Читать книгу Negatio - Julia Fürbaß - Страница 12
26.04.2016, Dienstag
ОглавлениеVor lauter Nervosität hat er einen großzügigen Umweg gemacht. Besser fühlt er sich jetzt zwar auch nicht, aber ein Versuch war es wert. Wegen des unguten Gefühls, das sich in ihm ausgebreitet hat, fährt Sebastian nicht direkt bis zu seinem Elternhaus. Je weiter weg, desto besser. Obwohl… Was macht das für einen Unterschied?
Die Erinnerungen, die er mit diesem Haus verbindet, sind so beängstigend für ihn, dass er sich nur langsam nähern kann. Ein Stück weit entfernt parkt er seinen Chrysler und geht beinahe schon auf Zehenspitzen darauf zu. Alle erdenklichen Szenarien schießen ihm durch den Kopf: Ist der Anruf nur ein blöder Scherz gewesen? Um ihn, sobald er auftaucht, erneut fertig zu machen? Ist etwas passiert, das ihm sein Vater nicht am Telefon hat sagen können? Oder ist das Unmögliche möglich geworden und seine Eltern wollen ihm verzeihen?
Sebastian betritt das Grundstück und bildet sich ein, die Wiese durch seine Sportschuhe spüren zu können. Die Wiese, auf der er als Kind oft herumgetollt ist. Enttäuscht muss er feststellen, dass er sich trotz dieser Verbundenheit nicht so fühlt, als wäre er wieder zu Hause angekommen. Das hätte ihn aber auch gewundert.
Trotzdem macht Sebastian einen Schritt nach vorne und spürt plötzlich etwas Hartes unter ihm. Als er nach unten blickt, fällt ihm wieder ein, dass sein Vater damals kurz vor dem großen Streit etwas von Weggestaltung erwähnte. Damit waren wohl die Pflastersteine gemeint, auf denen er jetzt steht. Er betrachtet wieder das Haus, die einsetzende Dunkelheit scheint es beinahe zu verschlingen, und doch meint Sebastian, jedes Detail wiederzuerkennen: Die wuchtige Eingangstür, davor die kleine Veranda (auf der er sich nie gerne aufgehalten hat, weil er sich wegen der Straße davor so beobachtet vorkam) und die alte Fassade, die ihre besten Jahre schon hinter sich hat. Er wirft einen Blick auf sein Smartphone: Keine weiteren Anrufe. Die Anzeige auf dem Display verrät ihm, dass es 21.30 Uhr ist.
Er muss an seine kleine Schwester denken. Ob Kim überhaupt noch hier wohnt? Mit ihren einundzwanzig Jahren? Studiert sie vielleicht? Oder verdient sie bereits ihr eigenes Geld? Sebastian war durch den Rausschmiss von seinen Eltern so eingeschüchtert gewesen, dass er sich in all den Jahren niemals nach ihr erkundigt hat, was ihm aber bei dem bescheidenen Verhältnis zu seiner Familie, das dadurch entstand, auch keiner vorwerfen kann. Ihn überkommt ein Gefühl der Einsamkeit… Dieses große Haus, so viele Erinnerungen… Nie wieder würde es so werden wie früher.
Auf der Straße befindet sich keine Menschenseele. Außer ihm scheint niemand hier zu sein und abgesehen vom kühlen Abendwind, der ihn im Nacken kitzelt, ist es vollkommen still.
Ein plötzlich einsetzendes Schwindelgefühl trübt für einen kurzen Moment seinen Blick. Jetzt reiß dich gefälligst zusammen!
Als es vorüber ist, weiß er, was er zu tun hat.
Sebastian nimmt seinen ganzen Mut zusammen und geht auf die Eingangstür zu, ein eigenartiges Gefühl beschleicht ihn, als er die Klinke berührt. Wäre es klüger, kehrt zu machen und nach Hause zu fahren? Aber wenn er schon mal hier ist… Viel schlimmer als der große Streit vor knapp fünf Jahren wird es ja wohl nicht werden, was könnte den denn übertreffen?
Da er in seine Gedanken vertieft ist, bemerkt er zunächst gar nicht, dass die Klinke unter seiner verkrampften Hand nachgibt und die Tür sich einen Spalt weit öffnet. Erst als er einen Rückzieher machen will und loslässt, zuckt er zusammen, als er sieht, wie die Tür immer weiter nach innen aufgeht. So als würde sie ihn willkommen heißen.
Okay, Sebastian… Nur die Ruhe bewahren. Das hat nichts zu bedeuten.
Jetzt kann er unmöglich verschwinden, wo die Tür doch schon offen steht! Soll er einfach hineingehen? Als wäre er hier zu Hause? Er ist sich unsicher und so versucht es Sebastian auf seinem Handy mit der Wahlwiederholung. Er ruft die neue Nummer seines Vaters an, doch es ertönt nur eine Ansage: Unter dieser Telefonnummer ist uns kein Teilnehmer bekannt.
