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-Carmen- 29.04.2016, Freitag

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Der kurze Disput mit Sebastian tut ihr schon fast wieder leid. Sicher, er hätte anders reagieren sollen, aber wenn man sich in seine Lage hineinversetzt… Kann man es ihm verdenken? Vermutlich ist er schon wieder zu Hause und füttert seine Katzen, weil er sonst überall nur schiefe Blicke erntet… Ob Basti überhaupt Katzen hat? Carmen versucht, es sich vorzustellen, es gelingt ihr aber nicht so recht… Nein, Basti ist kein Katzentyp. Dann sitzt er jetzt wahrscheinlich alleine daheim herum, das wäre ja noch schlimmer! Während sie sich so Gedanken über ihren Kollegen macht, kommt sie zu der Erkenntnis, dass sie ihn im Grunde genommen kaum kennt und sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Traurig macht sie diese Tatsache zwar nicht, aber es ist dennoch ein ungutes Gefühl.

Ruckartig wird sie aus ihren Gedanken gerissen, als Tobias das Büro betritt, der erwartungsvoll zwischen Bernd und ihr hin- und herblickt, fast so wie ein Hund, der darauf wartet, dass ihm jemand einen Ball zuwirft. „Na, wollt ihr einen Ausflug machen?“ Sogar das Gesagte klingt wie der Gedanke eines Hundes.

Er legt Carmen einen DIN-A4-Zettel auf den Tisch und fährt fort, ohne eine Antwort abzuwarten: „Hier sind mal ein paar Daten unserer Verdächtigen. Der Durchsuchungsbeschluss für ihre Wohnung ist schon in Arbeit, ich setze mich dann auch gleich mit dem Vermieter in Verbindung, bezüglich des Ersatzschlüssels. Und das hier…“, er zeigt auf eine Zeile in der unteren Hälfte des Blattes, „… ist ihr Arbeitgeber. Mit dem könnt ihr euch erstmal unterhalten.“

Carmen nickt und widersteht dem Versuch, ihrem kleinen Surferboy anerkennend auf die Schulter zu klopfen. Stattdessen blickt sie zu Bernd hinüber und fragt nur: „Kann’s losgehen?“

Ein paar Minuten später sitzen sie auch schon im Auto und fahren Richtung Kim Rietz‘ Arbeitgeber, begleitet vom trüben Wetter. Der starke Regen hat zwar mittlerweile nachgelassen, aber sonnig wird es wohl heute trotzdem nicht mehr werden.

Als sie wieder aus dem Wagen steigen, beginnt Bernd zu lachen, weil Carmen einen Schirm benutzt, obwohl es nur leicht nieselt. Wenn der wüsste, wie sich ihre kurzen Haare schon bei der kleinsten Berührung mit Wasser kräuseln! Trotzdem kommt sie sich etwas albern vor und wünscht sich wieder einmal ihre langen Haare zurück, die sie einfach nur zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden musste.

Sie betreten die Bar, die sich lichthof nennt und sehen sich um: Der Raum ist ausgestattet mit schwarzen Möbeln und der Boden ist aus sehr hellem Holz. Carmen ist sich sicher, noch niemals hier gewesen zu sein, daran würde sie sich erinnern. Sie gehen auf die Bar zu, wo gerade eine Kellnerin damit beschäftigt ist, saubere Gläser wegzuräumen. Unaufgefordert zeigt Carmen dem Mädchen ihren Dienstausweis und fragt nach dem Inhaber der Bar. Die junge Kellnerin lässt vor Schreck beinahe ein Glas fallen und fragt: „Oh mein Gott, sind wir in Schwierigkeiten?“ Sie blickt die beiden Polizisten erschrocken an, dabei fällt ihr eine dunkle Haarsträhne ins Gesicht, die sich soeben aus ihrem Zopf gelöst hat.

Carmen will sie beruhigen: „Nein, machen Sie sich keine Sorgen. Wir hätten da nur ein paar Fragen bezüglich einer Kollegin.“

Das Mädchen sieht nicht so aus, als würde sie wissen, dass es um Kim geht, obwohl offiziell nach ihr gefahndet wird. Sie nickt heftig und läuft nach hinten, Carmen kann noch hören, wie sie ruft: „Chef! Kommst du mal bitte? Da will jemand mit dir sprechen!“ Den Rest versteht sie nicht mehr.

