Читать книгу Negatio - Julia Fürbaß - Страница 28

30.04.2016, Samstag

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Der nächste Morgen ist schneller da, als sie zu träumen gewagt hätte…

Die Nacht war zu kurz. Eindeutig. Carmen war zwar schon nach zwölf Stunden Dienst um 20 Uhr heimgefahren, aber sie war wegen der Arbeit zu aufgewühlt, um die Nacht zum Schlafen zu nutzen. Nachdem sie ihr Kindermädchen Leila abgelöst und nach Hause geschickt hatte, sah sie nach Jason und erwischte ihn dabei, wie er unter der Bettdecke mit seinen Dinosaurier-Figuren spielte, obwohl er weiß, dass er um 20 Uhr schlafen gehen sollte. Mit jedem Jahr, das er älter wird, darf er fünfzehn Minuten länger wachbleiben, die Ausnahme bilden besondere Anlässe wie Geburtstagsfeiern oder Ähnliches. Da ist sie dann nicht so streng mit ihm. Die Fünfzehn-Minuten-Sache ist Carmens Regel und diese wird von Jason sehr selten gebrochen, also konnte sie ihm gestern auch gar nicht böse sein. Außerdem ist der Junge ihr Ein und Alles. Carmen hat schon von vielen Fällen gehört, bei denen Paare wegen den gemeinsamen Kindern zusammenbleiben.

Bei ihr und Steve war das etwas anderes, sie liebte ihren Partner bis zum Schluss… Naiv, wie sie doch war. Manche Leute würden sie im Nachhinein bestimmt als egoistisch bezeichnen, weil sie bei der Trennung mehr an sich gedacht hatte als an die Folgen für ihr Kind. Sie hatte sehr wohl an Jason gedacht, aber wie hätte sie ihm eine schöne Kindheit schenken sollen, wenn sie selbst unglücklich war? Ihre Meinung war hart, aber realistisch und die einzig vernünftige in ihren Augen: Jason musste einfach mit ihrer Entscheidung leben, genau wie sie. Nur weil sie dafür verantwortlich war, hieß es nicht, dass sie nicht auch darunter litt. Sie hatte sich damals für einen Schlussstrich entschieden, weil sie sich sonst nicht mehr im Spiegel hätte ansehen können, denn sie schuldete sich selbst vor allem eines: Glück. Und das war mit Steve an ihrer Seite nicht mehr möglich. Und so passierte dieses Jahr im Februar das, was kommen musste: Nachdem Steve unter der Woche betrunken von einer Faschingsparty nach Hause gekommen war, schloss Carmen damit ab. So wie er die Wohnung betreten hatte, durfte er sie auch schon wieder verlassen. In den Wochen darauf übernachtete er in Hotels und bei Freunden und nahm sich kurzfristig Urlaub, um sich eine neue Wohnung zu suchen und seine Sachen zu holen. Die Trennung war ohne große Streitereien über die Bühne gegangen, was es Carmen leichter machte. Aber die größte Stütze erhielt sie von Jason. In den ersten Wochen ertappte sie sich selbst dabei, wie sie sich wünschte, dass Steve zu ihr zurückkommen würde. Mit diesem Wunsch kamen die Verzweiflung und damit auch die Tränen. Diese Panikattacken hörten auf, als Jason sie einmal dabei erwischte. Er fragte sie, ob etwas mit seinem Papa passiert sei, weil sie so viel weinte. Carmen konnte ihm auf keinen Fall die Wahrheit sagen, wie würde sie denn dastehen? Sie schüttelte nur den Kopf, und noch bevor sie den Mund öffnen konnte, wurde sie von ihrem Sohn umarmt. Er sagte das Erwachsenste, was ein Zehnjähriger sagen konnte, und das kurz nach der Trennung seiner Eltern: „Du und Papa habt für mich immer zusammengehört. Aber ich bin dir nicht böse, weil du ihn nicht mehr liebhast. In meiner Klasse gibt es sogar Kinder, die haben entweder nur Papa oder nur Mama und ich hatte immer beides. Jetzt hab ich halt ein Mama-Zuhause und ein Papa-Zuhause. Das schaffen wir schon.“

