Читать книгу Negatio - Julia Fürbaß - Страница 21
-Sebastian- 28.04.2016, Donnerstag
Оглавление„Das ist ja wohl die Höhe!“, murmelt Sebastian vor sich hin, als er die Straßen entlangläuft. Carmen scheint die Ermittlungen nicht allzu ernst zu nehmen. Wahrscheinlich hat sie ihrem ganzen Team eine Pause verordnet, während qualifiziertere Kollegen beurlaubt werden oder Strafzettel verteilen dürfen. Er ist schon wieder auf dem Rückweg, als er einen kleinen Laden betritt, wo man von Bio-Gemüse über Kosmetik alles bekommt. Den Kosmetikpreisen nach zu urteilen, stammt diese Ware jedoch eher aus fragwürdigen Billigfabriken.
Sebastian steuert auf die Ecke mit dem Gebäck zu. Kim hat ihm noch gar nicht gesagt, was sie denn am liebsten hätte, aber bis jetzt hat sie sich noch nicht beschwert über die Sachen, die er zu Hause hat. Er greift nach dem Vollkornbrot, als er neben ihm eine weibliche Stimme wahrnimmt: „Ich dachte, sowas kaufen nur Hippies.“
Er dreht sich zur Seite und erblickt die junge Frau, die er vor wenigen Minuten mit Carmen Birkner im Café gesehen hat. An ihren Namen kann er sich aber nicht erinnern. Er versucht, sie halbwegs höflich anzugrinsen, wendet sich danach ab und will weitergehen. Ihr Lächeln verschwindet sofort und sie entschuldigt sich: „Tut mir leid, ich wusste ja nicht, dass Sie tatsächlich ein Hippie sind.“
Sebastian atmet tief ein und verdreht die Augen. Er hat ihr noch immer den Rücken zugekehrt. Was will die Kleine denn von ihm? Langsam dreht er sich um und schaut sie ausdruckslos an. Sie wirkt mit einem Mal etwas verlegen, als sie auf den Korb mit dem darin liegenden Brot in seiner Hand zeigt und sagt: „Na ja, es ist ungewohnt zu sehen, dass so gutaussehende Leute diesen Getreidematsch kaufen.“
War das gerade ein Versuch, ihm ein Kompliment zu machen? Sebastian kann sich ein Grinsen nicht verkneifen und erwidert: „Das ist kein Matsch!“
„Also, ich bitte Sie! Ich musste das schon mal essen und es ist eindeutig Matsch.“
„Dann essen Sie es falsch.“
Beide beginnen zu lachen, aber es klingt aufgesetzt.
Carmens Cousine nutzt die kurze Gesprächspause für einen Themenwechsel: „Ich bin Jenni, falls Sie sich erinnern. Jenni, mit I.“
Jenni mit I. Genau! Da war doch was. „Natürlich erinnere ich mich daran!“
„Ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.“
Sebastian überlegt, ob er sich von ihr abwenden soll, stattdessen nickt er und fragt: „Was wollen Sie von mir?“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Hat Carmen Sie geschickt?“
„Nein! Glauben Sie etwa, dass ich Sie verfolge oder was?“
Er wird langsam, aber sicher ungeduldig und antwortet etwas lauter als beabsichtigt: „Ich glaube, dass man mir die Sache in die Schuhe schieben will, nur weil ich zu meiner Familie ein angespanntes Verhältnis hatte.“ So viel wollte er eigentlich nicht preisgeben. Er dreht sich um und geht weiter. Wahllos wirft er weitere Lebensmittel in den Einkaufskorb, den er sich beim Betreten des Ladens von einem Stapel genommen hat. Somit hat sich der Ausflug in dieses Geschäft schnell erledigt.
An der Kasse stehen noch einige Leute vor ihm, er holt schon mal seine Geldbörse hervor, als ihm jemand eine Packung Toastbrot in den Korb legt. Neben ihm steht Jenni mit I und sagt: „Das geht auf mich. Damit Sie mal was zu essen bekommen, das auch nach etwas schmeckt. Und falls Sie es mir nicht glauben, auf der anderen Straßenseite ist ein nettes Café, dort kann ich Sie eines Besseren belehren.“
Diese junge Frau scheint eine beträchtliche Menge an Zeit ihres Lebens damit zu verbringen, in Caféhäusern zu sitzen. Sebastian sieht sie erst etwas verwundert an, überlegt kurz und meint schließlich: „Warum nicht?“
Kim wird es wohl noch eine Weile alleine zu Hause aushalten.