Gleich darauf kommt die junge Frau auch schon wieder mit den Worten „Der Chef kommt gleich zu Ihnen“ nach vorne, wobei sie das Wort Chef etwas komisch betont. Bernd nickt ihr lächelnd zu, Carmen kann es in seinem Blick erkennen, dass es ihn amüsiert, dass ihre bloße Anwesenheit einen Menschen so einschüchtern kann. Die Kellnerin wirkt verlegen und macht keine Anstalten, die beiden zu bedienen, stattdessen kramt sie im hintersten Winkel der Theke in irgendeiner Schublade herum. Carmen sieht ihr unauffällig dabei zu, im Hintergrund kann sie im Radio leise ein Lied von Wanda hören.

Die Musik wird von einer lauten Stimme regelrecht zerschnitten, als der eben erwähnte Chef auf sie zukommt. „Guten Tag, Markus Fassinger mein Name. Sie wollten mich sprechen?“ Er schüttelt zuerst Carmen, dann Bernd die Hand und wirkt sehr freundlich. Der ist bestimmt noch keine dreißig, denkt sich Carmen, als er sich anschließend mit der Hand durch seine kurzen braunen Locken fährt. Nicht einmal der Oberlippenbart lässt ihn älter aussehen. Die beiden Polizisten stellen sich vor und Carmen sagt: „Herr Fassinger, wir hätten da ein paar Fragen, die wir Ihnen stellen wollen, können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

„Es geht um Kim, richtig?“ Dieser Fassinger fackelt anscheinend nicht lange herum.

Carmen ist etwas überrascht darüber und antwortet: „In der Tat. Hätten Sie kurz Zeit?“

„Aber natürlich doch. Kommen Sie, setzen wir uns.“ Er deutet auf einen Tisch in der rechten hinteren Ecke des Raumes, dabei entgeht ihm nicht, dass die beiden Polizisten einen Blick wechseln, nachdem sie sich kurz umgesehen haben. Daraufhin sieht er zu den wenigen Gästen hinüber, die an den Tischen nahe der Eingangstür sitzen, lacht kurz auf und meint: „Wegen denen brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, die sind doch alle selber in Gespräche vertieft. Außerdem habe ich vor meinen Gästen nichts zu verbergen.“

Ganz überzeugend klingt das nicht, denn er wirkt mit einem Mal doch etwas verunsichert. Nichtsdestotrotz setzen sie sich an den Tisch, der anscheinend der einzige in dem Lokal lichthof ist, der in einer finsteren Ecke steht, welch eine Ironie. Sobald sie Platz genommen haben, fragt Fassinger: „Hat man Sie schon bedient?“

Bernd antwortet: „Nein, aber deswegen…“

Wie bitte?!“ Fassinger ist dabei, die Fassung zu verlieren. „Alina!“, ruft er im nächsten Atemzug auch schon über seine Schulter. „Zwei Tonic Water für unsere Gäste, wenn ich bitten darf!“ Ihm ist es sichtlich unangenehm, dass man ausgerechnet den Hütern des Gesetzes noch keine Getränke angeboten hat. „Tonic Water ist doch in Ordnung, oder?“, fragt er die beiden, als Antwort bekommt er ein synchrones Nicken. Als die Kellnerin die zwei Tonic Water serviert, stellt sie Fassinger unaufgefordert ein Achterl Weißwein hin, was er mit einem Grinsen begrüßt. Alina verlässt den Tisch wieder und noch ehe jemand eine Frage stellen kann, wird Fassingers Miene beinahe trostlos und er beginnt, von Kim zu reden, während er in sein Weinglas starrt: „Ich habe gestern davon in der Zeitung gelesen. Das hat mir direkt den Appetit aufs Frühstück verdorben. Ich habe Kim dann sofort angerufen, weil ich mir Sorgen gemacht habe. Plötzlich hat es dann geheißen, dass die Tochter der Familie abgängig sei und ein Rucksack mit ihrem Portemonnaie im Haus war. Warum sollten Sachen von ihr bei ihren Eltern sein, wenn sie zu diesem Zeitpunkt gar nicht dort gewesen ist?“