Sie war in diesem Moment so stolz und glücklich und verblüfft über so eine reife Reaktion, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht noch mehr loszuheulen. Seit diesem Tag hat Carmen nicht mehr geweint. Solche Worte von ihrem Sohn zu hören, war das Beste und Schönste, was ihr seit langer Zeit zu Ohren gekommen war. Anstatt sich der Mutter als Strafe zu widersetzen, so wie es sicher andere Kinder gemacht hätten, war Jason immer für sie da. Er ist das Gegenteil von seinem bescheuerten Vater. Obwohl Carmen zugeben muss, dass Steve nach wie vor für seinen Sohn da ist und er einen tollen Umgang mit Kindern hat. Es hätte perfekt sein können, aber die Beziehung litt schon viel zu lange unter der mangelnden Einfühlsamkeit ihres Partners. Dass er sie mehr als einmal betrogen hatte, und noch dazu damit prahlte… ja, damit hatte sie sich erstaunlich schnell abgefunden, denn sie war sich damals bewusst, dass sie nicht die Schönste war, und somit gab sie sich mehr oder weniger damit zufrieden. Er war nicht der einzige Kerl, der sie betrogen hatte, also erwartete sie auch keine Treue. Sie war eben nie ein Supermodel gewesen und betrogen zu werden war für sie nichts Neues.

Sie ist sich sicher, die beste Entscheidung getroffen zu haben. Gestern Abend wollte sie nicht zu streng mit Jason sein, denn er hatte die 20-Uhr-Regel lange nicht mehr gebrochen. Und es war Freitag!

Eine schlaflose Nacht und eine anstrengende Autofahrt später sitzt sie mit Bernd an ihrem beinahe aufgeräumten Schreibtisch. „Du siehst nicht gut aus“, sind die ersten Worte, die ihr Kollege nach den schweigsamen Minuten während der ersten Tasse Kaffee zu ihr sagt.

Als Antwort entscheidet sie sich einfach für die Wahrheit: „Ich konnte nicht schlafen. Was, wenn wir mit unseren Ermittlungen völlig daneben liegen?“

Das raubt dir den Schlaf? Jetzt hör mir mal zu: Wir … Du leistest tolle Arbeit. Der Täter, der vielleicht Kim sein könnte, macht es uns leider nicht einfach, aber jetzt schauen wir mal, was wir aus den Mädels rausbekommen. Es ist noch nicht einmal eine Woche vergangen und du glaubst schon, dass du alles falsch gemacht hast. Das ist Unsinn. Und… lass dein Privatleben nicht darunter leiden.“

Diese Worte sind Balsam für ihre Seele. Am liebsten würde sie Bernd dafür umarmen, aber sie weiß nicht, wie er darauf reagieren würde. Er zwinkert ihr aufmunternd zu und sie machen sich auf den Weg. Sie haben beschlossen, Kims Freundinnen zu Hause zu besuchen, dann können sie sich ein Bild von deren privatem Umfeld machen. Vielleicht sind sie ja im Besitz von einer von Kims Sachen, man kann ja nie wissen. Carmen hofft, dass Tanja oder Maria brauchbare Informationen oder sogar Gegenstände vorzuweisen haben, die ihnen weiterhelfen können. Und falls nicht, besteht immer noch die Hoffnung, in Kims Wohnung irgendwelche Hinweise zu finden. In ihrem Elternhaus waren nur einige wenige Sachen aus ihrer Kindheit zu finden, verstaut in einem Schrank, der in dem Raum stand, in dem auch der Rucksack gelegen hat.

Nicht einmal Sebastian konnte ihnen sagen, ob seine Schwester noch bei ihren Eltern wohnt, obwohl es nicht den Anschein hatte. Also machte sich ihr Kollege Tobias an die Arbeit und fand heraus, dass Kim Rietz in einem alten Gebäude mit günstigen Mietwohnungen gemeldet ist.

Zu Anfang wollte der Vermieter unter keinen Umständen den Ersatzschlüssel für ihre Wohnung herausrücken. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich Tobias den Durchsuchungsbeschluss aushändigen lässt und sich wieder auf den Weg zu dem ach so freundlichen Vermieter macht.

Carmen und Bernd setzen sich ins Auto und fahren zu der Adresse, die ihnen Tanja gegeben hat. Bernd übernimmt das Steuer, er ist der Meinung, dass Carmen viel zu müde zum Fahren sei und eigentlich auch zum Arbeiten, aber sie tut es mit einer Handbewegung ab. Obwohl er recht hat.

