Читать книгу Negatio - Julia Fürbaß - Страница 14
ОглавлениеEs ist Kim, die nackt am Boden der Wanne hockt und sie scheint unversehrt zu sein, zumindest physisch. Hat sie sich etwa hier vor dem Täter versteckt? Das, was Sebastian daraufhin tut, macht er, ohne nachzudenken…
Kurze Zeit später verlässt er mit ihr das Badezimmer. Er hat sie zuvor einfach ohne zu fragen aus der Wanne gehoben, weil sie anscheinend zu schwach war, um aufzustehen. Zu seiner Überraschung ließ sie es ohne Protest geschehen.
Ein paar ihrer privaten Sachen sind nebenan auf der Waschmaschine gelegen. Sebastian hat sie ebenfalls an sich genommen, für mehr hatten sie keine Zeit mehr, dessen war er sich sicher.
Auf seine zahlreichen Fragen gibt sie keine Antworten. Mit schnellen Schritten und seiner Schwester auf dem Arm eilt er den Flur entlang. Ihre langen blonden Haare kitzeln ihn am Hals, dabei bekommt er eine Gänsehaut. Der zarte Duft ihres Erdbeershampoos steigt ihm in die Nase. Als er bei der Treppe ankommt, bleibt er kurz stehen. Gleich würde er erneut an der Leiche seines Vaters vorbeigehen, das erfordert große Überwindung. Sebastian blickt noch einmal nach hinten, um sicherzugehen, dass er nicht verfolgt wird. Dann geht er die Treppe hinunter, konzentriert darauf, nicht nach rechts in die Küche zu schauen. Der Duft des Erdbeershampoos vermischt sich mit dem Geruch des Todes. Von blanker Panik ergriffen läuft er los, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. Bei der Haustür bremst er kurz ab und wischt, so gut es geht, mit seinem Ärmel über die Klinke, um seine Spuren zu verwischen. Er bringt Kim zu seinem Auto und betet, nicht gesehen zu werden. Der Täter könnte noch ganz in ihrer Nähe sein…
Als Sebastian seine Schwester behutsam auf die Rückbank seines Autos legt und sich daraufhin hinters Steuer setzt, rauft er sich die Haare. „Was machen wir denn jetzt?!“, fragt er völlig zerstreut.
Seine Schwester zeigt keine Reaktion. Plötzlich sind in weiter Ferne Polizeisirenen zu hören, instinktiv startet er den Chrysler und rast davon. Auf keinen Fall kann er jetzt hierbleiben, er würde sofort verdächtigt werden. Aber wer hat die Polizei gerufen? Hat man ihn gesehen? Und kann er seiner Schwester überhaupt vertrauen?
Er weiß nur eines: Er wird für sie da sein, das hat er ihr damals versprochen. Sie hat es sogar schriftlich von ihm gefordert.
Während der Fahrt fragt er Kim alles Mögliche: Was passiert ist, ob sie die Polizei gerufen hat und vor wem sie sich versteckt hat. Sie macht keinen Mucks, es ist zwecklos.
„Fuck!“, entkommt es Sebastian und er schlägt auf das Lenkrad. Wie sollte es nun weitergehen? Seine Kollegen von der Polizei werden davon ausgehen, dass Kim abgehauen ist… Vorausgesetzt, sie wohnt noch bei ihren Eltern. Er fragt sie danach und bekommt… keine Antwort.
Falls sie noch bei ihnen wohnt, würde die Polizei wahrscheinlich folgende Theorie aufstellen: Eltern ermordet - Tochter in Panik - läuft davon. Hört sich plausibel an… wenigstens einigermaßen.
Wenn aber jemand davon Wind bekommt, dass Sebastian sie einfach so mitgenommen hat, würden sich die Fragen überhäufen… Es fängt schon mal damit an, dass die beiden jahrelang keinen Kontakt zueinander hatten. Und was würde Kim bei einer Befragung sagen? Ob sie einfach weiterhin schweigen würde? Sebastian kommt der Gedanke, dass er sie eine Zeit lang unbemerkt in seinem Gästezimmer wohnen lassen könnte, bis ihnen etwas Besseres einfällt. Ein wirklich guter Plan ist das nicht, aber jetzt ist es eindeutig zu spät, um über richtiges Verhalten nachzudenken. Er hat schon einen großen Fehler gemacht, als er einfach so sein Elternhaus betreten hat.
Zu Hause angekommen, bringt er seine stumme Begleitung ins Gästezimmer. Er sagt ihr in knappen Sätzen, wo sie alles findet und dass sie sich wie daheim fühlen soll. Als sie da so im Gästebett liegt und verloren an die Zimmerdecke starrt, steht er unbeholfen daneben und weiß nicht, ob er überhaupt noch auf irgendeine Reaktion ihrerseits warten soll. Vermutlich nicht.
Das Gästezimmer ähnelt einem kleinen Hotelzimmer: Es gibt ein Bett mit Nachtkästchen, einen schmalen Kleiderschrank, in dem Sebastian vorwiegend Bettwäsche aufbewahrt und einen kleinen Tisch mit einem Stuhl. Der Vormieter hat Letzteres hiergelassen, warum also sollte er es entsorgen? Solange es nicht im Weg steht. Sebastian hat kurz zuvor noch schnell das Bett frisch bezogen, während Kim am Sessel lehnte und die Holzplatte des kleinen Tischchens musterte.