„Wie meinen Sie das?“, fragt Bernd, Carmen macht sich einige Notizen. Fassinger schaut Bernd in die Augen und macht kein Geheimnis daraus, dass Kim ihm private Dinge anvertraut hat und fährt fort: „Sie war nicht gut auf ihre Eltern zu sprechen, soviel ich weiß, hatte sie auch kaum Kontakt zu ihnen. Das waren mir ehrlich gesagt ein paar Zufälle zu viel. Ich konnte sie nicht erreichen, habe es mehrmals versucht. Das war mir alles nicht geheuer, und dann habe ich auch noch in den Nachrichten gesehen, dass man nach ihr fahndet. Mannomann, eines sage ich Ihnen: Das ist ganz schön schlechte Publicity für meine Bar. Obwohl es viele Leute gar nicht in Verbindung bringen werden, ausgenommen die Stammgäste.“

Bernd hebt eine Braue und der Lokalbesitzer sieht das als Aufforderung, weiterzureden: „Kim hat nicht oft die Gäste bedient, das will ich damit sagen. Sie hat damals gar kein Studium begonnen, weil sie mehr Geld gebraucht hat, um sich ihre Wohnung leisten zu können. Da war sie bei ihrem Bewerbungsgespräch sehr offen und ehrlich mir gegenüber. Sie wollte nicht nur am Wochenende jobben und den Rest der Zeit zur Uni gehen, sie wollte ihr eigenes Leben in ihrer eigenen Wohnung, ohne ihre Eltern um Geld bitten zu müssen, immerhin ist sie ja nicht grundlos ausgezogen. Tja, was soll ich sagen? Ich hatte irgendwie Mitleid mit dem armen Ding, also habe ich ihr eine Chance gegeben. Sie war sozusagen das Mädchen für alles. Die meiste Zeit über hat sie hinten in der Küche gearbeitet, wo sie beim Anrichten geholfen, den Müll rausgebracht und alles sauber gehalten hat. Wenn dann mal Partys bei uns stiegen oder eine Servierkraft ausgefallen ist, habe ich sie auch ab und zu mal nach vorne geschickt, um die Gäste aushilfsweise zu bedienen. Unsere Stammgäste kennen Kim vom Sehen, aber bei allen anderen glaube ich kaum, dass sie sich ausgerechnet ihr Gesicht eingeprägt haben und das Lokal deshalb meiden. Also, ich weiß nicht, woran es liegt, aber sehen Sie doch!“ Er deutet in den halbleeren Raum hinein, oder in den halbvollen, wie man es nennen mag. Es hört sich so an, als hätte Kim ihrem Vorgesetzten viel über ihr Privatleben offenbart. Entweder war es ihr egal, wer alles über ihre Familienverhältnisse Bescheid wusste, oder sie wollte den Job unbedingt und setzte alles auf die Verzweifeltes-Mädchen-braucht-Arbeit-Karte, wobei sie einige Details dazuerfand.

Bernd geht auf die Anspielung des schlecht besuchten Lokals gar nicht ein und fragt: „Hatten Sie bei Kim Rietz jemals das Gefühl, dass sie womöglich psychische Probleme hatte, die über das normale Maß hinausgingen?“

„Sie meinen, ob ich sie für verrückt halte?“

„Nicht unbedingt. Eher verzweifelt. Hat sie sich in den Tagen vor ihrem Verschwinden in der Arbeit irgendwie anders verhalten?“

„Puh, das ist eine gute Frage. Sehen Sie… Kims Launen waren… sind… ein ständiges Auf und Ab. Man konnte nie wissen, wie sie drauf war, wenn sie zur Arbeit erschien. Mal war sie glücklich und man konnte ihr ansehen, dass sie verliebt war, aber wenn’s mit einem Typen mal Zoff gab, sprach man sie am besten gar nicht an. Aber ihre Arbeit hat sie immer ordentlich gemacht und das war das Wichtigste für mich.“

„Hat sie mal von ihrem Bruder gesprochen?“

„Welchem Bruder?“

„Von wie vielen wissen Sie denn?“

„Von keinem!“ Markus Fassinger wirkt amüsiert, so als glaube er, man wolle ihn auf den Arm nehmen.

