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1.3.1 Graffiti als Forschungsgegenstand

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Die Erforschung von Graffiti stellt ein relativ junges Forschungsgebiet dar, weil sich der Gegenstand selbst – das moderne Szenegraffiti – erst vor 50 bis 60 Jahren in den USA entwickelt hat. Zwar taucht die Bezeichnung Graffiti auch schon in früheren Publikationen auf, sie bezieht sich dabei jedoch nicht auf das Szenegraffiti, sondern auf andere Formen, die mitunter unter der Bezeichnung Graffiti zusammengefasst werden.1

Erste Publikationen zum Szenegraffiti entstehen Ende der 60er-Jahre. Nimmt man diese frühen Veröffentlichungen in den Blick, so zeigt sich, dass sich die Autoren zunächst auf eine Beschreibung des Phänomens Graffiti konzentrieren. In dem Aufsatz „Names, Graffiti and Culture“ (1969) – einer der ersten Publikationen zum Szenegraffiti – schildert der New Yorker Erzieher Herbert Kohl, wie er 1967 durch einen Schüler auf die Praktik aufmerksam wird, einen selbstgewählten Spitznamen an die Wände in der Nachbarschaft zu schreiben. Dieser schrieb fleißig „Bolita“, span. für ,kleiner Ball‘, an die Wände seines Viertels, obwohl er selbst kaum lesen und schreiben konnte (KOHL 1969: 26). Wie SNYDER später schreibt, hatte der Erzieher Kohl damit unbewusst „the beginnings of writing culture in New York City“ dokumentiert (2009: 23).

Die Intention dieser ersten Publikationen besteht zunächst darin, auf das Graffitiwriting als eine für Jugendliche sinnstiftende Tätigkeit aufmerksam zu machen.2 Dabei wird das Szenegraffiti auch von Anfang an mit anderen kulturellen Praktiken verglichen. KOHL weist beispielsweise darauf hin, dass die Wahl eines neuen Namens in der Geschichte verschiedener Religionen verankert sei und der neue Name symbolisch für das neue Leben stehe (1969: 31). Diese Vergleiche zielen einerseits darauf ab, die Beschäftigung mit Graffiti zu rechtfertigen. Andererseits geht es aber auch darum, das Graffitiherstellen als eine Praktik zu beschreiben, die nicht völlig isoliert zu sehen ist, sondern in Relation zu anderen Praktiken steht.

Als besonders einflussreich gilt der 1973 erschienene Text-Bild-Band „The Faith of Graffiti“ von NORMAN ET AL., in dem die Werke und die Akteure der New Yorker Szene abgebildet und beschrieben werden. Im gleichnamigen Essay, der in diesem Band enthalten ist, wird Graffiti ebenfalls mit etablierten Kulturtechniken verglichen. MAILER stellt die Sprüher dabei in eine Traditionslinie mit den Malern der Renaissance-Fresken (1973 o.S.) und betont damit den Stellenwert von Graffiti als Kunst. Dieses Argumentationsmuster, bei dem das Szenegraffiti in eine Traditionslinie mit weiteren Formen der Wandbeschriftung aus verschiedenen Zeiten gestellt wird, findet sich bis heute in der Graffitiforschung.

Eine andere Perspektive auf Graffiti nimmt der Aufsatz „Kool Killer ou l’insurrection par les signes“ (auf Dt. „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“) des französischen Soziologen BAUDRILLARD ein. Diese im französischen Original 1975 erschienene Publikation hat viel Aufmerksamkeit erfahren und ist in der Graffitiforschung häufig diskutiert worden.3 BAUDRILLARD perspektiviert Graffitis nicht als Kunst, sondern als revolutionäre Zeichen, die „keinen Inhalt, keine Botschaft haben“ und sich dadurch jeglicher Deutung entziehen, die Ordnung des öffentlichen Raums jedoch durch ebendiese Inhaltslosigkeit zerstören würden (1978: 29). Durch diese Interpretation der Graffitis als revolutionäre, aber bedeutungsleere Zeichen wird ihnen die künstlerische Bedeutung weitestgehend abgesprochen. Allerdings lenkt BAUDRILLARDS Aufsatz „den Blick auf die sozialen und politischen Hintergründe des New Yorker Graffiti und auf die Großstadt als Ort sozialer Konflikte“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 97).