Die Fahrt verläuft bis auf ein paar Bemerkungen über das Wetter und Bernds leises Fluchen wegen der nicht vorhandenen Parkplätze schweigsam, und etwa zwanzig Minuten und eine lästige Parkplatzsuche später sind sie angekommen. Nun stehen sie zwar zur Hälfte am Bürgersteig, aber eine andere Möglichkeit gibt es hier anscheinend nicht. Ein erstaunlich kalter Wind peitscht ihnen ins Gesicht, als sie in Richtung Tür gehen. Dem heutigen Wetter nach zu urteilen könnte man meinen, dass schon Oktober ist und sich der Sommer schon verabschiedet hat. Dabei steht der noch nicht mal in den Startlöchern. Als sie vor der Tür zum Stehen kommen, drückt Carmen auf die Klingel und gleich darauf ist ein Summer zu hören, der ihnen Eintritt gewährt, so als würde man schon an der Wohnungstür auf die beiden warten.

Und so ist es auch. Als Carmen und Bernd das Haus betreten, wird im ersten Stock eine Tür geöffnet, in der schon eine der jungen Frauen wartet. Sie ruft ihnen entgegen: „Sind Sie von der Polizei?“

Sie bejahen die Frage erst, als sie in der ersten Etage angekommen sind und zücken ihre Ausweise.

Sie streckt ihnen die Hand entgegen und sagt: „Ich bin Tanja Eichtinger. Bitte, kommen Sie doch rein.“

Carmen erkennt die freundliche, etwas kindliche Stimme vom Telefonat sofort wieder. Umso überraschter ist sie vom Anblick dieser Frau. Auf der einen Hälfte des Kopfes sind ihre Haare bis auf fünf Millimeter abgeschoren, auf der anderen Seite grün gefärbt und am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Tätowiert scheint sie nicht zu sein, dafür hat sie ein Dutzend Piercings in ihrem Gesicht und in den Ohren. „Und lassen Sie die Schuhe an!“, ruft sie, als sie schon im nächsten Raum verschwunden ist.

Carmen und Bernd folgen ihr und finden sich kurz darauf in einer Küche wieder, wo Tanja gerade zwei Gläser mit Wasser befüllt. In einer Ecke steht ein runder Tisch mit fünf Sesseln, einer davon ist besetzt. Von einer weinenden jungen Frau. Tanja stellt die Gläser lautstark auf den Tisch und sagt: „Tut mir leid, das ist Maria. Sie nimmt die Sache ganz schön mit.“ Die Frau blickt auf und gibt den beiden die Hand. Tanja legt einen Arm um Marias Schulter und erklärt das Offensichtliche: „Das sind Frau Birkner und Herr Plank von der Polizei, Liebes.“

Carmen und Bernd wird jeweils ein Platz am Tisch angeboten. Sie setzen sich und mustern Kims Freundinnen kurz. Maria ist anscheinend die Ruhigere von den beiden. Sie hat eindeutig südländische Wurzeln, vielleicht aus Kosovo. Dunkles, langes, volles Haar fällt ihr über die Schultern und sie trägt kein Make-up. Im Gegensatz zu ihrer Mitbewohnerin. Das Einzige, das sie äußerlich gemeinsam haben, sind die Ringe in der Unterlippe, davon besitzt Tanja aber mehr. Und die Kleidung ist auch derselbe Stil. Sie erinnert Carmen an ihre Teenagerzeit. Da gab es mal eine Phase, in der sie Punkmusik hörte und die Bandmitglieder auf ihren Postern waren auch so angezogen gewesen wie die Mädchen vor ihnen.

Bernd beginnt zu reden: „Danke, dass Sie sich gemeldet haben. Meine Kollegin Frau Birkner wird sich schriftliche Notizen machen, lassen Sie sich nicht davon ablenken.“

Die Mädchen nicken hektisch und bieten ihnen an, sie zu duzen. Bernd fährt fort: „Also gut. Zuerst würden wir gerne wissen, in welchem Verhältnis ihr zu Kim steht.“

So wie es aussieht, ist Maria zu beschäftigt damit, sich ihre Nase zu putzen und so ergreift Tanja das Wort: „Na ja, wie schon am Telefon erwähnt, sind wir Freundinnen von ihr.“

„Gute Freundinnen? Also, hattet ihr viel Kontakt zu ihr?“

„Würde ich schon sagen, ja.“

„Und was würde Maria sagen?“ Sie blickt überrascht auf, als sie ihren Namen hört und antwortet: „Geht so.“

„Magst du sie nicht?“

„Doch.“

Carmen hat sich noch keine Notizen gemacht.

