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I.Die Regelungsautonomie der verfassten katholischen Kirche und der Caritas im kollektiven Arbeitsrecht 1.Kirchliches Selbstbestimmungsrecht
ОглавлениеWenn man heute nach Bedingungen und Begründungen des Dritten Weges fragt, findet man die Antwort im Verfassungsrecht: Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Demnach „ordnet und verwaltet [jede Religionsgesellschaft] ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. In seinem Urteil zum Dritten Weg 2012 kam das BAG zu dem Ergebnis, dass Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV den Kirchen die Gestaltung der Rechtsverhältnisse mit ihren Mitarbeitern im kollektiven Arbeitsrecht gewährleistet.38 Die Kirchen können aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts ein am Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft ausgerichtetes Arbeitsrechtsregelungsverfahren schaffen.39 Zu den „eigenen Angelegenheiten“ i.S.v. Art. 137 Abs. 3 WRV gehören sowohl die Regelung der Dienstverhältnisse als auch die Möglichkeit, zur Regelung der Dienstverhältnisse die Formen des Privatrechts zu nutzen.40 Diese Regelungsautonomie betrifft nicht nur die Frage, „ob“ für kirchliche Bedienstete das weltliche Arbeitsrecht Anwendung finden soll, sondern auch „wie“ diese Anwendung ausgestaltet wird. Eine Religionsgesellschaft kann daher grundsätzlich selbstständig darüber befinden, ob sie die Arbeitsbedingungen durch den Abschluss von Tarifverträgen regelt oder ob sie diese in Arbeitsrechtlichen Kommissionen vereinbart.41 Auch die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse (GrO) weist in ihrer Präambel auf die durch das Grundgesetz garantierte Freiheit der Kirche hin, „ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen“.42
Auf dieses Selbstbestimmungsrecht können sich auch Einrichtungen berufen, die nicht verfasste Kirche sind, sofern sie ihrem Zweck nach auf die Verwirklichung eines kirchlichen Auftrags gerichtet sind und eine institutionelle Verbindung zur Kirche aufweisen, aufgrund derer die Kirche über ein Mindestmaß an Einflussmöglichkeiten verfügt.43 So wird die Tätigkeit der verbandlichen Caritas zum einen über Art. 4 Abs. 2 GG geschützt, denn karitative Tätigkeit ist Teil der Religionsausübung, zum anderen gilt auch für diese das Selbstbestimmungsrecht, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV.44 Das deutsche Staatskirchenrecht beruht insofern auf zwei Pfeilern, dem Grundrecht der Religionsfreiheit und den institutionellen Garantien der Weimarer Reichsverfassung, die über Art. 140 GG Anwendung finden.45 Gleichwohl stellen Art. 140 GG und die kirchenrechtlichen Bestimmungen der WRV keine Grundrechte i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG dar, eine etwaige Verletzung dieser Bestimmungen kann jedoch durch eine Verfassungsbeschwerde und eine mögliche Rechtsverletzung der korporativen Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG erreicht werden.46 Soweit sich die Schutzbereiche der korporativen Religionsfreiheit aus Art. 4 GG und des Art. 137 Abs. 3 WRV überlagern, geht letzterer als speziellere Norm insoweit vor, als er das Selbstbestimmungsrecht der Schranke des für alle geltenden Gesetzes unterwirft.47
Mit den „für alle geltenden Gesetzen“, i.S.v. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV ist nicht der allgemeine Gesetzesvorbehalt gemeint.48 Die Bedeutung dieser Schranke war lange Zeit ungeklärt.49 Heute erfolgt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter, um der Wechselwirkung zwischen Kirchenfreiheit und Schrankenzweck Rechnung zu tragen.50 Das bedeutet insbesondere in dem hier betrachteten Bereich, dass „kirchliche Belange und die korporative Religionsfreiheit mit den Grundrechten der betroffenen Arbeitnehmer und deren in den allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen enthaltenen Interessen auszugleichen“ sind.51 Ein „für alle geltendes Gesetz“ kann neben kollidierendem Verfassungsrecht auch ein Rechtsgut des Allgemeinwohls sein, beide Rechtspositionen sind in möglichst hohem Maß zu verwirklichen.52
Diese heutige staatskirchenrechtliche Begründung des Dritten Weges könnte auch ein Motiv der ursprünglichen Entstehung des Dritten Weges gewesen sein. Denn sowohl die Überlegungen für ein eigenes Arbeitsrecht in der Caritas als auch die Arbeit der vom VDD eingesetzten Kommission, die das System der KODA-Ordnungen entwickelte, beginnen zu Zeitpunkten, in denen das Bonner Grundgesetz von 1949 die Kirchenartikel der WRV rezipierte. Die Gegner des Dritten Weges stellen das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als eine der tragenden Begründungen des Dritten Weges dagegen aus einer konkreten historischen Überlegung heraus in Frage: Dass das staatliche Arbeitsrecht bei einer privatrechtlichen Anstellung auch für die Kirchen Geltung hatte, war in der Weimarer Republik Konsens. Eine juristische Auseinandersetzung über Art. 137 Abs. 3 WRV, insbesondere eine Rechtsprechungspraxis im Hinblick auf eine Abwägung mit den Interessen der Koalitionen (Art. 159 WRV), gab es zu dieser Zeit, auch mangels eines Verfassungsgerichts, nicht.53 Nitsche bezeichnet es als „Mysterium“, dass zur Zeit der Weimarer Republik die Erstreckung der kollektivrechtlichen Möglichkeiten auf die Kirchen nicht diskutiert wurde und heute aus derselben Norm das Gegenteil hergeleitet werde.54 Der heute weiterhin über Art. 140 GG gültige Art. 137 Abs. 3 WRV habe bereits in der Weimarer Zeit „keine, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht über den Wortlaut hinaus erweiternde Interpretation erhalten.“55 Dieser Aussage lässt sich aber auch in staatskirchenrechtlicher Hinsicht entgegnen: „Bonn ist nicht Weimar“.56 Tatsächlich ist nach Verabschiedung des Grundgesetzes eine wissenschaftliche Debatte über den Bedeutungswandel der staatskirchenrechtlichen Weimarer Artikel geführt worden.57
Das Verständnis des Selbstbestimmungsrechts in der jeweils betrachteten Zeit (während der Weimarer Republik, während des Dritten Reiches und nach dem Zweiten Weltkrieg) soll in dieser Arbeit kurz aufgegriffen werden. Wenn auch das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV nicht der einzige und entscheidende Faktor für die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen in der Caritas und der verfassten katholischen Kirche gewesen sein mag, sondern diese von weiteren Umständen abhing, so müssen doch die staatskirchenrechtlichen Vorgaben in den jeweiligen Verfassungen und ihre Relevanz für die arbeitsrechtliche Ordnung betrachtet werden. Vor allem aber soll der Einfluss des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV auf die Generierung des Dritten Weges untersucht werden. Haben die in den Entscheidungsgremien der Caritas und der verfassten katholischen Kirche Verantwortlichen sich bei der Schaffung der Regelungen bewusst am Verfassungsrecht orientiert und die Entscheidung eines eigenen kollektiven Arbeitsrechtsverfahrens anhand dieser Orientierung getroffen? Hat eine bewusste Überlegung zur Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts die Entscheidung schließlich hervorgerufen?