In den 80er-Jahren folgen erste empirische Arbeiten zum Szenegraffiti. Damit rückt die Graffitiszene selbst, d.h. die Akteure, stärker in den Fokus. Hier ist zunächst die ethnographisch angelegte Studie „Getting Up: Subway Graffiti in New York“ (1982) des New Yorker Kulturanthropologen CASTLEMAN zu nennen, die einen großen Einfluss auf die Szene und auch die Graffitiforschung hat. CASTLEMAN arbeitet interviewbasiert und gewährt mit seinem Werk tiefe Einblicke in die Motive und Strukturen der frühen New Yorker Graffitiszene. Die Studie wird daher auch als Graffiti-„Standardwerk[…]“ bezeichnet (VAN TREECK 2001: 67). Zu den frühen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Szenegraffiti ist außerdem die soziologische Studie „Graffiti as Career and Ideology“ von LACHMANN (1988) zu zählen. LACHMANN fertigt Interviews mit 25 Akteuren an und liefert mit seinem Aufsatz ebenfalls erste Informationen zu den Motivationen der Sprüher sowie zu den Praktiken und Strukturen der Szene.

Als einflussreiche Publikationen sind darüber hinaus auch die Graffiti-Fotobücher „Subway Art“ von COOPER UND CHALFANT (1984) und – etwas später veröffentlicht – „Spraycan Art“ von CHALFANT UND PRIGOFF (1987) zu nennen, die auf eine umfangreiche Dokumentation der Szeneaktivitäten abzielen. COOPER UND CHALFANT sowie CHALFANT UND PRIGOFF beschreiben beispielsweise die Entstehung der Szene, stellen ihre Sinnschemata und das Vokabular der Szene vor. Darüber hinaus liefern diese beiden Fotobücher das Bildmaterial, mit dem Graffiti in der ganzen Welt bekannt wird. In der Szene wurden „Subway Art“ und „Spraycan Art“ so populär, dass sie als „Bibel[n] der Sprüher“ bezeichnet werden (VAN TREECK 2001: 48).

In Deutschland setzt die wissenschaftliche Beschäftigung mit Graffiti Mitte der 70er-Jahre ein – und damit zu einer Zeit, in der das Szenegraffiti in deutschen Städten noch gar nicht angekommen ist.4 Inspiriert durch die amerikanischen Autoren und bedingt durch das Medieninteresse an der strafrechtlichen Verfolgung des Schweizer Sprayers Harald Naegeli entstehen bereits ab 1975 erste Publikationen, die primär wissenschaftlichen Disziplinen wie der Kunst- und Kulturwissenschaft zugeschrieben werden können.5 Zu nennen sind hier etwa HAUBENSAKS Artikel „Graffiti als Herausforderung“ (1975), VERSPOHLS Essay „Mene mene tekel peres“ (1980) und GRASSKAMPS Ausgabe zum Thema „Graffiti und Wandbilder“ in der kunstwissenschaftlichen Zeitschrift „Kunstform International“ (1982). MÜLLER veröffentlicht 1985 einen wissenschaftlichen Sammelband mit dem Titel „Graffiti“, in dem es primär um Wandinschriften aller Art (z.B. auch um Toilettengraffitis), aber auch bereits um das amerikanische Szenegraffiti geht.

Am Rande sei hier bemerkt, dass HAUBENSAK in seinem Aufsatz von 1975 interessanterweise bereits auf die große Bedeutung der Namen im amerikanischen Szenegraffiti aufmerksam macht:

Sie schreiben ihre Namen auf die Wände, meistens Spitznamen oder Pseudonyme […] und fügen Zahlen oder Codes hinzu, welche sich auf ihre Strassen und Hausnummern oder Schulklassen beziehen. In der ganzen Stadt warten Hunderte von Jugendlichen, beladen mit Spraydosenfarben, um irgendwo eine Wand mit ihrem Namen zu bemalen: „Hit the wall with your name“ ist der Schlachtruf, und im Ghetto heisst „schlagen“: zu Fall bringen. (HAUBENSAK 1975: 575)