Bernd sagt: „Sie hat einen Bruder, sein Name ist Sebastian Rietz.“

„Sebastian? Hm…“ Er nimmt einen Schluck von seinem Chardonnay und überlegt kurz, dann schüttelt er den Kopf und sagt: „Also, ich wüsste nichts von einem Bruder. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass sie mal von einem Sebastian gesprochen hat.“

So ganz schlau wird Carmen nicht aus diesem Mann. Sebastian hat der Presse doch Rede und Antwort stehen müssen, das konnte die Polizei leider nicht verhindern, dafür waren die Pressefutzis zu gierig gewesen. Sie belästigten ihn aber wenigstens nicht lange, weil sie gleich gemerkt haben, dass sie von ihm keine brauchbaren Informationen bekommen würden. Trotzdem müsste Fassinger eigentlich wissen, dass es einen Bruder gibt, wenn er den Fall verfolgt hat. Aber da ist noch eine andere Frage, die sie noch viel mehr interessiert: Woher wusste er, dass es sich bei dem Zeitungsbericht um Kims Eltern handelte? Zu diesem Zeitpunkt waren noch keine Namen veröffentlicht worden. Sie ist sich sicher, dass ihr Kollege dasselbe denkt und ist gespannt, ob beim Chef die Antworten auf diese Fragen auch so selbstsicher klingen, oder ob er sich ertappt fühlt und zu stottern beginnt.

Bernd bleibt beim Thema Sebastian und fragt: „Haben Sie denn gar nichts von den… nennen wir es Auftritten mitbekommen? Kims Bruder wurde von der Presse befragt, das war doch in den Medien.“

Fassingers Stirn legt sich in Falten… er denkt entweder wirklich angestrengt darüber nach oder tut nur so. Plötzlich werden seine Augen größer und man könnte meinen, er hätte einen Geistesblitz. „Natürlich!“ Auf diese Erkenntnis nimmt er gleich noch einen Schluck von seinem Wein und spricht nach wie vor selbstsicher weiter: „Der Typ im Fernsehen, ja, da habe ich kurz was aufgeschnappt. Das ist doch der mit den dunklen Haaren? Sah ein bisschen fertig mit der Welt aus, aber man kann’s ihm nicht verübeln. Weiß ich schon wieder. Hab ihm aber nicht viel Beachtung geschenkt, hab durchgezappt. Von den Nachrichten wollte ich dann sowieso nichts mehr hören, das wäre wieder nur schlechte Publicity gewesen.“

Entweder hat Fassinger vorhin wirklich vergessen, dass er Basti im Fernsehen gesehen hat oder er verheimlicht etwas.

Bernd sieht nicht misstrauisch aus und fragt: „Können Sie uns erzählen, was Sie über Kims Verhältnis zu ihren Eltern wissen?“

„Erhoffen Sie sich jetzt mal nicht zu viel.“

„Ich dachte, sie hätte mit Ihnen darüber geredet?“

Fassinger nimmt einen weiteren Schluck Wein, was Carmen und Bernd dazu veranlasst, auch mal von ihren Tonics zu trinken, zum größten Teil aus Höflichkeit.

„Ja, das hat sie auch, aber erwarten Sie jetzt keine Armes-Mädchen-hatte-eine-grauenhafte-Kindheit-Story, die den Verdacht auf sie noch bestärkt.“

„Wir erwarten lediglich, dass Sie uns die Wahrheit erzählen, also machen Sie sich darüber keine Sorgen.“

„Ich kann mich noch gut an ihr Bewerbungsgespräch erinnern. Kim kam mit einem Schreiben und einem Lebenslauf zur Tür herein, so als hätten wir einen Termin vereinbart. Aber sie war einfach so hergekommen, ohne sich vorher auch nur darüber zu informieren, ob wir denn überhaupt zusätzliches Personal benötigen. Sie wollte nichts essen oder trinken, sondern verlangte sofort nach mir. So wie Sie beide vorhin.“ Ein leichtes Grinsen umspielt seine Lippen. Falls das eine Anspielung darauf sein soll, dass sie eigentlich nichts zu trinken oder essen wollten, um seine lahme Kasse zum Klingeln zu bringen, hat Carmen es bemerkt. Sie nimmt noch einen Schluck von ihrem Tonic und macht sich gleich darauf Notizen, als der Lokalbesitzer weitererzählt: „Ich bat sie nach hinten, weil ich ihre Mappe sah. Ich hatte zwar nichts verbrochen, aber trotzdem hatte ich anfangs Bedenken, weil es ja sein hätte können, dass sie von irgendeiner Behörde kam oder was weiß ich… Unterschriften für irgendeine lächerliche Kampagne sammelte oder so. Das wollte ich nicht vor meinen Gästen bereden müssen. Damals war die Bar nämlich ziemlich gut besucht, egal um welche Uhrzeit, aber heute brauche ich mir, glaube ich, keine Sorgen zu machen, dass meine Gäste durch Ihren Besuch abgeschreckt werden.“

Dass seine Bar seit dem Tod von Kims Eltern so schlecht besucht wird, macht ihm anscheinend wirklich sehr zu schaffen. Sieht so aus, als hätten doch mehrere Leute gewusst, dass sie hier arbeitet, oder besser gesagt: gearbeitet hat.

