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>Zwei Tage zuvor…<

-Carmen- 26.04.2016, Dienstag

Es ist 23.02 Uhr: Sie streicht ihre naturroten Haare aus der Stirn, die ihr der kühle Wind ins Gesicht geweht hat. Irgendwie bereut sie diese Typveränderung, die sie sich eingebildet hat, jetzt, wo sie endlich über Steve hinweg ist… Arschloch-Steve. Natürlich muss jede Frau nach einer Trennung eine optische Veränderung vornehmen, keine Frage, und was eignet sich dafür besser als eine neue Frisur? Was ihre Freunde und Kollegen als „keck“ bezeichnen, findet sie einfach nur unpraktisch, ihre langen Haare konnte sie problemlos zu einem Pferdeschwanz hochbinden, während sie jetzt die Strähnen ihres „kecken“ Bobs andauernd aus ihrem Gesicht fernzuhalten versucht. Kurz hat sie sogar überlegt, ob sie kleine Spängchen zur Hilfe nehmen soll, aber dann ist sie draufgekommen, dass sie ja keine zwölf mehr ist. Der Nette-Mädchen-Look ist nicht so ihr Fall. Also pusten und wischen.

Als sie und ihre Kollegen am Tatort ankommen, schreckt sie bereits vor der Haustür zusammen. Auf der Türklingel steht der Nachname eines Kollegen, der heute keinen Dienst hat.

Der Anruf kam von einer Nachbarin, einer gewissen Helga Moser, sechsundsiebzig Jahre alt und sichtlich erschüttert.

Sie hätte einen Hilfeschrei gehört, worauf sie sofort die Polizei verständigte und zu Hause ängstlich wartete.

„Das gab’s noch nie! Auf der ganzen Welt herrscht Chaos, überall werden Menschen getötet! Aber hier? Ich wohne schon mein ganzes Leben lang hier, aber dass jemand lauthals um Hilfe schreit… Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Oh, bitte sagen Sie mir, dass niemand verletzt wurde?“

Im selben Moment kommt der Gerichtsmediziner kopfschüttelnd aus dem Haus und das gesamte Grundstück wird abgesperrt.

„Tut mir leid“, hört Carmen sich selbst sagen, als Frau Moser im gleichen Augenblick zu weinen beginnt. Ihr Kollege Tobias Ortner, der eher das Aussehen eines Baywatch-Darstellers und nicht das eines Polizisten hat, ist so freundlich und kümmert sich um die alte Dame, während sie und ihr Kollege Bernd Plank sich einen Weg zwischen den Leuten der Spurensicherung bahnen.

Die zwei Leichen im Erdgeschoss des Einfamilienhauses sind hässliche, blutüberströmte Schandflecke, die irgendwie fehl am Platz zu sein scheinen. Aber weder sie noch ihre Kollegen kennen die beiden, vielleicht sind es also gar keine Verwandten von Sebastian? Obwohl sich Carmen eingestehen muss, keinen seiner Verwandten beim Namen zu kennen, beziehungsweise jemals gesehen zu haben.

„Was kannst du uns über sie sagen?“, fragt sie den Gerichtsmediziner Jörg Pomanski nun, als sie zusammen die Küche betreten.

Auf dem Boden liegt eine Frau mittleren Alters, die ein geblümtes Kleid trägt, was Carmen zunächst etwas seltsam findet, angesichts der Temperaturen, aber im Nachhinein empfindet sie es als unwesentlich. Sie halten einen sicheren Abstand zu der Leiche, um nicht in die Blutlache zu treten, die sich um das Blümchenkleid ausgebreitet hat. Pomanski sieht nachdenklich aus, als er sich mit seinen in Gummihandschuhe gehüllten Fingern durch den dunklen Vollbart fährt, Carmen trägt ebenso Handschuhe, wie sie sie doch hasst. Dann antwortet er mit seiner zum Aussehen passenden üblichen tiefen Stimme: „Bei ihr handelt es sich um Monika Rietz, neunundvierzig Jahre alt. Ihre Daten haben wir von ihrem Personalausweis, ihre Tasche steht im Flur.“

Monika Rietz… Der Name ist Carmen nicht bekannt, aber wie soll er auch? Sebastian hat, zumindest in ihrer Gegenwart, niemals von seinen Verwandten gesprochen.

