Читать книгу Negatio - Julia Fürbaß - Страница 15

-Carmen- 27.04.2016, Mittwoch

Оглавление

Am nächsten Tag um 10 Uhr vormittags ist die Anspannung im Besprechungszimmer kaum auszuhalten. So wie immer, wenn die Autopsieberichte eingegangen sind. Carmen sitzt in der Mitte der Längsseite des Tisches, rechts neben ihr Bernd, der mit seinem Kugelschreiber auf die Tischplatte klopft, aber angesichts seines ausdruckslosen Blickes nicht so aufgeregt ist wie der Rest des Teams. Seine Glatze ist wie immer perfekt poliert und seine dunklen Augen sind wachsam wie die eines Raubtieres. Links neben ihr hat Tobias Platz genommen, von ihr liebevoll „Tobi“ genannt, weil sein lausbubenhafter Charme in Verbindung mit dem Surferboy-Look sie einfach dazu motiviert hat, ihm von Anfang an einen Spitznamen zu geben. Sein helles Haar ist heute anscheinend wieder einmal ungekämmt, eher verwuschelt und die Shorts in Kombination mit dem - wie er es nennt - lässigen Hemd, das er trägt, die übliche optische Zumutung.

An der schmalen Seite des Tisches hat Hauptkommissar Wedel Platz genommen, den noch niemals jemand mit Vornamen angeredet hat, das kann er nämlich so gar nicht leiden. Carmen kann es sich nur schwer vorstellen, dass er außerhalb der Arbeit mit Alfons angesprochen wird, er nennt seinen Vornamen ja nicht einmal dann, wenn er sich vorstellt.

Aber abgesehen von dieser hochnäsigen Eigenschaft ist er eine sehr gute und vertrauenswürdige Führungskraft. Auf der anderen Seite sitzt Dirk Laurenz, der in diesem Fall die Schreibarbeit im Hintergrund übernimmt. Er war schon immer ein komischer Kauz und Carmen bezweifelt auch, dass er eine Bereicherung für das Team ist, aber andererseits kann sie dankbar für jede helfende Hand sein. Hauptkommissar Wedel hat auch kurz die Möglichkeit in Erwägung gezogen, Ralf Bauer aktiv an dem Fall mitarbeiten zu lassen, aber aufgrund seiner persönlichen Bindung zu Sebastian hätte es diesbezüglich Schwierigkeiten geben können.

Der einzige Stuhl, der noch nicht besetzt ist, ist der wichtigste: Der Platz von Jörg Pomanski.

Gerade als Carmen fragen will, ob jemand wisse, wo er bleibt, kommt der vollbärtige Gerichtsmediziner munter zur Tür herein, so als hätte er positive Neuigkeiten und eine ruhige Nacht hinter sich. Gestern hat er noch den weißen Mantel getragen, in dem ihn jeder schon aus weiter Entfernung erkennt. Aber auch in dem schwarzen Fred-Perry-Polo, das er heute anhat, übersieht man ihn kaum, denn abgesehen von seiner enormen Körpergröße geben die kurzen Ärmel freien Blick auf seine tätowierten Unterarme. Er schüttelt lächelnd zuerst dem Hauptkommissar, dann Carmen und danach ihren Kollegen die Hand, ehe er sich hinsetzt.

„Kann’s losgehen?“, fragt er voller Motivation in die Runde.

Als Antwort erhält er ein überaus deutliches Kopfnicken von Wedel.

Pomanski blättert in seinem Bericht und beginnt, die Ergebnisse zu präsentieren. „Also gut. Beginnen wir mit dem weiblichen Opfer. Monika Rietz, neunundvierzig Jahre alt, Hausfrau. Wie ihr sicher noch wisst, wurde ihr die Kehle durchgeschnitten. Am Tatort hat die Spurensicherung festgestellt, dass die Blutspritzer an den Wänden in der Küche daher kommen, dass die Frau noch am Leben war, als ihr der Schnitt zugefügt wurde. Das Messer wurde ihr von hinten in die Halsschlagader gerammt und der Herzschlag hat das Blut förmlich herausgepumpt, daher auch die Sauerei.“

Sauerei. Als hätte ein Kleinkind mit Erbsen um sich geschmissen, das könnte man als Sauerei bezeichnen. Pomanskis lockere Art begeistert Carmen immer wieder aufs Neue.