„Nun ja, sie hat mir dann ihre Mappe in die Hand gedrückt und mich gefragt, ob ich ein paar Minuten für sie Zeit hätte. Wie gesagt, die Bar war ziemlich voll und ich hatte eigentlich Besseres zu tun, aber ich wollte sie dann nicht einfach so wieder fortschicken. Dann hat sie mir ihre ganzen Qualifikationen aufgezählt…“

„Wir wissen, wie ein Bewerbungsgespräch abläuft, Herr Fassinger. Kommen Sie bitte zum Punkt.“

Als diese Worte aus Bernds Mund kommen, wird er von Carmen und Fassinger angesehen, wobei Carmen bemüht ist, es unauffällig zu machen. Sie hat es bis jetzt selten miterlebt, dass ihr Kollege bei einer Befragung ungeduldig wird. Egal, in welchem Fall.

Fassinger braucht dieses Mal ein bisschen länger, um weiterzureden, es hat den Anschein, als fühle er sich irgendwie angegriffen. „Nun ja… Also… Auf jeden Fall habe ich ihr dann gesagt, dass ich leider keinen Bedarf habe und gemeint, sie solle es doch in einer anderen Bar versuchen. Daraufhin wurde aus dem selbstsicheren Mädchen ein verzweifeltes. Sie flehte mich beinahe an, hier arbeiten zu dürfen, sie sagte, sie mache auch die Drecksarbeit wie Toilettenputzen und solche Sachen. Ich gab ihr ihre Mappe zurück und wollte sie schon nach vorne begleiten, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie sagte, sie ginge hier so lange nicht weg, bis ich ihr einen Job geben würde. Das machte mich wütend und ich wollte schon laut werden, da begann sie plötzlich, von ihrer Wohnung zu reden… Dass sie ihr Erspartes genommen habe und von ihren Eltern weggezogen sei… Dass sie so streng mit ihr gewesen wären und ihr und ihrem Freund das Leben zur Hölle gemacht hätten.“

„Von welchem Zeitraum sprechen Sie da? Und nannte sie auch den Namen dieses Freundes?“

„Lassen Sie mich kurz nachdenken… Das war… im Sommer 2013. Genau. Im Sommer 2013, gleich nachdem sie maturierte. Den Namen ihres Freundes hat sie aber nicht erwähnt.“

„Was hat sie Ihnen noch alles erzählt?“

„Kim behauptete, dass sie einen Teil ihres Ersparten für die Kaution ihrer Wohnung genommen hätte. Ich habe mich damals gefragt, warum sie nicht zu ihrem Freund gezogen ist, aber wenn ich diesen Gedanken laut ausgesprochen hätte, wäre das wahrscheinlich ziemlich taktlos von mir gewesen. Sie tat mir dann auf einmal leid, wie sie da so stand mit ihrer Mappe. Sie wollte unbedingt diesen Job, mit dem sie ehrliches Geld für ihre Wohnung verdienen konnte. Und da dachte ich mir: Na ja, so ein Mädchen für alles könnte ich schon gebrauchen. Und ich gab ihr den Job. Sie freute sich wie ein kleines Kind und gab sich mit ihrer Arbeit daraufhin immer sehr große Mühe, sie wollte stets alles perfekt machen.“

„Hat sie Ihnen sonst noch etwas von ihren Familienverhältnissen erzählt?“

„Mir fällt gerade nichts ein… Hm… doch, warten Sie… Ich weiß noch, wie ich sie einmal gefragt habe, ob sie wieder mit ihren Eltern klarkommt. Daraufhin wurde ihre Miene finster und sie antwortete nur: ‚Das wird niemals passieren.‘“