Kurz darauf sitzen die beiden an einem der kleinen Tische, die vor dem Café auf dem Gehweg aufgestellt sind. Seit Sebastians Zusage im Markt haben sie sich nur angeschwiegen. Jenni findet als Erste Worte: „Ich verzeihe Ihnen!“
Sebastian glaubt, sich verhört zu haben und fragt: „Wie bitte?“
„Ich verzeihe Ihnen, dass Sie in dem kleinen Laden da drüben vorhin so unhöflich waren. Sie machen viel durch… Außerdem sind Sie irgendwie süß.“
Noch ein Kompliment? Anfangs war er sich gar nicht so sicher, ob es eine gute Idee gewesen ist, das Angebot, mit ihr in dieses Café zu gehen, angenommen zu haben. Aber jetzt findet er es in ihrer Gegenwart irgendwie amüsant. Gerade als er etwas darauf sagen will, kommt die Bedienung, um ihre Bestellung aufzunehmen. Jenni mit I ist in ihrem Element und legt auch gleich los: „Er nimmt das Truthahnsandwich.“
Sebastian sieht sein Gegenüber an und erwidert: „Eigentlich wollte ich zuerst einmal einen Blick in die Karte werfen.“
„Werfen Sie ruhig Ihre Blicke, aber Sie können mir glauben, dass Sie nichts Besseres finden werden.“ In diesem Moment ist ein Räuspern zu hören, anscheinend verliert die Kellnerin, die neben ihnen steht, schnell ihre Geduld. Also schlägt Jenni die Karte auf, blättert jedoch nicht weiter und sagt: „Ich nehme bitte eine Cola Light und ein Farmer Sandwich. Cola, keine Pepsi. Wenn Sie nur noch Pepsi haben, brauchen Sie die Getränke gar nicht erst zu bringen.“
Währenddessen ist Sebastian total mit der Auswahl an Sandwiches überfordert und spürt schon den genervten Blick der Kellnerin, also überlegt er gar nicht lange: „Für mich dann bitte dieses Truthahnsandwich und ein großes Sodawasser.“
Die Bedienung eilt davon und er sieht ihr nach. Er fragt sich, ob Jennis Verhalten sie wirklich verärgert hat oder ob diese Frau von Haus aus keine Frohnatur ist. Wenn das der Fall ist, ist dieser Beruf aber nicht gerade der richtige für sie.
Jenni reißt ihn aus seinen Gedanken: „Sie werden Ihre Wahl nicht bereuen.“
Sebastian fährt herum. „Wie bitte? Oh, das Sandwich. Ja, das hoffe ich.“
„Wenn Sie zu Hause sind, können Sie ja gern wieder Ihren Getreideschrott essen. Aber bitte nicht in meiner Gegenwart!“
„Darauf können Sie sich verlassen. Übrigens…, dass Sie mich vorhin süß genannt haben…“
Jenni zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich sage den Leuten eben meine Meinung.“
Plötzlich kommt es ihm nicht mehr wie ein Kompliment vor, sondern eher wie eine beiläufige Bemerkung, die nicht von tieferer Bedeutung ist. Aber dass es etwas bedeuten soll, hat er sich ja auch gar nicht erhofft. Vielleicht ist sie ja verrückt, was bei ihrem aufdringlichen Verhalten nicht ganz auszuschließen wäre, und somit kann es ihm recht sein, wenn die beiden auf einer nichtemotionalen Ebene miteinander kommunizieren. Also beschließt er in diesem Augenblick, ihr auch keine Komplimente zu machen. Obwohl sie welche verdient hätte, zumindest für ihr Aussehen.
Die Getränke werden serviert und als Sebastian auf der Glasflasche den Coca-Cola-Schriftzug sieht, atmet er erleichtert auf. Als die Bedienung wieder weg ist, fragt Jenni: „Wollen Sie darüber reden?“
„Worüber?“
„Über die Sache, die man Ihnen in die Schuhe schieben will.“
„Eher nicht.“ Das würde ihm nur den Appetit verderben.