Der Gerichtsmediziner fährt fort: „Dann wären da noch die Schleuderspuren. Das heißt, der Schnitt durch die Kehle wurde mit viel Schwung durchgeführt. Ich will ja nicht diskriminierend klingen, aber ich persönlich glaube kaum, dass eine Frau dazu fähig wäre… Verzeihung, fähig natürlich schon, aber ich würde nach einem Mann Ausschau halten.“

Carmen wirft einen Blick in ihre Unterlagen. Die nassen Schuhabdrücke im Haus der Familie Rietz waren eindeutig um einiges größer als ihre eigenen. Sie überfliegt ihre Notizen und da fällt ihr auch diejenige mit dem Handy der Tochter auf: Dieses wurde nämlich nirgends gefunden. Ihre Telefonnummer haben sie bereits. Jetzt bräuchten sie nur noch eine Genehmigung, um das dazugehörige Gerät orten zu können, denn abgehoben hat unter dieser Nummer bislang noch keiner.

Pomanski redet weiter: „Die Blutspuren in der Küche weisen Gaseinschlüsse auf, die zum Beispiel durch Ausatmen entstehen. Damit ist eindeutig erwiesen, dass Monika Rietz noch am Leben war, als ihr der Schnitt zugefügt wurde. Wichtig ist auch, dass die Carotis geöffnet, der Schildknorpel und der Ösophagus, also die Speiseröhre durchtrennt sind, was relativ viel Kraft in Anspruch nimmt. Und da sowohl Carotis, also die Halsschlagader und die Luftröhre durchtrennt worden sind, steht die Todesursache außer Zweifel. Die Tatwaffe wurde von hinten an der linken Seite angesetzt, somit wurde die tödliche Verletzung von einem Rechtshänder ausgeführt. Außer, man will uns auch hier gezielt täuschen, was ich aber stark bezweifle. Kommen wir nun zum Todeszeitpunkt. Da das Opfer auf dem Rücken gelegen hat, hat sich auch dort das Blut abgesetzt. Nach dem Eintreten des Todes wurde die Leiche also nicht mehr bewegt. Vor Ort habe ich die rektale Temperatur gemessen, bei der Obduktion die Lebertemperatur. Die beiden Faktoren in Verbindung mit der Totenstarre und den Flecken führen zu dem Ergebnis, dass bei Monika Rietz am 26.04.2016 um etwa 21.45 Uhr die Lichter ausgegangen sind.“

Sehr charmant ausgedrückt, denkt Carmen.