Die Befragung fängt schon nicht gut an. Die eine behauptet, dass beide gut mit Kim befreundet sind, die andere scheint das nicht so zu sehen und lässt sich alles aus der Nase ziehen. Bernd atmet hörbar aus und fragt: „Soso, nun… Ihr habt uns kontaktiert, also müsst ihr doch irgendetwas zu erzählen haben.“

Die beiden sehen beinahe etwas verwundert aus, aber Tanja antwortet schließlich: „Wir waren ziemlich schockiert, als wir Kimmy auf dem Fahndungsfoto wiedererkannt haben…“

„Wieso denn?“

„Wie meinen Sie das? Wären Sie nicht erschrocken, wenn jemand, den Sie kennen, des Mordes verdächtigt wird?“

„Nicht, wenn es demjenigen zuzutrauen wäre.“

Bernd will sie anscheinend auf die Probe stellen. Carmen macht sich Notizen über die Reaktionen von Kims Freundinnen: Wie sich ihre Blicke verändern, ob sie nervöse Gesten machen, oder, wie in diesem Moment: Wie sie sich verstört ansehen.

Gleich darauf erntet ihr Kollege böse Blicke von Kosovo-Maria, als diese sagt: „So eine ist Kim nicht.“

Entweder scheint Bernd den hasserfüllten Unterton nicht zu bemerken oder es ist ihm egal. Er redet geduldig weiter, während sein Blick zwischen den zwei jungen Frauen hin- und herspringt: „Dann würden wir gerne wissen, was Kim für ein Mensch ist. Erzählt uns einfach alles, was euch einfällt.“

Nun ist wieder Tanja diejenige, die den Mund aufmacht: „Dann beginne ich mal ganz von vorne… Ich habe Kimmy in einem Club kennengelernt. Das war vor etwa… zwei Jahren im Memories.“

„In dem Memories, das vor ein paar Monaten dichtgemacht hat?“

„Genau. Da war ich ab und zu unterwegs. Aber mit den Drogen hatte ich nie zu tun! Ich war nur dort, um zu tanzen.“

„Alleine?“

„Kommt darauf an, ob jemand Zeit hatte. Aber an diesem Abend war ich alleine. Eigentlich war es so, dass eine Bekannte von mir dort aushilfsweise ab und zu hinter der Bar stand. Hauptsächlich, um den Barkeepern und den Gästen hinterher zu putzen. Und die hatte mir in einer SMS geschrieben, dass Mark im Club war. Den fand ich damals wirklich toll, aber er war ein Arschloch.“

Plötzlich steht Maria auf, ohne ein Wort zu sagen und verschwindet im Badezimmer. Carmen und Bernd schauen ihr nach.

Tanja meint: „Kleine Blase. Typisch für sie. Kommt bestimmt gleich wieder.“

Bernd deutet zur Tür, durch die Maria eben verschwunden ist und fragt: „Hat sie was gegen Mark?“

„Sie kannte ihn kaum. Sie wusste, dass ich kurz mal was mit ihm am Laufen hatte, aber das waren nur gelegentliche Schäferstündchen… für ihn. Ich wäre schon irgendwie gerne mit ihm zusammen gewesen, aber mir war diese Bettgeschichte lieber als gar nichts. Also bin ich überall dort aufgetaucht, wo er auch war, damit er nichts mit einer anderen anfängt. Ich weiß, das klingt stalkermäßig, aber… ich mochte ihn echt… Einmal habe ich ihn in einer Bar gesehen… Ich bin direkt auf ihn zugegangen, da hat er schon mit einer anderen rumgemacht. Von da an wollte ich nichts mehr von ihm wissen. Es musste ja so kommen, dass er nochmal eine findet, die er um den Finger wickeln kann. Diese blöde Fotze hat alles versaut.“

