und wenn ich ein solches Buch aus der Hand lege, dann kehre ich sonnengebräunt, bereichert, voller Fernweh und dankbar in meine Welt zurück. Aber die Sehnsucht auf ein neues Abenteuer lässt nicht lange auf sich warten. Es ist schmerzhaft, liebgewonnene Freunde am Ende eines Buches zu verlieren, verstehen Sie, was ich meine?“

Lisanne schaute in die funkelnden braunen Augen, die einfach nicht zu dem greisen Gesicht passen wollten. Ob Mrs. Dunnighan sie für verrückt hielt?

Ein triumphales Lächeln umspielte die schmalen Lippen ihres Gegenübers. Laut- und wortlos ging die alte Frau zur Theke hinüber, auf der eine antike Kasse stand, und winkte Lisanne zu sich. Sie erhob sich und begleitete Mrs. Dunnighan ahnungslos in den hinteren Bereich des Ladens.

„Ich ... ich hoffe, Sie halten mich nicht für übergeschnappt“, faselte sie. „Das war meine ehrliche Antwort auf Ihre Frage. Ich muss jetzt auch los. Meine Freundin wartet unten am Hafen und zudem muss ich noch einige Einkäufe erledigen ...“

„Schsch, kein Wort, junge Dame. Du bist es. Du bist die, auf die ich immer gewartet habe und wenn du es jetzt mit deinem Geschnatter verdirbst, werde ich kein nächstes Mal erleben. Kapiert?“

„Ähm ... Nein, nicht wirklich. Wieso haben Sie auf mich gewartet?“ Lisanne begriff nicht.

Die alte Frau lief zu einer schweren Eichentruhe, die eine komplette Nische ausfüllte und von Holzwürmern geplagt war. Sie hob den knarrenden Deckel an, griff in die Truhe und zog ein in Leder gebundenes Buch heraus. Dann blies sie ihre Wangen auf, pustete eine Menge Staub von dem Einband, hüstelte, strich liebevoll über das Leder und presste das Buch an ihre Brust. Als Mrs. Dunnighan ihre Stimme erhob, klang sie feierlich wie die einer frisch gekrönten Kaiserin.

„Dies, meine liebe, ist etwas ganz besonderes. Man sollte meinen, jemand in meiner Stellung käme des Öfteren an Werke wie jenes hier. Aber dem ist nicht so. Dem ist gewiss nicht so.“ Die Alte stöhnte. „Es ist mir ein so seltenes und wertvolles Exemplar, dass ich es nicht jedem X-Beliebigen mitgeben würde. Um genau zu sein: Ich hatte nie vorgehabt, es überhaupt jemandem zu überlassen. Aber du – jemand wie du – bist mir vom Himmel ein Geschenk. Meine Tage sind gezählt. Und wenn ich es denn aus der Hand geben muss, dann in Hände wie deine. Ich kann sicher sein, nach allem, was du da eben gesagt hast, dass es bei dir ankommen kann. Es ist ein Buch, welches auf Reisen war. Nun nicht mehr. Nun ist es angekommen. Du suchst nach einem Buch in meinem Antiquariat? Hier bekommst du mehr als nur ein Buch.“

Lisanne kratzte sich am Kopf und fragte sich, wer von ihnen übergeschnappt war.

„Nimm es, Lisanne. Bitte, nimm es. Lies es, lebe es, verliere dich in dieser Geschichte.“ Mrs. Dunnighan streckte beide Hände aus und reichte Lisanne den Ledereinband. Sie nahm ihn zögernd an, aber bevor die alte Frau ihn losließ, flüsterte sie: „Lass dich warnen: Es wird etwas mit dir anstellen. Es wird dich verändern. Es wird dein Leben auf den Kopf stellen. Und“, die Alte stöhnte erneut, „es wird dir das Ende vorenthalten.“

„Mir das Ende ... vorenthalten?“ Mrs. Dunnighan zuckte die Achseln. Gleich darauf sprach sie über ihr heiligstes Exemplar, als wäre es nichts weiter, als belangloses Gekritzel. „Naja, es ist ein unfertiges Manuskript. Du wirst dich furchtbar aufregen, weil es mittendrin abrupt endet. Aber ... lies selbst, um zu verstehen, was ich meine. Und jetzt, geh bitte. Ich schließe den Laden für heute.“

Lisanne hatte das Antiquariat verlassen. Sie war verstört, neugierig und von einem mulmigen Bauchgefühl geplagt. Mrs. Dunnighan war eine Märchengestalt, aber die geheimnisvolle Alte gefiel ihr.

„Behalte es“, hatte sie gesagt. „Es ist ein Geschenk. Und um so viel besser als alle Masons, die du je gelesen hast.“

Besser als alle Masons, die ich je gelesen habe, hallte es in ihrem Kopf nach. Sie blieb stehen, schaute zum Hafen hinunter und entdeckte Jill, die nahe eines Anlegers saß und ihre Beine ins Wasser baumeln ließ. Ihre Freundin hatte sie noch nicht bemerkt. Das nutzte Lisanne, um einen hastigen, bauchkribbelnden Blick in den Ledereinband zu wagen. Nur den Titel erhaschen ... oder den Namen des Autors. Oder war es eine Autorin? Sie klappte den Buchdeckel auf und zog ein langes Gesicht. Jemand hatte die ersten Seiten lieblos und unsauber herausgerissen. Sie spürte den Schmerz der verstümmelten Bögen, die einmal lebendige Schriftzeichen getragen hatten. Das Manuskript war von Hand geschrieben. Zum Glück leserlich. Aber ... Lisanne blätterte vor und wieder zurück ... aber nirgends war ein Titel oder der Name des Verfassers zu finden. Wie schade.

„Was hast du dir denn da für ‘n Schrott andrehen lassen? Das hast du doch wohl nicht bezahlt?“

Sie erschrak. Jill spähte ihr über die Schulter und spottete über das geheimnisvolle Manuskript, welches Mrs. Dunnighan so viel bedeutete. Schnell klappte Lisanne es zu und ließ es in ihrer Tragetasche verschwinden.

„Nein, das“, sie setzte ein belangloses Lächeln auf, „das hat die Inhaberin mir geschenkt. Mal sehen, was ich damit anstelle. Ich hoffe, du hast nicht zu lange warten müssen. Auf zu Bryce?“

Jill schaute skeptisch, dann nickte sie. „Klar. Auf zu Bryce. Geschenkt, also? Hm, na dann. Einem geschenkten Gaul ... Du weißt schon.“

Lisanne

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