„Wenn ihr nun keine weiteren Fragen mehr habt, komme ich zum zweiten Opfer. Also, Manfred Rietz, dreiundfünfzig Jahre alt, Projektkoordinator bei den Österreichischen Bundesbahnen, lag neben dem Treppenaufgang im Flur. Bei der Obduktion konnten wir zwei Stichverletzungen an der linken Hälfte des Brustkorbes feststellen. Die eine lag unterhalb der linken Brustwarze. Dabei wurde die vordere Brustkorbwandung, der Herzbeutel, die vordere und die hintere Wandung des Herzens durchstochen. Die Spitze der Tatwaffe erreichte den unteren Rand des linken Lungenlappens. Infolge der vorangegangenen Herzverletzung war der Herzbeutel und der linke Brustfellraum angefüllt mit Blut. An der linken äußeren Fläche des Brustkorbes hat der Täter dann erneut zugestochen. Hier wurde jedoch nur die Brustmuskulatur getroffen und der Brustkorb nicht eröffnet. Das Ziel des Täters war zweifellos, das Herz zu treffen, was ihm auch gelungen ist. Den Tiefen der Wunden nach zu urteilen, wurden die Verletzungen mit einem gezackten Gegenstand durchgeführt. Das Sägemesser, das am Tatort von der Spurensicherung sichergestellt wurde, konnte man eindeutig als Tatwaffe in beiden Fällen zuordnen. Kommen wir zu den Fingerabdrücken an der Tatwaffe: Es befinden sich nur die von Monika Rietz darauf, wahrscheinlich hat sie kurz davor noch damit gearbeitet, es konnten aber keine Speisereste oder Ähnliches gefunden werden. Am Rücken von Manfred Rietz waren mit Ausnahme der Aufliegeflächen auch Totenflecke zu sehen, womit wir wieder die Gewissheit haben, dass die Leiche ebenso nicht mehr nach ihrem Tod verrückt worden ist. Todeszeitpunkt bei Kandidat Nummer zwei war etwa um 22 Uhr, natürlich auch am 26.04.2016. Todesursache ist hier die innere Verblutung infolge eines Herzstiches.“

Das sind ziemlich viele Informationen auf einmal, aber es sind noch längst nicht alle, wie sich gleich herausstellen sollte. Auf die Frage, was bei den Stofffasern unter den Fingernägeln von Pomanskis eben betiteltem Kandidat Nummer zwei herausgekommen sei, antwortet er: „Im kriminaltechnischen Labor wurde das heute ausgewertet, daher bin ich erst mit etwas Verzögerung eingetroffen. Die Fasern bestehen zum Großteil aus Wolle und zu einem kleinen Prozentteil aus Polyamid. Dabei könnte es sich um Fusseln eines Mantels handeln, Farbe dunkelblau. Blöderweise kommen solche Mäntel gerade wieder in Mode, was das Erstellen des Täterprofils nicht gerade vereinfacht.“

Der Gerichtsmediziner erwähnt beinahe im selben Atemzug den schwarzen Rucksack, der in dem Zimmer, das der Tochter gehört haben könnte, gefunden wurde. Darin befand sich eine Geldbörse mit ihrem Ausweis, ihrer e-card und der Bankomatkarte. Ein bisschen Kleingeld und einige Klubkarten waren auch darin, das Übliche eben.

Hauptkommissar Wedel nickt und zieht die Mundwinkel nach unten. Entweder ist er heute mit dem falschen Fuß aufgestanden oder er kann Pomanski einfach nur nicht leiden, weil er der Einzige ist, der mit dem Ermittlungsteam so dicke ist, dass er es immer als Gruppe anspricht und dabei das Siezen außer Acht lässt. „Was ist mit den Schuhabdrücken am Tatort?“, fragt er in strengem Ton. Nun ist Jörg Pomanski wieder voll in seinem Element und blättert wie wild durch seine Unterlagen. Jeder schaut gespannt dabei zu, ganz besonders Tobias, denn das ist sein erster Mordfall, bei dem er aktiv mitarbeitet, und dann ist es noch dazu ein Doppelmord. Der junge Kollege fährt sich aufgeregt mit der Hand durch seine Haare, was dazu führt, dass das Chaos auf seinem Kopf perfekt ist. Carmens Blick streift den amüsierten von Jörg Pomanski, dem anscheinend auch nicht entgangen ist, dass Tobias so aussieht, als wäre er in einen Stromkreis geraten. Die Stimme des Gerichtsmediziners gewinnt etwas an Lautstärke, als er seine Ergebnisse präsentiert: „Die nassen Schuhabdrücke, die am Tatort sichergestellt wurden, wurden ausgewertet. Wir haben sie mit der in der Datenbank vorhandenen Schuhspurensammlung abgeglichen. Der Vergleich des Laufflächenmusters brachte leider keine Ergebnisse. Bei dem Modell handelt es sich um einen gängigen Sportschuh der Marke Nike, wahrscheinlich Größe 42. Das Teil war letzten Herbst der Verkaufsknaller, also wird die Person, die sich damit am Tatort aufgehalten hat und womöglich auch für die Morde verantwortlich ist, nicht die einzige mit diesem Modell sein. Die Spuren waren im Haus verteilt, auch im Freien waren sie zu finden, kurzzeitig ist die Person sogar in den matschigen Boden neben dem Bürgersteig an der Straße getreten. Es deutet nichts darauf hin, dass der Gesuchte eine Fehlhaltung hat. Die Schuhe dürften aber schon relativ häufig getragen worden sein, da die Laufflächen eine hohe Abnützung aufweisen.“