Von Graffitis in Deutschland, die in eine Szene eingebunden sind, ist in diesen Publikationen allerdings noch nichts zu lesen. Auch WELZ bezieht sich 1984 in ihrem Aufsatz „Die wilden Bilder von New York City“ noch ausschließlich auf ihre Beobachtungen während eines Auslandaufenthaltes in den USA.6

Erste Publikationen, in denen über die Anfänge des Szenegraffitis in Deutschland berichtet wird, entstehen Ende der 80er-Jahre. Hier ist beispielsweise auf die Werke des Kunsthistorikers STAHL (1989, 1990, 2012) zu verweisen, der beschreibt, wie sich in vielen europäischen Städten „Jugendliche mit den Helden des New Yorker Untergrunds identifizier[en]“ und deren Praktiken, Ausdrucksformen und deren Vokabular übernehmen (1989: 90). Ab Mitte der 80er-Jahre – und damit mit Herausbildung der deutschen Szene – geraten auch zunehmend die Akteure mit ihren sozialen Kontexten in den Blick der deutschsprachigen Graffitiforschung. Es entstehen überblicksartige Werke, die Einblicke in Vokabular, Tätigkeiten und Hierarchien der Szene geben. Zu nennen sind hier „Das Graffiti-Lexikon“ des Ethnologen KREUZER (1986) und das „Graffiti Lexikon“ des Sozialpädagogen VAN TREECK (1993).7

In diesem Zeitraum entstehen auch Werke aus der Szene heraus, d.h., Writer beschreiben die Szene in eigenen Publikationen, in denen sie ihre Erfahrungen schildern und privates Bildmaterial präsentieren. In diesem Zusammenhang sind etwa KARL (1986) und die seit 1994 beim Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienene Buchreihe „Graffiti-Art“8 zu nennen. Die Autobiographie des Berliner Writers ODEM ([1997], 2008) zeugt ebenfalls von dem Interesse, die Graffitiszene möglichst authentisch, d.h. durch Mitglieder der Szene, zu beschreiben.

Zudem erscheinen verschiedene soziologische und sozialpädagogische Studien mit zum Teil sehr spezifischen Fragestellungen, in denen die Einstellungen der Akteure zu unterschiedlichen Themen untersucht werden (zur deutschen Szene vgl. z.B. SCHMITT UND IRION 2001, SACKMANN ET AL. (Hg.) 2009, zur amerikanischen Szene MACDONALD 2001, RAHN 2002, SNYDER 2009). Die Ergebnisse dieser Studien basieren typischerweise auf qualitativen Interviews.

In den 90er-Jahren lässt sich eine zunehmende kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Graffiti beobachten. Im gleichen Zeitraum bildet sich auch die Street-Art aus der Graffitiszene heraus, deren Akteure stärker bildorientiert arbeiten und mit Papierschnitten, Stencils (mittels Schablonen gefertigte Werke) und Figuren auch neue, eigene Formen hervorbringen. Im Verlauf dieser Entwicklung werden Graffitis verstärkt in kunstwissenschaftlichen Abhandlungen berücksichtigt und dabei häufig zusammen mit Street-Art-Werken in den Blick genommen (vgl. dazu GOTTLIEB 2008, WACŁAWEK [2011], 2012, REINECKE 2012).

Auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen findet eine Beschäftigung mit dem Phänomen Graffiti statt, z.B. im Bereich der Medienwissenschaft (vgl. dazu DITTMAR 2009), der Psychologie (vgl. dazu RHEINBERG UND MANIG 2003), der Rechts- und Kriminalwissenschaft (vgl. dazu BEHFOROUZI 2006, JEREMIAS 2010) und der Politikwissenschaft (vgl. dazu KLEE (Hg.) 2010). Die Perspektiven auf Graffiti unterscheiden sich dabei stark; im Bereich der Rechts-, Kriminal- und Politikwissenschaft wird Graffitiwriting beispielsweise primär als delinquentes Verhalten perspektiviert.

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