Pomanski fährt fort: „Die mögliche Tatwaffe hat die Spurensicherung schon eingepackt. Ist übrigens ziemlich sicher dieselbe, mit der ihr Mann umgebracht worden ist. Ein Sägemesser, von der gleichen Serie wie die restlichen in der Küche, also kam der Täter oder die Täterin womöglich unbewaffnet.“

„Vermutest du eher Totschlag als Mord?“

„Es könnte durchaus sein. Monika Rietz wurde - wie ja unschwer zu erkennen ist - die Kehle durchgeschnitten, was mit ziemlich großer Sicherheit auch die Todesursache war. Ich bezweifle, dass sie vorher schon tot war, denn es scheinen keine anderen Verletzungen vorhanden zu sein. Das erfahren wir dann bei der Autopsie, morgen weiß ich mehr.“

„Gibt es Anzeichen eines Kampfes?“

„Bei ihr nicht.“ Mit diesen Worten dreht sich Pomanski um und schreitet in den Flur. Carmen wirft noch einmal einen Blick auf die tote Frau. Wäre da nicht dieser grässliche Schnitt durch ihren Hals und die Unmengen an Blut, könnte man meinen, sie würde einfach nur daliegen und entspannen.

Vielleicht wurde sie vom Angreifer überrascht?

Sie hört Pomanski im Flur husten und gesellt sich zu ihm. Ein paar Meter vor ihnen befindet sich die zweite Leiche, direkt neben dem Treppenaufgang im hinteren Teil des Raumes. Auch kein schöner Anblick.

„Hierbei handelt es sich um Manfred Rietz, dreiundfünfzig Jahre, Ehemann der toten Frau in der Küche. Auch seinen Ausweis haben wir hier im Flur in seiner Geldbörse gefunden. Wie gesagt, mit größter Wahrscheinlichkeit ist hier die Tatwaffe ebenfalls das Sägemesser.“

Carmens Blick wandert zum Rumpf des Mannes.

In seiner Brust ist ein klaffendes Loch zu sehen, es sieht nach einer inneren Verblutung aus.

„Auch hier ist die Stichverletzung vermutlich die Todesursache. Allerdings werde ich das noch nicht bestätigen, wenn du dich da auf mich berufst.“

„Bald erfahren wir also mehr?“

Carmen schreckt bei der plötzlichen Unterbrechung kurz hoch, denn sie hat ganz vergessen, dass Bernd neben ihr steht.

Pomanski nickt und fährt fort: „So wie es aussieht, wurde keine der beiden Leichen nach ihrem Tod verrückt, man hat sie also einfach so liegen lassen. Es dürfte alles recht schnell gegangen sein, sie sind noch nicht lange tot. Der Rigor Mortis ist noch nicht voll ausgeprägt.“

Noch keine Totenstarre also. Für Carmen ist es bei solchen Fällen immer wieder schwer zu glauben, dass die Opfer ein paar Stunden zuvor noch quicklebendig waren. Ohne die Wunden, ohne das ganze Blut… In ihrem Kopf spielt sich dann oft eine Zombieparade ab, weil sie die Opfer ja - wie in diesem Fall - nur mit ihren Verletzungen zu Gesicht bekommt. Die Vorstellung, dass Monika Rietz mit nach hinten hängendem Kopf in der Küche hantiert, während ihr Mann die Treppe herunterkommt und dabei ein Messer im Brustkorb stecken hat, lässt sich nicht vermeiden. Sie wird aus ihren Gruselgedanken gerissen, als Pomanski nach einer kurzen Redepause wieder das Wort ergreift: „Was bei dem Mann aber gefunden wurde, waren Stofffasern unter den Fingernägeln, womöglich hat er sich gewehrt. Auch diese werden demnächst untersucht. Wenn ihr keine Fragen mehr habt, würden wir die beiden dann einpacken und abtransportieren.“

Einpacken… als wären es irgendwelche Gegenstände, aber in diesem Job muss man wohl so sein. Ein harter Kerl, dieser Pomanski, aber anders wäre seine Arbeit fraglos kaum zu bewältigen.

Carmen und Bernd gehen nach oben und stoßen im Badezimmer auf zwei Leute der Spurensicherung.

Die Begrüßung erfolgt durch ein Kopfnicken, Carmen und Bernd bekommen schon die Antwort zu hören, ehe jemand von ihnen eine Frage stellen kann: „So, Leute, das Schlachthausfeeling hört hier noch nicht auf.“ Einer der beiden Männer zeigt auf die blutverschmierte Badewanne und erklärt das Offensichtliche: „Sieht so aus, als wäre jemand am Rand der Wanne abgerutscht. Wir lassen das Blut mit dem der vorhandenen Leichen vergleichen. Ein paar Haare haben wir auch gefunden. Lang und blond, seht ihr? He, passt bloß auf, dass ihr mir nicht in die Pfützen steigt.“