Da scheint aber jemand ganz schön gekränkt zu sein, denkt Carmen. Aber sie kommen vom Thema ab. Tanja hat sich so in ihre Liebesgeschichte vertieft, dass sie anscheinend ganz vergessen hat, worum es heute eigentlich geht. Bernd geht nicht weiter auf die Beziehung zwischen ihr und Mark ein und fragt: „Kannte dieser Mark auch zufällig Kim?“

„Nicht, dass ich wüsste. Außer er hat auch mit ihr hinter meinem Rücken rumgemacht, aber das hätte sie mir erzählt.“

„Nun beruhige dich wieder ein bisschen und komm wieder zurück zum Wesentlichen. Wir sind nicht hier, um über Mark zu reden. Außer, er hat Kim gekannt.“

„Nein, hat er nicht. Na gut… Ich war also auf dem Weg ins Memories, aber als ich dort ankam, war Mark schon weg. Aber da ich schon mal da war, wollte ich auch nicht gleich wieder abhauen. Also nahm ich einen Drink an der Bar, wo meine Bekannte arbeitete, und als ich zur Toilette ging, sah ich Kimmy mit einem Typen. Er baggerte sie im Gang vor den WCs an und fummelte an ihr rum. Sie hat sich gewehrt, aber für mich sah es so aus, als würde sie trotzdem Hilfe brauchen. Und wenn jemand Frauen belästigt, sehe ich Rot. Ich schlage zwar keine Kerle zusammen oder so, aber in dem Fall bin ich auf sie zugegangen und habe ihn zur Seite geschubst, weil er wirklich nicht aufhören wollte, der Perversling. Ich habe zu ihm gesagt, dass er seine Krüppelfinger von meiner Freundin lassen soll und ihr ein Küsschen auf den Mund gegeben, dann ist er abgehauen. Kimmy war total perplex, hat sich dann aber gleich bedankt. Sie sagte, dass sie ihn nicht kennen würde.“

„Du bist einfach zu einer Fremden hin und hast sie geküsst?“

„Ja, ein kleiner Schmatzer war es, mehr nicht. Es sollte ja so aussehen, dass sie kein Interesse an dem Kerl hat. Auf jeden Fall hat sie mich zum Dank auf einen Drink eingeladen und so begann unsere Freundschaft.“

Diese Geschichte hätte man auch kurzfassen können, aber na ja. Es ist besser, wenn jemand zu viel erzählt anstatt zu wenig. Carmen fragt: „Mit wem war sie damals im Club, weißt du das noch?“

„Sie hat mir erzählt, dass sie sich mit ihrem Exfreund treffen wollte, der ist aber nicht aufgetaucht.“

„Hat sie seinen Namen erwähnt?“

„Oh, des Öfteren. Das war ein ewiges Auf und Ab zwischen den beiden. Sein Name war Henry.“

„Henry…?“

„Lassen Sie mich nachdenken. Den Nachnamen hat sie auch ein paar Mal genannt… Fuchs… Ja! Ich glaube, das war es. Henry Fuchs.“

Diesen Namen schreibt Carmen in Blockschrift auf. Der könnte ihnen womöglich wirklich weiterhelfen. Es entsteht eine kurze Pause. Carmen notiert sich noch ein paar Stichworte, dann sieht sie sich im Raum um und fragt: „Soll ich mal nach Maria sehen? Vielleicht geht es ihr nicht gut.“

„Ich mach das schon“, sagt Tanja schnell und springt auf. Sie geht ins Badezimmer und schließt die Tür hinter sich, aber Carmen und Bernd verstehen trotzdem ein paar Wortfetzen. Es ist eindeutig Tanjas Stimme, die ungeduldig klingt: „Jetzt führ dich nicht so auf. Wie sieht das denn aus, wenn du mich mit den Polizisten alleine sitzen lässt?“

Kurz darauf kommt sie wieder zurück, lächelt höflich und meint, dass Maria gerade mit Nasenputzen beschäftigt und wegen Kim ziemlich durcheinander sei. Also doch keine kleine Blase? Ehe Bernd etwas sagen kann, beschließt Carmen, eine Frage zu stellen: „Wie hat sich eure Freundschaft entwickelt?“

„Na ja, normal eben. Wie eine typische Freundschaft unter Mädels. Wir haben ziemlich viel Zeit miteinander verbracht.“