Aber sie lässt nicht locker: „Sind Sie in psychiatrischer Behandlung?“
„Ich brauche so etwas nicht.“
„Das will ich auch gar nicht behaupten. Aber geht es nicht eigentlich darum, überhaupt jemanden zum Reden zu haben?“
„Und Sie glauben, das habe ich nicht.“
„Ja, das tue ich.“
„Oookayy…“ Langsam ist auch Sebastian dabei, die Geduld zu verlieren. Er lehnt sich in seinem klapprigen Sessel zurück und sagt: „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Aber falls es Ihnen im Laden drüben nicht aufgefallen ist: Ich will nicht darüber reden. Verstanden? Ich will es nicht. Damit das klar ist.“
„Sie können Ihre Trauer nicht ewig leugnen.“
„Ich glaube, Sie hören mir nicht zu. Und was sind Sie überhaupt? Hobbypsychologin?“
„Ich töte Menschen für Geld, aber das tut nichts zur Sache.“
Sebastian trifft fast der Schlag. Hat sie das gerade wirklich gesagt? Aus Spaß? Unter solchen Umständen? Er kann nicht anders, als sie verblüfft anzustarren, währenddessen bringt die Sonnenschein-Kellnerin ihre Sandwiches. Jenni bedankt sich mit einem breiten Grinsen und beginnt zu essen, als wäre nichts gewesen. Bevor sie ein zweites Mal abbeißt, sieht sie Sebastian an und zeigt auf seinen Teller: „Probieren Sie! Also meines ist köstlich.“
Er beugt sich nach vorne und redet im Flüsterton weiter: „Sie tun was?“
„Das haben Sie mir wirklich abgekauft? Das war doch nur Spaß! Trauen Sie mir etwa sowas zu?“
„Ähm…“
„Ist ja auch egal. Aber ich find’s toll, dass es glaubwürdig klang, ich möchte nämlich mal Schauspielerin werden.“
„Also spielen Sie allen Leuten nur was vor?“ Seine Anspannung fällt wieder etwas ab und er stellt das Flüstern ein.
Jenni antwortet für seinen Geschmack etwas zu hochnäsig: „Nein, ich bin immer ehrlich, außer dieses eine Mal eben. Wenn Sie mich schon so blöd fragen, ob ich Hobbypsychologin bin, muss ich auch eine blöde Antwort darauf geben.“
„Wenn Sie meinen. Aber hören Sie bitte auf, sich in Angelegenheiten einzumischen, die Sie nichts angehen. Und falls Carmen oder sonst irgendjemand Sie geschickt haben sollte, ist das erstens ein Kindergarten und zweitens können die mich alle gern noch einmal befragen, obwohl ich schon oft genug alles erzählt habe.“ Sebastian hofft inständig, dass er nicht mehr befragt wird, denn so ganz entspricht seine Version ja schließlich nicht der Wahrheit. Um genau zu sein, ist sie erstunken und erlogen… Aber er will sich nicht ins Verderben stürzen, deshalb muss er dabei bleiben.
Plötzlich sieht Jenni frustriert und wütend aus. Dieses Mal sind eindeutig Emotionen in ihrer Stimme zu hören, als sie sagt: „Das ist kein Kindergarten, mich hat nämlich niemand geschickt. Sie werden es kaum glauben, aber ich habe Sie freiwillig auf dieses Sandwich eingeladen. Im Nachhinein frage ich mich selbst, was mich da geritten hat. Ich wollte Ihnen nur helfen. Schade, dass Sie so empfinden. Geben Sie es zu, Sie hätten gerne jemanden zum Reden. Aber wenn Sie zu stolz sind und alles in sich hineinfressen, bitte! Ich dachte schon, Sie wären nett.“
Mit diesen Worten steht sie auf und geht. Sebastian versucht nicht, sie aufzuhalten. Auf eine Diskussion mit ihr hat er wirklich keine Lust, er kennt sie ja nicht einmal. Das Einzige, das er von ihr weiß, ist, dass sie Carmens Cousine ist, sich anscheinend nicht wirklich gesund ernährt und gern Schauspielerin wäre. Ob das gerade auch nur Show war? Vielleicht kommt sie ja gleich wieder und erwartet ein Feedback für ihre dargebotene Leistung. Sebastian beginnt nun, sein Sandwich zu essen, anscheinend wird er selbst dafür aufkommen müssen.
Die Verrückte scheint wirklich nicht wiederzukommen und so läuft er nach Hause, nachdem er bezahlt hat.
Obwohl er gerade gegessen hat, läuft er schneller als geplant, er hat Kim sowieso schon viel zu lange alleine gelassen.
Während er versucht, sich aus Carmens eigenartiger Cousine einen Reim zu machen, wird vom Wind ein Zettel vor Sebastians Füße geweht. Er hebt ihn auf und will weiterlaufen, doch die Abbildung auf dem Papier lässt ihn für einen Moment erstarren. Im Nu verschwindet es gefaltet in seinem Rucksack, in dem er auch den Einkauf verstaut hat und läuft die letzten paar Minuten so schnell er kann.
Morgen nach der Beisetzung muss er unbedingt mit Carmen sprechen.