Carmen und Bernd treten reflexartig zur gleichen Zeit auf das andere Bein, wobei sie sich leicht anrempeln. Carmen entschuldigt sich leise, aber das scheint ihren Kollegen nicht zu kümmern. „Hast du eine Ahnung, was da abgegangen sein könnte?“, fragt er sie stattdessen, worauf sie ihre erste Vermutung ausspricht: „Nun ja, dass sich das Ehepaar nicht gegenseitig umgebracht haben kann, liegt ja wohl auf der Hand. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dem Täter oder der Täterin diese blonden Haare gehören, aber hier liegen gleich mehrere… Das ist beinahe zu auffällig, um es ungeschickt zu nennen.“

„Vielleicht war es der erste Mord… verzeih, Doppelmord des Täters und in der Hektik hat derjenige einfach zu wenig aufgepasst, wo er Spuren hinterlässt.“

„Das bezweifle ich. Das Töten an sich ist schon grauenhaft, aber beim ersten Mal glaube ich nicht, dass man so etwas Widerliches veranstaltet. Anfänger ziehen eher die sichere Version vor: Das Erschießen. Das war kein Anfänger.“ Im nächsten Moment ist sie sich plötzlich nicht mehr so sicher, als Bernd sie anlächelt und sagt: „Du weißt aber schon, dass wir es hier mit der Bestie Mensch zu tun haben?“

Carmen schluckt einen Kloß hinunter und wendet sich ab, indem sie einen Blick in die Badewanne wirft. Wie gerne würde sie jetzt ein Bad nehmen, aber garantiert nicht so eines. „Da ist ja Wasser drin“, stellt sie fest, als sie über den blutverschmierten Rand schaut.

Die beiden von der Spusi nicken im Takt, lassen sich aber nicht von ihrer Arbeit abbringen. Natürlich haben sie es schon vorhin gesehen.

Carmen fährt fort: „Die Leichen sehen aber nicht so aus, als hätten sie post mortem gebadet.“

„Weil es der blonde Killer war“, hört sie Bernds Stimme hinter sich, die sich langsam entfernt. Sie folgt ihm den Flur entlang, bedacht darauf, nicht in die nassen Schuhabdrücke zu treten, die vom Badezimmer herausführen. Ihr Blick streift die Wände, die sehr geschmackvoll behangen sind. Alles so neumodische Bilder, die eigentlich nur aus Holz und Metall bestehen, die etwas darstellen, das… nun ja, darin sieht bestimmt jeder Mensch etwas anderes. Was ihr auffällt, ist, dass sie bisher noch keine privaten Fotos von Familie oder Freunden entdeckt hat, die die Wände zieren. „Das ist jetzt nämlich in“, sagt Bernd, der ihre Gedanken zu lesen scheint und auf ein Bild zeigt, das nur aus einem Rohr und Treibholz besteht. „Es gibt wirklich Leute, die dafür zahlen.“

Sie sehen sich im oberen Stock um, finden vorerst aber nichts Außergewöhnliches. Gewöhnliches Schlafzimmer, gewöhnliches Arbeitszimmer, gewöhnliche Toilette und ein kleines Zimmer, das jugendlich eingerichtet ist, aber nur so spärlich, dass es vermutlich nicht mehr bewohnt wird oder als Gästezimmer dient. Der Kleiderschrank ist leer, aber auf einem kleinen Schreibtisch entdeckt Carmen ein Foto in einem Rahmen. Endlich! Es ist sehr verstaubt, aber die Personen darauf sind ihre zwei Opfer, zweifellos. Zwischen den beiden steht eine blonde, junge Frau. „Die Tochter?“, fragt sie und spürt plötzlich Bernds Atem in ihrem Nacken, als er hinter sie tritt, wobei sie komischerweise ein Kribbeln in der Bauchgegend wahrnimmt.

„Sieht so aus. Vielleicht auch unser Täter.“

„Was? Die da? Quatsch!“

„Wieso? Kennst du sie?“

„Nein, aber… sieh sie dir doch an!“

„Das habe ich bereits.“ Carmen verstummt für einen Moment und stellt schließlich die Frage, die sie seit dem Betreten des Hauses nicht loslässt, ihr Blick noch immer auf das Foto gerichtet: „Meinst du, sind das Bastis…“

„Schon möglich“, hört sie ihren Kollegen sagen, der hinter ihr herumkramt. „Aber Wedel hat alle Unterlagen von ihm in seinem Büro. Also spätestens morgen wissen wir Bescheid, ohne uns dafür den Arsch aufreißen zu müssen.“

Carmen beschließt, die gleiche Ruhe zu bewahren wie Bernd und dreht sich zu ihm um. Er hält einen kleinen schwarzen Rucksack in der Hand und sieht sie mit einem unbeholfenen Blick an. „Viel drin ist da nicht.“

Negatio

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