Was sollte das denn nun? Diese ganzen seltsamen Ereignisse machen ihn stutzig. Das kann doch alles miteinander kein Zufall sein!
Misstrauisch blickt er in das helle Rechteck, das vor ihm entstanden ist. Auf einmal verspürt er eine ungeheure Anziehungskraft und tritt ein…
Er schließt leise die Tür. „Hallo?“
Nichts. „Mama?… Pa… Papa?“ Wie lange er diese beiden Wörter nicht mehr in den Mund genommen hat, weiß er gar nicht mehr, ausgenommen natürlich bei dem Telefonat vorhin… Falls dieses wirklich passiert ist… Das bezweifelt er nämlich langsam. „Ist jemand zu Hause? Kim?“ Ihm fällt auf, dass er genau an derselben Stelle steht wie damals, als er seine Eltern auf Knien um Verzeihung angebettelt hat und springt zur Seite, als hätte er sich eben verbrannt. Er lässt nun seinen Blick durch den großen Flur schweifen und auf den ersten Blick scheint nichts ungewöhnlich zu sein. Die Einrichtung ist immer noch dieselbe. Aber etwas ist trotzdem anders, es ist etwas chaotisch. Seine Mutter hat immer schon penibel auf Ordnung und Sauberkeit geachtet, die umgekippten Vasen und Kerzen auf der Kommode neben der Küchentür wären ihr mit sehr großer Wahrscheinlichkeit peinlich. Irgendetwas stimmt hier nicht. Er geht langsam an der Kommode vorbei in die Küche. Geh nicht da rein, hört er seine innere Stimme schreien, aber er ignoriert sie.
Zunächst erkennt er nur seinen eigenen Schatten, den er auf den karierten Küchenboden wirft, welcher durch die Beleuchtung im Flur unglaublich lang aussieht. Gegenüber brennt nur das kleine Licht oberhalb der Spüle. Als er im Halbdunkeln den Esstisch in der Mitte des Raumes umkreist, findet er seine Mutter vor. Er hat mit vielem gerechnet, aber nicht damit.
Das Erste, was er sieht, sind ihre Augen. Mehr braucht es gar nicht, um ihn aus der Fassung zu bringen. Den Laut, den er vor lauter Schreck hervorbringt, ist eine Mischung aus Krächzen und Quietschen. Er tritt einen Schritt zurück, um nicht in die Blutlache zu treten, die sich um das lange gelbe Blümchenkleid seiner Mutter gebildet hat und stößt gegen die Küchenzeile. Sebastian starrt entsetzt auf den Boden… Ihr wurde die Kehle durchgeschnitten. Ihren Puls zu überprüfen, ist nicht mehr nötig. „Mama“, flüstert er. „Wer hat dir das bloß angetan?“ Seinen Vater schließt er als Täter aus, schon aus Prinzip. Er versucht, nicht die Nerven zu verlieren und ruhig zu atmen, als er die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass der Mörder sich noch im Haus aufhalten könnte. Wann ist das passiert? Wenn seine Mutter sein Rufen vorhin noch mitbekommen hat, als sie im Sterben lag, war es das Letzte, was sie von ihrem Sohn gehört hat. Was Sebastian aber größere Sorgen bereitet, ist die Vorstellung, dass es auch der Mörder gehört haben könnte und sich jetzt irgendwo versteckt, um anschließend dasselbe mit ihm zu machen. Er hätte ahnen müssen, dass an der Sache mit dem Anruf was faul ist, warum hat er nicht daran gedacht, seine Dienstwaffe mitzunehmen? Kurz spielt er mit dem Gedanken, ein Messer aus einer der Schubladen zu entwenden, doch eine leise Stimme aus dem oberen Stockwerk bringt ihn so aus der Fassung, dass er unbewaffnet die Küche verlässt.
Wenn er sich nun beeilen würde, könnte er ja vielleicht noch Kim und seinem Vater das Leben retten. Er dreht sich noch einmal kurz um und blickt durch die offene Küchentür, um seiner Mutter einen Luftkuss zu schicken.
In Gedanken legt er sich einen Plan zurecht, wie er den Täter überwältigen könnte, da sieht er plötzlich im Augenwinkel jemanden in der Ecke neben dem Treppenaufgang liegen. Sebastian erstarrt in seiner Bewegung und wagt kaum zu atmen. Diese Ecke hat er vorhin nicht beachtet, weil ihn die umgeworfenen Gegenstände auf der Kommode auf der anderen Seite so irritiert haben. Aber jetzt, wo er aus der Küche kommt…
Die Person in der Ecke bewegt sich nicht, er befürchtet das Schlimmste und presst die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Bitte lieber Gott, mach, dass das alles nur ein Traum ist.