Nun ist wieder Bernd an der Reihe: „War denn gar nichts an ihrem Verhalten, das dir komisch vorgekommen ist?“

„Nein, sie hat sich eigentlich auch mit jedem gut verstanden. Die einzige Person, mit der es nicht so recht hinhauen wollte, war eben dieser Henry. Da fragen Sie ihn am besten selbst. Ich habe aber leider keine Kontaktdaten von ihm, ich weiß nur, dass er so heißt.“

„Stand Kim noch mit ihm in Kontakt, nachdem sie sich getrennt hatten?“

„Nun ja, ich weiß, dass die beiden zusammen waren, bevor ich sie kennengelernt habe. Aber auch in den letzten zwei Jahren hatten sie des Öfteren Kontakt. Sie hatten auch einige Dates, aber Kimmy hat meistens heulend angerufen, weil er dann auf einmal doch nichts mehr von ihr wissen wollte, oder es sich anders überlegt hatte und so weiter.“

„Hatte sie sonst noch Beziehungen?“

„Na ja, Verabredungen hat jeder mal, aber bei Kimmy war nicht wirklich was Ernstes dabei.“

Nun kommt Bernd zum springenden Punkt. Die nächsten Fragen stellt er so, als hätte er sie aufgeschrieben und wolle sie jetzt einzeln nach und nach von einer Liste streichen: „Was weißt du über ihre Familie?“

Tanja blickt etwas traurig zu Boden. Es scheint so, als würde sie darüber nachdenken, wie sie es am besten formulieren sollte. Als sie wieder aufsieht, antwortet sie: „Leider nicht viel. Sie hat kaum darüber gesprochen. Gott, das ist alles so schrecklich. Und jetzt sind ihre Eltern tot.“

„Hat Kim gar nichts von familiären Verhältnissen erzählt? Wo hat sie zum Beispiel die Weihnachtsfeiertage oder ihren Geburtstag verbracht?“

„Na ja… Bei uns. Zumindest die Feiertage nach Heiligabend und so weiter, wenn wir eben wieder von unseren Familien zurückgekommen sind. Sie hat gesagt, dass sie mit keinem aus ihrer Familie Kontakt hat. Es hat aber auch nicht so ausgesehen, als würde sie das ändern wollen. Ich habe ihr mal angeboten, mit zu meinen Leuten zu kommen, aber das wollte sie nicht. Sie war… sie ist eine starke Frau. Ich habe mich oft gefragt, wie sie es schafft, keine Trauer darüber zu zeigen, aber dann dachte ich mir, wenn sie reden will, wird sie schon etwas sagen. Also habe ich nicht nachgefragt, denn es hat ja nie den Eindruck gemacht, dass sie unglücklich deswegen war.“

„Und was denkst du jetzt darüber, nachdem sie des zweifachen Mordes an ihren Eltern verdächtigt wird?“

Tanja muss schlucken. Die Tatsache, diese grausamen Worte nicht nur zu lesen oder im Fernsehen mitzubekommen, sondern von einem Mann, der ihr gegenübersitzt, auch noch zu hören, scheint sie schwer zu treffen. Die junge Frau reißt sich zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie schüttelt den Kopf und sagt: „Was wollen Sie von mir hören? Dass Kimmy so etwas nie machen würde? Dass sie keiner Fliege was zuleide tun kann? Dass sie wie eine Schwester für mich war?“

Carmen und Bernd haben eine stumme Abmachung getroffen und antworten nicht auf die Fragen, um sie weiterreden zu lassen.

Tanja atmet tief ein und fährt fort: „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll… Ich weiß es wirklich nicht. Ich hätte ihr so etwas niemals zugetraut. Andererseits ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es im Nachhinein schon komisch, dass sie kein Wort über ihre Familie verloren hat, aber damals weckte es keinen Verdacht. Wirklich nicht. Bitte glauben Sie mir.“ Bei diesen Worten faltet Tanja ihre Hände wie zu einem Gebet und klingt beinahe schon verzweifelt.