Carmen und Bernd sehen sich an. Was muss wohl in dieser Frau vorgegangen sein? Sie wenden sich wieder Markus Fassinger zu. Gerade als Carmen es aussprechen will, stellt ihr Kollege ihm die Frage, die ihr auf der Zunge brennt: „Vorhin sagten Sie, dass Sie Kim angerufen haben, nachdem Sie die Zeitung gelesen haben. Wie konnten Sie wissen, dass es sich dabei um ihre Familie handelte, wenn keine Namen dabeistanden?“

Fassingers selbstgefälliges Grinsen ist wieder da und er antwortet: „Ich habe auch nicht gesagt, dass ich es gewusst habe.“

Carmen kann ein Seufzen nicht unterdrücken und sagt: „Ich bitte Sie! Spielen Sie hier keine Spielchen. Wir ermitteln hier nicht in einem harmlosen Streit auf einem Schulhof, sondern in einem zweifachen Mordfall. Also sagen Sie uns einfach die Wahrheit.“

„Ich spiel keine Spielchen. Wenn Sie das glauben, dann tut’s mir leid, aber da müssen Sie mich missverstanden haben. Ich habe gesagt, dass mir dieser Zeitungsbericht den Appetit verdorben hat, was er ja auch tatsächlich hat. Aber wie Sie sagen: Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch gar nicht wissen, um wen es dabei geht. Ich hatte lediglich ein ungutes Gefühl, das wird doch wohl nicht verboten sein. Und natürlich habe ich Kim angerufen, immerhin ist sie ja auch seitdem nicht mehr zur Arbeit erschienen. Als ich dann erfahren habe, dass sie verschwunden ist, wurde mir klar, dass sie wahrscheinlich nun für längere Zeit nicht mehr arbeiten kommen würde. Dann fing ich auch an, mir Sorgen zu machen.“

Hätte er das alles gleich zu Beginn erzählt, wäre das Missverständnis erst gar nicht aufgekommen. Oder er hat es sich eben erst zurechtgelegt, um nicht wie ein Trottel dazustehen, aber was sollen sie schon machen? Er hat sich mit seinem Verhalten nichts zu Schulden kommen lassen.

Carmen sieht keinen Grund, noch länger hierzubleiben und Fassinger Fragen zu stellen, bis auf die folgenden beiden: „Wo waren Sie am Dienstagabend zwischen 21 und 23 Uhr?“

„Ich war hier, es war ziemlich viel los an diesem Abend. Dafür gibt es genug Zeugen.“

„War Kim an diesem Abend auch hier?“

„Nein, das war ihr freier Tag. Der ist ihr leider zum Verhängnis geworden“, antwortet Fassinger mit etwas Wehmut in der Stimme. Er sagt noch, dass ihre beiden Tonics aufs Haus gehen, und als die Polizisten Anstalten machen, das Lokal zu verlassen, klingt er tatsächlich traurig, als er sie fragt: „Sie glauben doch wohl nicht etwa im Ernst, dass Kim das getan hat, oder?“

Einige Stunden später macht sich langsam, aber sicher die Müdigkeit bei Carmen bemerkbar. „Ich kann nicht mehr.“ Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen und schnauft. Als sie wieder aufblickt, sieht sie ihren Kollegen Bernd an, der am Nebentisch über den Tatortfotos hängt. In ihrem Büro stapeln sich die Unterlagen und es wird Unmengen an Kaffee getrunken, der nur dazu führt, dass man dauernd auf die Toilette muss, anstatt munter zu machen.

Und dann wären da noch die Zigaretten. Nach der Trennung von Steve hat sie wieder zu rauchen begonnen. Warum, kann sie sich selbst nicht erklären, denn sie trauert ihm ja nicht nach… nicht mehr. Wie dem auch sei, es hält sie nichts und niemand davon ab, dass sie ab und zu für ein paar Minuten vor die Tür nach draußen geht und eine qualmt. Obwohl sie wegen Jason irgendwie ein schlechtes Gewissen hat, aber sie macht es ja nicht in seiner Gegenwart.