Er dreht sich nach links und sieht erneut dem Tod ins Gesicht… nur sind es diesmal die Augen seines Vaters. Sebastians Herzschlag scheint sich zu überschlagen und er beginnt zu schwitzen. Okay, aller-aller-allerspätestens JETZT ist der Zeitpunkt gekommen, um deine Kollegen anzurufen. Aber seine Glieder sind wie gelähmt, schon die wenigen Schritte, die er auf seinen Vater zugeht, kosten ihn große Anstrengung. Er bückt sich zu ihm hinunter, auch hier ist ein Wiederbelebungsversuch sinnlos, man hat ihm in die Brust gestochen. Sebastian legt sich seine Hände vors Gesicht und beginnt zu schluchzen - Tränen bleiben allerdings aus. Wer um alles in der Welt würde so etwas tun? War der Anruf seines Vaters ein Hilfeschrei? Und wenn es das Telefonat nie gegeben hat? Das würde zumindest erklären, warum die Wahlwiederholung vorhin fehlgeschlagen ist. Ist er schon so verrückt, dass er sich das Gespräch eingebildet hat? Vielleicht hat Sebastians Fantasie ihm einen Streich gespielt oder er hat schon vorher tief im Inneren gespürt, dass etwas vorgefallen ist und ist deshalb hergefahren…
Nein, nein, nein! Ich bin doch kein Freak!
Plötzlich hört er wieder die Stimme… Er kann Gesang aus dem oberen Stockwerk hören und zieht sich mit übergezogenen Mantelärmeln am Treppengeländer hoch. Auf der Stiege kommt er kurz zum Stehen und sieht auf seinen Vater hinab. Ihm kommt der unpassende Gedanke, dass er sich von nun an wenigstens nicht mehr von ihm fertigmachen lassen muss. Wenn sein Vater nur verletzt gewesen wäre, hätte er seine Hilfe wahrscheinlich gar nicht angenommen. Sein Blick wandert zur offenen Küchentür. Ob sie lange leiden mussten?
Da ist wieder der Gesang! Sebastian nimmt gleich zwei Stufen auf einmal und steht gleich darauf vor seinem ehemaligen Zimmer. Er streift seinen Mantelärmel wieder über die Hand und öffnet die Tür, doch bis auf ein paar Möbelstücke und einen Computer ist der Raum leer. Kein Leben, keine Erinnerungen, so als wäre es ein fremdes Zimmer. Sebastian will keine Zeit verschwenden und steuert auf Kims Zimmer zu, doch als er diese Klinke nach unten drücken will, erstarrt er mitten in der Bewegung. Der Gesang ist nun ganz nah, er kommt aber nicht aus diesem Raum. Die Badezimmertür ist kaum mehr als zwei Meter von ihm entfernt, dahinter glaubt er Brown girl in the ring von Boney M. zu erkennen.
Langsam und mit einem Puls, der schon beinahe das menschliche Ausmaß übertrifft, nähert er sich der Tür. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Vorsichtig drückt er die Klinke nach unten und als sich daraufhin die Tür zu öffnen beginnt, verstummt auf einmal der Gesang. Mitten im Wort, so als hätte jemand die Stopptaste gedrückt. Sebastians Ankunft ist also nicht unbemerkt geblieben…
Ihn erwartet vollkommene Stille. Er versucht, das mulmige Gefühl, das ihn beschleicht, zu ignorieren. Das für das sonst doch recht geräumige Haus relativ kleine Badezimmer sieht aus wie früher. Die hellen Fliesen, dazu die uralten Möbel und der verwaschene Teppich, der vor dem Waschbecken liegt.
Sebastian dreht sich langsam im Kreis und vergewissert sich, dass ihm keiner hinter der geöffneten Tür auflauert. Als er niemanden entdeckt, fühlt er sich fürs Erste etwas sicherer. Womit hätte er sich wehren sollen? Der überdimensionale Fön seiner Mutter kann bestimmt einiges anrichten, wenn man damit ausholt. Er vertreibt die groteske Vorstellung, jemanden mit einem Fön zu erschlagen und widmet seine Aufmerksamkeit der Badewanne, vor der der Duschvorhang zugezogen ist. Sebastian kommt sich vor wie in einem alten Horrorstreifen. Natürlich wartet der Mörder hinter dem Duschvorhang - welch ein originelles Versteck!
Zunächst starrt er den Vorhang einfach nur an, kann aber weder eine Bewegung noch einen Schatten dahinter ausmachen. Mach es schnell oder gar nicht, drängen ihn seine Gedanken. Er streift wieder seinen Ärmel über und zieht den Duschvorhang mit einem heftigen Ruck zur Seite. Als sich tatsächlich jemand in der Badewanne befindet, fährt er hoch.
„Was… machst du hier?“