Nun liegt sie da mit ihrem leeren Blick… Sebastian fragt sich, was diese Augen in den letzten Stunden wohl alles mitansehen mussten. Bei der Vorstellung krampft sich sein Magen zusammen und er muss schlucken, ehe er sagt: „Ich hoffe, du fühlst dich einigermaßen wohl. Du hättest sicher gerne mehr private Sachen hier… Aber wir dürfen unter keinen Umständen etwas holen, das ist jetzt ein Tatort… Bitte hab Verständnis dafür.“
Er reibt unsicher seine Hände aneinander und widersteht der Versuchung, Kim liebevoll den Kopf zu streicheln. Was für ein grauenvolles Schicksal die beiden wieder zusammengebracht hat! Sebastian überlegt, sie zu fragen, warum sie sich seit dem Streit vor fünf Jahren nie mehr gemeldet hat, aber dafür ist es sicher noch zu früh. Von nun an wird sie niemand mehr auseinanderreißen können.
Bevor er den Raum verlässt, vergewissert er sich nochmal, ob die Vorhänge auch geschlossen sind. Er bittet Kim darum, sie nicht anzurühren. Zu groß wäre das Risiko, dass sie jemand von draußen entdeckt. Und wer weiß, vielleicht weiß der Mörder ihrer Eltern ja, wo sich die beiden jetzt aufhalten… Gott bewahre…
Sebastian legt eine effektive Pause ein, ehe er weiterspricht: „Also, ich bin müde, ich leg mich schlafen. Gute Nacht… und… ich will, dass du weißt, dass es mir leidtut und ich dich liebe.“
Aber er ist alles andere als müde. Als er in seinem Bett liegt, lässt er den Abend Revue passieren. Was mit seinen Eltern geschehen ist, ist ja wohl offensichtlich, aber was zum Teufel ist nur mit Kim los? Was hat sie alles mitbekommen? Hat der Täter sie womöglich bewusst verschont und ihr gedroht, dass er weiß Gott was mit ihr anstellt, wenn sie den Mund aufmacht? Sebastians Gedanken wirbeln im Kreis.
Wann würden ihn wohl seine Kollegen kontaktieren? Nervös blickt er auf sein Smartphone, das am Nachtkästchen liegt. Der Bildschirm ist schwarz. Ob er heute Nacht die Augen zubekommt? Seine Gedanken wandern wieder zu Kim. Ist es vielleicht möglich, dass in den letzten Jahren bei ihr eine psychische Störung diagnostiziert wurde und sie deshalb auf nichts reagiert? Diese Vorstellung verdrängt er sofort wieder. Sie hat höchstwahrscheinlich mitansehen müssen, wie ihre Eltern umgebracht wurden, das ist doch eigentlich Grund genug für ihr Verhalten.
Seine Augenlider werden schwer und es dauert nicht lange, bis er eingeschlafen ist. Doch sein Schlaf ist alles andere als ruhig. Im Unterbewusstsein glaubt er mitzubekommen, wie er sich in der Wohnung bewegt. Es ist so, als würde er sich selbst dabei zusehen. Fast wie in einem Traum. Nur, dass es sich nicht so anfühlt. Dieses Gefühl hat er nicht zum ersten Mal… Dieser ganze Tag heute fühlte sich irgendwie nicht richtig an… nicht real… er kam sich vor, als wäre er fremdgesteuert - wie eine Maschine. Kein Polizist, der bei Verstand ist, würde einfach so ein Haus unbewaffnet betreten. Und selbst wenn, dann würde er sofort einen Kollegen um Hilfe bitten. Was ihn da geritten hat, kann er sich nicht erklären. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn es ein völlig fremdes Haus gewesen wäre. Aber da es sich um sein ehemaliges Zuhause und um seine Eltern gehandelt hat, hat er völlig falsch reagiert… zumindest in den Augen eines Polizisten. Dass er sich so dämlich verhalten hat, macht ihm zu schaffen. Wenn nun irgendwo Hinweise gefunden werden, die die Kollegen zu ihm führen, wäre er im Arsch. Und das nur, weil er nicht nachgedacht, sondern einfach gehandelt hat. Er weiß, dass nun eine verdammt schwere Zeit vor ihm liegt…
Plötzlich kann er kühle Luft auf seiner Haut spüren. Hat er etwa das Haus verlassen? Schlafwandelt er neuerdings? Das wissen die meisten Betroffenen nicht mal selbst.
Als er wieder zu sich kommt und aufwacht, liegt er verschwitzt in seinem Bett, so als hätte er eine körperliche Anstrengung hinter sich. Die Dunkelheit, die im Raum herrscht, wird von einem beinahe unerträglichen Kopfschmerz begleitet, aber Sebastian ist zu erschöpft, um aufzustehen und etwas einzunehmen. Stattdessen sinkt er in einen ruhigen, tiefen Schlaf und denkt an das Versprechen, das er seiner Schwester gegeben hat… und das kleine Büchlein. Daran hat er schon lange nicht mehr gedacht. Es wird Zeit, dass er es sich mal wieder ansieht…