Bernd blickt zu ihr herüber und meint: „Du kannst ruhig nach Hause fahren.“

„Nein, nein, schon in Ordnung“, antwortet Carmen und nimmt einen Zettel zur Hand, auf dem sie sich Notizen gemacht hat. Aber diese sehen dank ihrer Müdigkeit aus wie zusammengewürfelte Buchstabenhaufen, also lässt sie ihn wieder auf den Schreibtisch fallen. Sie ist dankbar dafür, dass Bernd ihr angeboten hat, mit ihr noch im Büro zu bleiben und zu arbeiten. Alleine wäre sie schon längst eingeschlafen. Überhaupt ist er ein toller Kollege. Dieser Mann wirkt selten gestresst oder gereizt, er ist tolerant und nickt ihr jedes Mal, wenn sie rauchen geht, zu. Ohne sich über diese ungesunde Angewohnheit zu beschweren, wie es andere Nichtraucher manchmal tun. Außerdem scheint es ihm vor keiner Gräueltat zu ekeln. Wenn er einen Tatort betritt oder sich die Fotos davon ansieht, ist er zwar schockiert, wozu die Bestie Mensch eigentlich fähig ist, aber er lässt es sich nicht so sehr anmerken wie andere Kollegen… oder Carmen selbst. Einige beginnen vor lauter Schreck zu fluchen. In diesem Augenblick macht sich Bernd Plank stattdessen schon Gedanken über den möglichen Tathergang und wirkt sehr viel professioneller als andere. Auch wenn er für längere Zeit an einem Fall arbeitet und es nur schleppend dahingeht, verliert er selten die Geduld.

Carmen findet es nett von ihm, dass er meint, sie könne nach Hause gehen, denn wenn er es nicht so meinen würde, hätte er es nicht gesagt. Aber es käme ihr falsch vor, ihn alleine hier sitzen zu lassen.

Bernd sagt: „Wie du willst, aber so wie du aussiehst, wirst du heute nicht mehr viel auf die Reihe bringen.“

Sehr charmant! Dennoch klingt es, so wie er es sagt, nicht beleidigend, sondern eher besorgt. Er lehnt sich zurück und fährt sich mit beiden Händen über seine Glatze. „Ein bisschen Schlaf würde dir ganz guttun.“

„Ja, aber sieh dich doch mal um! Alles liegt kreuz und quer, ich muss noch aufräumen.“

„Stimmt, in deinem eigens angerichteten Saustall weißt nur du, wie man Ordnung reinbringt.“

„Oh Gott, ja ich weiß. Mein Sinn für Ordnung ist furchtbar.“

„Wenn du einen hättest, wäre er das bestimmt.“

„Haha, sehr witzig. Wie lange wirst du noch bleiben?“

„Ich werde einfach mit dir hierbleiben, bis du aufgeräumt hast, also vermutlich bis übermorgen.“ Bernd grinst Carmen an, aber sie ist schon zu müde, um eine schlagfertige Antwort darauf zu geben. Sie schüttelt lachend den Kopf, dabei verspürt sie ein leichtes Kribbeln in der Bauchgegend. Sie hofft, dass es nicht so ein Kribbeln ist und redet sich ein, es wäre ihr Magen, der mittlerweile schon rebelliert. Mit nur wenig Begeisterung beginnt sie, Papierstöße zu ordnen und fragt ihren Kollegen: „Und morgen treffen wir uns mit den Mädchen?“

Bernds Grinsen verschwindet und er blickt auf den Kalender: „Jap, Tanja Eichtinger und Maria Koravec.“

Vorhin ging ein Anruf von einer aufgeregten jungen Frau bei ihnen ein, die angab, eine Freundin der Hauptverdächtigen zu sein. Sie stellte sich als Tanja Eichtinger vor und meinte mit aufgewühlter Stimme, dass ihre Freundin und sie die Fahndungsfotos gesehen und daraufhin versucht hätten, Kim zu erreichen. Das wäre aber erfolglos gewesen und nun würden sie sich Sorgen machen. Bernd und Carmen haben sich für morgen früh angekündigt und sich die Adresse geben lassen.

„Bin gespannt, was sie zu erzählen haben“, sagt Carmen.

„Ich bin auf alles gespannt, das uns weiterbringt. Aber irgendwie mache ich mir nicht zu viele Hoffnungen.“

„Wieso?“

„Ich weiß nicht, ist nur so ein Gefühl. Vielleicht täusche ich mich ja auch, was ich hoffe.“

„Wir werden ja sehen. Jeder Tipp ist ein guter Tipp. Vielleicht wissen sie ja mehr als dieser Fassinger.“

„Kann schon sein… Hee, du gibst ja richtig Gas beim… nennen wir es Aufräumen.“

„Ich freue mich auch schon auf zu Hause.“

„Dein Sohn wird sich freuen, wenn du doch nicht so spät nach Hause kommst.“

„Und das Kindermädchen erst.“

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