Bernd versucht, sie zu beruhigen: „Wir glauben dir. Du hast nichts falsch gemacht. Wir hätten da noch ein paar Fragen an dich.“

„Welche denn?“

„Seid ihr im Besitz irgendwelcher Dinge, die Kim gehören? Oder wisst ihr von Gegenständen, die sie besaß und ihr viel bedeutet haben?“

„Auf die Schnelle fällt mir jetzt nichts ein. Aber ich kann Sie anrufen, falls ich etwas finde.“

„Das wäre sehr nett. Und nun ist Schluss mit dem Kindergarten.“

Tanjas Augen werden plötzlich groß. Hat sie etwa allen Ernstes gedacht, dass die Polizei es nicht für notwendig hält, beide Freundinnen zu befragen? Sie sieht so aus, als wüsste sie nicht einmal, was sie gerade von dieser Situation halten soll. Bernd hilft ihr auf die Sprünge und sagt: „Holst du Maria aus dem Badezimmer, oder sollen wir das machen?“

Tanja steht auf und verschwindet für kurze Zeit… schon wieder.

Man kann hören, wie sie nun einfühlsam auf Maria einredet. Carmen nimmt einen Schluck von ihrem Wasser und Bernd sagt zu ihr: „Da hat mir die Befragung von gestern mit dem jungen Thomas-Brezina-Verschnitt aber mehr Spaß gemacht.“

Carmen verschluckt sich beinahe und muss aufpassen, dass sie nicht zu lachen beginnt. Das wäre in der momentanen Situation eher nicht angebracht. Doch Bernd lässt es sich nicht nehmen, über seine Aussage zu grinsen. Als die Mädchen wieder die Küche betreten, unterbindet er es sofort, zum Glück. Tanja bleibt neben ihnen stehen und Maria setzt sich wieder an den Tisch. Bernds Stimme ist ruhig, als er sie fragt: „Maria, diese Frage geht jetzt an dich: Gibt es irgendetwas, das du uns über Kim sagen willst? Egal, was. Oder willst du lieber alleine mit uns sprechen?“

Tanja versucht, nach der eben gestellten Frage nicht beleidigt auszusehen, was ihr so gut wie gar nicht gelingt. Ihre Mitbewohnerin atmet tief ein und setzt zum Reden an, die beiden Polizisten schauen sie erwartungsvoll an und sie antwortet leise: „Ich habe nichts zu sagen.“

Carmen kann es nicht fassen. Dafür wurden sie hergebeten? Doch immerhin haben sie den Namen von Kims Exfreund, das ist besser als gar nichts.

Sie fragt die Mädchen noch, wo sie am Tatabend waren, darauf antworten sie, zu Hause, weil sie in letzter Zeit sowieso nicht mehr so oft auf Partys gehen würden und das könne niemand bezeugen, außer ihnen selbst.

„Hattet ihr an dem Abend gar nichts mit Kim ausgemacht?“

„Nein, sie hatte ja seit einiger Zeit was mit einem Typen am Laufen.“

„Wie bitte?“, fragen Carmen und Bernd wie aus einem Munde. Bernd ergreift angespannt das Wort: „Gerade vorher haben wir gefragt, ob Kim andere Beziehungen außer zu Henry hatte. Warum hast du nichts gesagt?“

Tanja ist nun sichtlich eingeschüchtert. Hat sie vorhin damit die Polizei belogen? Carmen kann sich gut vorstellen, dass ihr gerade diese Frage im Kopf herumschwirrt. Das Mädchen ist nervös, als es antwortet: „Tut mir leid. Ich wusste doch nicht, dass das so wichtig ist. Ich meine, ich weiß ja nicht einmal, wer es war. Vor ein paar Monaten hat sie erzählt, dass sie wieder was mit einem Typen am Laufen habe und sie glaube, daraus könne echt etwas Ernstes werden. Sie wollte seinen Namen aber nicht nennen… Sie sagte, das mache sie erst, wenn es offiziell werden würde. Er wäre noch nicht so weit, meinte sie, aber sie war richtig vernarrt in ihn. Aber ich wollte gar nicht zu viel davon wissen, weil ich schon vermutete, dass es um Henry geht, sonst hätte sie uns seinen Namen gesagt.“

„Das stimmt. Wir dachten, es wäre wieder Henry. Wahrscheinlich war er es auch, deshalb haben wir nichts mehr gesagt. Ich habe vorhin vom Badezimmer aus gehört, wie Tanja von ihm erzählt hat.“

Diese Sätze kommen erstaunlicherweise von Maria. Bis zur Verabschiedung bleiben diese aber auch die einzigen von ihr.

Negatio

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