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2. Graffiti

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Die Bezeichnung Graffiti wird im alltäglichen und auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch für die Bezugnahme auf ganz verschiedene Erscheinungsformen verwendet. Als Graffitis werden nicht nur die bunten Inschriften im urbanen Raum bezeichnet, sondern beispielsweise auch Äußerungen an den Wänden von Toilettenkabinen (FISCHER 2009) und Gefängnissen (HESSE 1979) sowie informelle Schüleräußerungen (BLUME 1980, 1981) und politische Parolen an Hauswänden (STAHL 1989: 22ff.). Gemeinsam haben alle diese Formen, dass es sich um Schrift handelt und dass diese unautorisiert im (mehr oder weniger) öffentlichen Raum angebracht wird. Darüber hinaus sind die Formen ortsfest (TOPHINKE 2017: 168), d.h., sie verbleiben am Ort ihrer Entstehung und können nicht – wie beispielsweise eine Notiz auf einem Blatt Papier – von diesem Ort entfernt werden.1

Im öffentlichen Raum sind Graffitis von einer Fülle an weiteren schriftlichen Formen umgeben, z.B. von Verkehrsschildern, Werbeplakaten, Ladenschildern etc., die ebenfalls in ihrer Materialität mit dem Untergrund verbunden sind. Nach AUER besteht eine wesentliche Eigenschaft der Kommunikation durch öffentliche, ortsgebundene Schriftlichkeit darin, „Räume les- und damit nutzbar [zu machen], die nicht durch das routinemäßige Zusammenleben Ortskundiger gekennzeichnet sind“ (2010: 274). Straßenschilder und Ladenschilder erleichtern beispielsweise die Orientierung im Raum; Verbotsschilder kommunizieren das Unterlassen bestimmter Handlungen. Die öffentliche Schrift zeigt den Rezipienten also Handlungsoptionen im öffentlichen Raum auf (AUER 2010: 275). Darüber hinaus macht sie es möglich, dass ein Zeichenproduzent etwas an einen größeren Rezipientenkreis kommunizieren kann, ohne dass dabei Produzent und Rezipient von Angesicht zu Angesicht aufeinandertreffen; sie „ersetzt damit Formen der face-to-face-Kommunikation“ (AUER 2010: 275, Hervorh. i.O.).

Graffitis unterscheiden sich von diesen anderen Formen ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit in vielerlei Hinsicht. Sie dienen – anders als Straßenschilder, Häusernamen etc. – nicht dazu, den öffentlichen Raum für Rezipienten besser interpretierbar und nutzbar zu machen, und ersetzen auch nicht Formen der face-to-face-Kommunikation. Für Graffitis ist es im Gegenteil sogar wichtig, dass der Schreiber anonym bleibt, Produzent und Rezipient also nicht aufeinandertreffen.

Das Szenegraffiti, das in dieser Arbeit in den Blick genommen wird, unterscheidet sich von anderen schriftlichen Formen im öffentlichen Raum auch durch die Bindung an eine soziale Gruppe – die Graffitiszene. Es ist sozial fundiert, weil es eine Gruppe gibt, die Graffitiwriting als „Praktik“ (TOPHINKE 2016) erkennt und diese auch selbst ausübt. Praktiken können „als Typiken des körperlichen Tuns […], die Wiederholung, Wiedererkennen und auch Erlernbarkeit ermöglichen“ gefasst werden (TOPHINKE 2016: 406). Sie bilden sich in der Regel dann heraus, wenn „das Wiederholen bzw. Wiederauftreten des betreffenden körperlichen Tuns in dem jeweiligen sozialen Bezugsrahmen Relevanz besitzt“ (TOPHINKE 2016: 407). Graffitiwriting stellt demzufolge eine soziale Praktik dar, weil es für die Szenemitglieder Relevanz besitzt, indem sie die Formen dieser Art erkennen und deuten können.

An diesen Überlegungen zeigt sich bereits, dass zwischen einem engen und einem weiten Graffitibegriff zu unterscheiden ist. Das Szenegraffiti ist dabei als eigener Typ ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit zu perspektivieren, den es von anderen Formen, die gemeinhin als Graffiti bezeichnet werden, abzugrenzen gilt. Bei einem engen Begriffsverständnis werden dementsprechend nur diejenigen Formen erfasst, die sich erkennbar an den stilistischen Traditionen und sozial-kommunikativen Praktiken der Szene orientieren (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 88). Weitere Formen unautorisierter Schriftlichkeit im öffentlichen Raum, z.B. Sprüche an Toilettentüren oder Einritzungen in Bänke, werden dabei ausgeklammert. Um sich von diesen anderen Formen abzugrenzen, spricht die Szene selbst statt von Graffiti eher von Writing (TEMESCHINKO 2015: 10).2 Eine genaue Grenzziehung zwischen dem Szenegraffiti und Formen von Graffiti im weiteren Sinn ist jedoch schwierig und kann immer nur vage bleiben, wie auch PAPENBROCK UND TOPHINKE erklären:

Neben Formen, die sich eindeutig als Szene-Graffitis fassen lassen, finden sich Formen, die etwa in der formal-ästhetischen Ausführung, in ihrer Semantik oder in ihrer Platzierung untypisch sind. Diskussionen und Darstellungen in szenenahen Printmedien oder im Internet zeigen, dass auch die Graffiti-Szene selbst fortlaufend diskursiv klären muss, was als Graffiti gelten kann. (2016: 88f.)

Der Übergang zu weiteren Formen öffentlicher, unautorisierter Schriftlichkeit ist dementsprechend fließend. In diesem Kapitel soll es daher darum gehen, das Szenegraffiti mit seinen besonderen Eigenschaften zu beschreiben und so den Blick für diese Formen zu schärfen, bevor der Fokus der Betrachtung in den nächsten Kapiteln auf die Namen im Szenegraffiti gesetzt wird.

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