„Um das Ganze zu rekonstruieren“, beginnt Bernd, nachdem es für einige Sekunden still im Raum war. „Wir suchen nach einem Täter, der zu 99 Prozent männlich ist…“ Er erhält von Pomanski ein anerkennendes Kopfnicken und fährt fort, wobei er mit seinem Kugelschreiber eine imaginäre Liste in der Luft abarbeitet: „… der Monika Rietz einfach so in der Küche die Kehle durchschneiden konnte, vielleicht sogar bei einem gemütlichen Pläuschchen. Sie haben sich vielleicht gekannt, denn es gab keine Anzeichen eines Einbruches. Ihr Gatte hielt sich derweil im oberen Stockwerk auf. Vermutlich wurde kurz davor laut gestritten und Frau Rietz schrie um Hilfe, was nicht nur ihr Mann, sondern auch die Nachbarin hörte, worauf sie die Polizei rief. Manfred Rietz stürmte die Treppe runter, da war es aber schon zu spät, der Täter hatte kurzen Prozess gemacht und die Frau einfach am Boden liegen gelassen. Manfred Rietz kam blöderweise unbewaffnet die Treppe herunter und lieferte sich eine handgreifliche Auseinandersetzung mit dem Killer. Dieser zögerte nicht lange und stach mehrmals auf ihn ein, bis er zu Fall kam. Danach ist er nach oben ins Badezimmer marschiert, was für mich aber keinen Sinn ergibt… Warum sollte er sich seelenruhig ein Bad einlassen? Nur um sich die Gummihandschuhe zu waschen, die er womöglich getragen hat? Eine ganze Wanne voll?“

„Was ist eigentlich mit den Spuren im Badezimmer?“, will Hauptkommissar Wedel vom Gerichtsmediziner wissen.

„Das wollte ich gerade erwähnen“, antwortet Pomanski und fährt fort: „Das Blut, das wir am Rand der Badewanne sichergestellt haben, gehört zu den Opfern. Teilweise waren die Spuren verwischt, sieht so aus, als wäre der Verdächtige mit den Handschuhen irgendwie abgerutscht. Falls er welche getragen hat. Neben dem Blut haben wir auch blonde Haare untersucht, die sich im noch warmen Wasser befanden. Sie tauchen in keiner Datenbank auf und gehören zu keinem der beiden Toten.“

„Also wäre es nicht auszuschließen, dass die Tochter etwas damit zu tun hat und uns einfach nur täuschen will?“

„Auszuschließen nicht, nein. Aber denken Sie daran, dass die Haare schon länger in der Badewanne gelegen haben könnten. Das kommt ja nicht so selten vor, dass man Haare verliert und sie nicht gleich entdeckt und somit liegen lässt. Außerdem wären da noch die Fußspuren.“

„Ist es möglich, dass die Schuhe Manfred Rietz gehören?“

„Das könnte durchaus sein, denn die Größe stimmt überein.“

„Vielleicht hat ja die Tochter die Schuhe angezogen, um uns hinters Licht zu führen.“

Pomanski schüttelt nur den Kopf und lehnt sich zurück, widerspricht der Theorie des Hauptkommissars aber nicht.

Negatio

Подняться наверх